Who is afraid of jazz?

Ganz früher hatten manche Leute noch Angst vor dem Jazz. Er war ihnen zu wild, zu aufmüpfig, zu frenetisch, zu sittenlos. Später dann zu sperrig, zu hektisch, zu kompliziert, zu frei, zu chaotisch, zu laut. Heute muss niemand mehr Angst haben. Die meisten Jazz-Neuheiten, die als CDs in meinem Briefkasten landen, tönen so ruhig, langsam und melancholisch, als wäre gerade jemand in der Familie gestorben. Man hört sanfte Akkorde, einen schläfrigen Bass, ein verhuschtes Schlagzeug, vielleicht ein gehauchtes Saxophon. Die Welt ist irgendwie ganz furchtbar ernst und total am Wegdämmern. Natürlich verstehe ich, dass die jungen Musiker heute den Jazz nicht mehr so spielen wollen, wie er früher klang. Man kann nicht einfach wild loshotten wie in den Zwanzigern oder smart swingen wie in den Dreißigern. Man kann nicht anfangen, sperrig zu boppen wie in den Vierzigern oder bluesig zu grooven wie in den Fünfzigern. Man kann nicht zurückgehen und wieder frei loslegen wie in den Sechzigern oder elektrisch ausholen wie in den Siebzigern. Die Zeiten sind vorbei, die Zeiten sind andere. Nur: Wer sagt, dass man deshalb ohne Feuer spielen muss, frei von Energie, …

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Bund der Kurzsichtigen

Wer Steuern zahlt, will, dass sein Geld nicht irgendwie zum Fenster hinausgeschmissen wird. Ein sogenannter Bund der Steuerzahler listet daher in seinem jährlichen Schwarzbuch auf, wo er zu glauben meint, dass das Geld wie ein Heizpilz auf den Malediven keinen Sinn ergibt: eben unsinnig ist. In diesem Jahr haben diese Schwarzbuchschreiber plötzlich den Spielstättenpreis der Initiative Musik, bezahlt aus dem ohnehin mickrigen Kulturhaushalt des Bundes, im Visier. Kurzform des Arguments: Wer sowieso schon aus der öffentlichen Hand gefördert werde, müsse nicht ein zweites Mal subventioniert werden. Dafür seien zwingend Sponsoren zu gewinnen. Gewiss: Die Kosten der Veranstaltung zur Verleihung des Spielstättenpreises in Höhe von 68.000 Euro sind vermülltes Steuergewissen, da hätte die eine oder andere Spielstätte wirklich mehr davon gehabt. Hier tanzt also der Papiertiger auf den Tischen der Kultur. Kultur und Kunst werden allenthalben zum „Mittel“ degradiert, wo sie doch Zweck sein sollten/müssten. Da denkt der Bund der Steuerzahler in seiner Ärmelschonermentalität zu schwarz/weiß statt mit Herz und Verstand und trotz Status als eingetragener Verein als nicht besonders gemeinnützig. Sponsoren statt Steuern. Konsequent zu Ende gedacht hieße das: Lassen wir doch einfach unseren ganzen …

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Improvisation über Improvisation #14

Neulich entdeckte ich beim Üben das Stück „Yardbird Suite“ von Charlie Parker wieder. Es hatte mir schon immer gut gefallen, aber nun beschloss ich, mich noch etwas eingehender darüber zu informieren. Die berühmte Septett-Einspielung von 1946 für Dial Records, die kürzlich in die Grammy Hall of Fame aufgenommen wurde, beginnt mit einem kurzen Piano-Intro, das an die Einleitung des wenige Jahre zuvor entstandenen „Take the A-Train“ erinnert. Auffällig ist der fröhliche, warmherzige Swing, der ab der ersten Note präsent ist und das ganze Stück unvermindert vorantreibt. Die A-Teile des Themas werden von allen drei Bläsern unisono gespielt, den B-Teil übernimmt Parker – mit gerade einmal 25 Jahren der Älteste der Band – alleine. Er spielt anschließend auch das erste Solo, ein Musterbeispiel melodischer Eleganz* mit virtuos umspielten, dennoch stets sanglichen Phrasen und klug gewählten Pausen. Da der Platz auf einer Plattenseite 1946 noch arg begrenzt war, bleibt es leider bei einem einzigen Chorus. Stattdessen übernimmt nun ein junger Trompeter, der für sein Alter (19) bereits sehr „weise“ spielt – abgeklärt, lyrisch, ohne unnötige Schnörkel. Sein Name: Miles Davis. Es folgt ein interessanter Kniff im Arrangement: …

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Improvisation über Improvisation #13

In den bisherigen Folgen dieser Blogreihe habe ich viel über Improvisation im musikalischen Kontext geschrieben. Höchste Zeit, auch einmal in andere Bereiche zu schauen. Google, hilfreich wie immer, lieferte mir den Vorschlag „Improvisation Wirtschaft“. Das führte mich unter anderem zu folgenden Definitionen: „Vorübergehende Regelung einer begrenzten Anzahl von Teilhandlungen im Rahmen der arbeitsteiligen Aufgabenerfüllung der Unternehmung.“ – (1) Improvisation als gemeinsame Unternehmung. Das gefällt mir gut. „Es handelt sich um ad-hoc-Regelungen, die intuitiv (gefühlsgesteuert) oder heuristisch (erfahrungsbedingt) getroffen werden. Sie haben meist nur vorläufigen Charakter, da auf die sorgfältige Analyse der ihnen zugrunde liegenden Entscheidungssituationen verzichtet wird.“ – (2) Das trifft im musikalischen Bereich zumindest auf den Moment ihrer Entstehung zu; eine sorgfältige Analyse geschieht vor und gegebenenfalls nach der jeweiligen Situation. Leider geht der Text dann folgendermaßen weiter: „Improvisation ist ein Zeichen mangelnder Organisation (Unterorganisation). (…) Mit der Improvisation verbindet man häufig die Vorstellung einer nicht gründlich durchdachten Lösung; (…).“ – (2) Gut, dass das folgende Zitat ein wenig Ego-Balsam bereithält: „Improvisation verlangt sehr viel berufliche Erfahrung und ein hohes Maß an Kenntnissen. Sie ist deshalb dem höheren Management vorbehalten.“ – (3) Die sich …

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Improvisation über Improvisation #12

Es gibt so Tage, da liegt das leere weiße Blatt Papier vor einem und es fällt einem partout nichts ein, womit man es füllen könnte. Für diese Tage – und so einer ist blöderweise heute, für mich – helfen verschiedene Strategien. Eine davon ist das continuous writing. Bei dieser Aufgabe zwingt man sich, einfach immer weiter zu schreiben, um so mit der Zeit und während des Schreibprozesses darauf zu kommen, was man denn eigentlich schreiben könnte. Oft legt man eine zeitliche Grenze fest, um sich einen irgendwie gearteten Rahmen zu stecken. In meinem Fall gebe ich mir jetzt anderthalb Stunden Zeit, was wiederum mit der Höhe des Honorars zusammenhängt, das ich für diesen Blog bekomme. Man darf also nicht aufhören zu schreiben, selbst wenn einem gerade wirklich nichts einfällt. Wirklich nichts einfällt. Wirklich nichts einfällt. Erst wenn man den nächsten Gedanken hat, kommt man weiter voran mit seinem Text. Wobei dieses Repetitive ja durchaus eine eigene Stärke entwickeln kann. Die minimal music von Steve Reich zum Beispiel schöpft einen Großteil ihrer Kraft aus der Wiederholung und minimalen Abwandlung kleiner Motive über einen längeren Zeitraum. Allerdings …

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Improvisation über Improvisation #11

In ihrer Fähigkeit, Situationen in Sekundenbruchteilen zu erfassen, ihre Aktionen und Reaktionen entsprechend anzupassen und auch unter Druck richtige Entscheidungen für das Gelingen einer gemeinsamen Aufgabe treffen zu können, sind professionelle Jazzmusiker professionellen Fußballern nicht unähnlich. Es gilt als erwiesen, dass auch die körperliche Leistung von konzertierenden Profi-Musikern mit jener von Spitzensportlern verglichen werden kann. Beide arbeiten, so dämlich das klingt, in der entertainment industry und verschönern Menschen ihre Freizeit. Dennoch verdienen Profi-Jazzmusiker oft nicht im Jahr, was Fußballprofis in der Woche, an einem einzigen Tag oder gar in ein paar Stunden verdienen. Dass dem so ist, liegt an dem gewaltigen Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung und Wertschätzung. Man stelle sich einmal vor, Jazzmusiker hätten den Arbeitsalltag von Fußballprofis. Fünf Tage pro Woche jeweils zwei Proben, plus ein bis zwei Konzerte unter der Woche und am Wochenende. Dazu individuelles Krafttraining („Üben“), Sponsorentermine und, wenn man es zum Jazz-Nationalspieler gebracht hat, einige internationale Auftritte mit teils sehr weiter Anreise. Verschiedene Wettbewerbe versprechen bei erfolgreicher Teilnahme Ruhm, mehr oder weniger üppige Preisgelder und eine stärkere Ausgangsposition für die nächsten Gagenverhandlungen. Klingt gar nicht so unähnlich? Stimmt. Ein …

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Improvisation über Improvisation #10

Jazz ist eine stilvolle Zelebrierung des musikalischen Moments. Am liebsten in Gesellschaft. Um den Moment zu feiern, bedarf es theoretisch nicht viel. Über je mehr Wissen man verfügt, und je direkter man dieses Wissen im Moment abrufen und auf sein Instrument übertragen kann, desto mehr hat man – wiederum theoretisch – in diesem Moment zu sagen. Was man davon dann tatsächlich sagt, ob man überhaupt etwas sagt, hängt von den eigenen Entscheidungen ab. Ist man abwartend oder impulsiv, kontrolliert oder ausgelassen, wortkarg oder redselig, sicher oder unsicher? Möchte man bestimmen oder mitmachen, zustimmen oder widersprechen… ? Und vor allem – ist man an jedem Tag gleich? Stehen nicht jeden Tag wieder andere Charaktereigenschaften im Vordergrund, abhängig davon, wie man sich gerade fühlt, was man erlebt hat, was man sich wünscht? Doch halt – ich sprach eingangs davon, Wissen abrufen zu können. Das klingt nach bewussten Entscheidungen. Der amerikanische Autor Malcolm Gladwell veranschaulicht in seinem Buch „Blink“ eindrucksvoll, wie viel schneller und effektiver wir Entscheidungen treffen, wenn wir unseren Instinkten vertrauen und uns auf unser Un(ter)bewusstsein verlassen. Auf unsere Instinkte können wir uns jedoch dann am …

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Improvisation über Improvisation #9

Meine erstes Jazzalbum war „Portrait in Jazz“ des Pianisten Bill Evans. Vom Cover blickte mir ein adrett gekleideter Endzwanziger entgegen, mit Seitenscheitel, Intellektuellenbrille und traurigem Gesichtsausdruck. Das Album war fortan Dauergast in meinem CD-Spieler, und auch wenn mich die gesamte Aufnahme auf vielfältige Art faszinierte, so stach doch ein Stück besonders heraus: „When I Fall In Love“. Diese Klangfarben! Dieser Sound! Diese sensible Eleganz, die feine Melancholie in der Ausgestaltung von Melodie und Improvisation! Das Stück sprach direkt zu mir und war mit ein Grund für meine Entscheidung, Jazzklavier zu studieren. In den 17 Jahren, die zwischen meinem ersten Höreindruck und heute liegen, habe ich unzählige Tage Jazzmusik gehört und ganz unterschiedliche Phasen der Begeisterung für bestimmte Stile oder Musiker durchlebt. Viele davon kamen und gingen, aber diese Aufnahme beeindruckt mich noch immer. Sie bleibt stets frisch für mich; mit jedem Mal Hören finde ich einen neuen Anknüpfungspunkt, warum sie mir so gut gefällt. War ich damals sehr fixiert auf den Pianisten, genieße ich heute vor allem die Leistung seiner beiden Triokollegen (Bassist Scott LaFaro und Schlagzeuger Paul Motian): LaFaro spielt im Thema nichts außer …

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Improvisation über Improvisation #8

Jerome Kerns „All the things you are“ ist ein Musikstück, das einem im Jazzkontext häufig begegnet – ein sogenannter Standard. Wie so viele Stücke aus dem Great American Songbook wurde es ursprünglich für ein Broadway-Musical („Very warm for May“, 1939) geschrieben. Das Musical war schnell vergessen, der Song aber erwies sich als Hit: die „Coverversionen“ von Tommy Dorsey (1939) und Frank Sinatra (1945) schafften es beide auf Platz eins der Hitparade (… wie ich dieses Wort liebe!). Die frühen Vokalversionen – wie jene von Helen Forrest (1939), Jo Stafford (1946) oder Tony Martin (1946) – untermalten mit opulenter Orchestrierung Oscar Hammersteins hochromantischen Text und verdeutlichten die Tanzmusikfunktion des Jazz in der Ära der Swing-Big-Bands. Recht schnell fand das Stück aber auch in Bebop-Kreisen Anklang, wo es als reine Instrumentalmusik für kleinere Besetzung abstrahiert wurde. Dizzy Gillespie stellte „All the things“ 1945 erstmals ein Intro voran, das auf den ersten Blick wenig mit dem eigentlichen Stück zu tun hat und eine neue, geheimnisvollere Komponente hinzufügt. Dieses Intro tauchte bereits wenig später – etwa bei Red Rodney (1946) und Charlie Parker (1947) – so selbstverständlich integriert auf, …

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Nolens volens politisch – auch Jazz & Co

In meinem letzten Eintrag habe ich ein paar Variationen über die Käuflichkeit der Jazzkritik publiziert. Die Angelegenheit hat weite Kreise gezogen. Unter anderem wurde nachgefragt, was denn das alles mit der Einladung zu einem Jazzfestival auf die Krim zu tun haben soll. Was denn diese tagespolitische Anspielung soll. Darauf will ich kurz eingehen ohne den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine selbst bewerten zu müssen. Aus der Ferne und der Nachrichtenlage heraus scheint das unmöglich. Nun: Kultur spielt auch in diesem Konflikt eine immer größere Rolle. So sind die Nachrichten, dass russische Beiträge (auch musikalischer Art) teilweise in der Ukraine ganz offen zensiert werden keine Neuigkeit. Wie es anders herum ist, ist mir leider nicht bekannt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass dies auch von der Gegenseite praktiziert wird, verwunderlich wäre es nicht. Eine Einladung zu einem Jazzfest auf der Krim, deren Zugehörigkeit strittig ist zwischen der Ukraine und Russland, ist natürlich ein Versuch, Fakten herzustellen. Das betrifft aber nicht nur Jazzkritiker, die dorthin eingeladen werden sollen, sondern auch Musiker, die dort spielen. In der Meldung wurde als deutsche Combo der Auftritt des „Club des …

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