Who is afraid of jazz?

Ganz früher hatten manche Leute noch Angst vor dem Jazz. Er war ihnen zu wild, zu aufmüpfig, zu frenetisch, zu sittenlos. Später dann zu sperrig, zu hektisch, zu kompliziert, zu frei, zu chaotisch, zu laut. Heute muss niemand mehr Angst haben. Die meisten Jazz-Neuheiten, die als CDs in meinem Briefkasten landen, tönen so ruhig, langsam und melancholisch, als wäre gerade jemand in der Familie gestorben. Man hört sanfte Akkorde, einen schläfrigen Bass, ein verhuschtes Schlagzeug, vielleicht ein gehauchtes Saxophon. Die Welt ist irgendwie ganz furchtbar ernst und total am Wegdämmern. Natürlich verstehe ich, dass die jungen Musiker heute den Jazz nicht mehr so spielen wollen, wie er früher klang. Man kann nicht einfach wild loshotten wie in den Zwanzigern oder smart swingen wie in den Dreißigern. Man kann nicht anfangen, sperrig zu boppen wie in den Vierzigern oder bluesig zu grooven wie in den Fünfzigern. Man kann nicht zurückgehen und wieder frei loslegen wie in den Sechzigern oder elektrisch ausholen wie in den Siebzigern. Die Zeiten sind vorbei, die Zeiten sind andere. Nur: Wer sagt, dass man deshalb ohne Feuer spielen muss, frei von Energie, …

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Abenteuerlust

Mein neues PolyParaphone kann praktisch alles. Seine Auto-Key-Funktion öffnet morgens das Garagentor, mit dem Syntraffic-Programm lotst es meinen Wagen durch den Berufsverkehr, es checkt mich mit einem simplen Iso-Funksignal am Arbeitsplatz ein, fährt über die HyperApp meinen Computer hoch, sortiert dann per AutoComTel die eingegangenen Mails, bestellt schon mal über Holofood mein Mittagsmenü und kommuniziert dank der Office-Epifunktion übers Intranet mit dem CEO. Mein PolyParaphone enthält meine komplette funktionale Persönlichkeit. Vielleicht schicke ich es ab morgen einfach ohne mich ins Büro. Dann erspare ich mir die öden Briefings, die ungeliebten Team-Sitzungen, die nervigen Video-Konferenzen, den überflüssigen Wochenreport. Und vor allem natürlich: die peinliche Weihnachtsfeier. Stattdessen könnte ich einfach zu Hause bleiben und die ausgehungerten Synapsen meines hoch entwickelten Großhirns endlich mit angemessen komplexen Dingen beschäftigen. Ich könnte dank Greg Osbys Saxophon die wilden Abgründe harmonischer Zukunftsarchitektur erforschen, mit Christopher Dells Trio in verwirrende polyrhythmische Experimente eintauchen, in Michael Wollnys Wunderkammer die prickelnde Kollision von Klangfeldern verfolgen, mit Frederik Kösters Trompete virtuos zwischen changierenden Messiaen-Skalen herumturnen. Abenteuer! Verwicklung! Emotion! Mein neues PolyParaphone kann ja praktisch alles. Nur der EmoPower-Button, der fehlt halt noch.

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Die Frankfurter Geistmesse

Bei der Heiligen Messe soll ja gelegentlich der Heilige Geist vorbeischauen. Aber nun wurde auch auf der Frankfurter Buchmesse der „Geist“ gesichtet. Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, forderte bei der diesjährigen Messeeröffnung den Erhalt der Buchpreisbindung, weil anderenfalls „die Macht des Geldes über den Geist“ siege. Erstaunlich ist an dieser Formulierung, dass das Medium Buch einfach so mit Geist identifiziert wird, als wäre jeder Buchtitel mindestens Shakespeare oder Kant und das Wort „Geld“ in der Buchbranche unbekannt. Tatsächlich macht der Buchhandel mehr als 30 Prozent seines Umsatzes mit wahnsinnig seriösen „Ratgebern“, weitere 15 Prozent mit enorm geistvollen Kochbüchern. Nur etwa 20 Prozent der Neuheiten fallen ins Gebiet der eigentlichen Literatur, und auch davon noch machen Comics, Geschenkbücher, Thriller und Fantasy-Titel die Hälfte aus. Die rohstoffvernichtende Rundum-Betextungsbranche Belletristik wird derzeit dominiert von solchen Geistesriesen wie Adler-Olsen, Follett, James, Meyer, Paolini, Roche, Rowling. Ich denke, wir sind uns da einig: Diese unglaubliche Ansammlung von Geist rechtfertigt für Bücher jegliche Preisbindung – wie auch bei Tabakwaren, Arzneimitteln und anderen Drogen – sowie natürlich den ermäßigten Mehrwertsteuersatz, wie er auch für lebende Hausschweine und Milchmischgetränke gilt. …

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Jazz Day

Fast hätte ich es gar nicht mitgekriegt: Es gibt jetzt einen Welttag des Jazz! Die UNESCO und Herbie Hancock haben den 30. April zum „International Jazz Day“ erklärt. Natürlich erschrickt man da erst mal: Ist es schon so schlimm? Solche Tage werden in der Regel ja erst ausgerufen, wenn etwas akut vom Verschwinden bedroht ist: der Wald und das Wasser, das Urheberrecht und das geistige Eigentum, die Feuchtgebiete und das deutsche Butterbrot. Ist es auch für den Jazz schon fünf vor zwölf? Oder ist es womöglich gar schon zu spät? Handelt es sich beim „Jazz Day“ etwa um einen Tag des Gedenkens an Vergangenes wie beim Columbus Day, dem D-Day oder dem 17. Juni? Schließlich redet man in Amerika gerne vom „Jazz Age“ und meint damit etwas, das lange vor dem Zweiten Weltkrieg über die Bühne ging. Doch beruhigenderweise spricht die UNESCO vom Jazz immer noch im Präsens: Er breche Grenzen nieder, heißt es, er sei ein „Vektor“ (?) der freien Meinungsäußerung. Deshalb wahrscheinlich wurde der 30. April als Datum gewählt: die pure Grenzniederreißung, die radikale Meinungsfreiheit, der große Hexensabbat, die Walpurgisnacht, der Vektor des …

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Downloaden ist cool

Wer wäre nicht gern Musiker? Ein Instrument spielen, auf dem Bandstand stehen, eigene Stücke präsentieren, Studio-Aufnahmen machen, eigene CDs verkaufen, Interviews geben… Nur leider fehlt den meisten von uns das Talent, um als Musiker erfolgreich zu sein. Denn andere sind besser. Selbst wenn wir Geld hätten, um uns eine gute Band zusammenzukaufen und ein tolles Studio zu mieten: Die anderen sind immer noch besser. Aber jetzt kommt Bewegung in die Sache. Jetzt kommt die große Chance für alle Betuchten, Millionäre und Promis. Jetzt könnt ihr endlich Vollzeit-Musiker werden! Denn die, die es besser können als ihr, können ab sofort von ihrer Musik nicht mehr leben. Dank Internet-Tauschbörsen, Gratis-Downloads, Peer-to-peer-Netzwerken, Pirate Bay, Torrent-Dateien und all dem. Die guten Musiker suchen jetzt richtige Jobs im Call Center oder beim Kulturreferat – und dann ist der Weg frei für euch! August-Wilhelm Scheer wird Deutschlands Vorzeige-Saxophonist, Kyle Eastwood führt bald die internationalen Bassisten-Polls an und Gitarrist Stefan Raab ersetzt im Handstreich Metheny, Scofield und Frisell. Und alle sind sich einig: Musiker sein ist geil. Downgeloadet werden ist cool. Wenn man reich ist.

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Unverblümt eskalierende Koloraturen

Vor nicht zu langer Zeit gab es in jeder deutschen Kleinstadt einen des Schreibens kundigen Jazzfan – im Zivilberuf Oberstudienrat oder Rathausbeamter –, der fürs Lokalblatt die örtlichen Jazzkonzerte besuchte. Dieser gute Mann kannte sich aus: Er wusste, dass Stan Getz kein Sänger war und Billie Holiday kein Kerl. Er konnte sogar ein Sopransaxophon von einer Klarinette unterscheiden. Doch dieser historische Typus des lokaljournalistischen, kleinstädtischen, verbeamteten Jazzfans ist akut vom Aussterben bedroht. Heute schicken die Lokalblätter zu Jazzkonzerten meist die hübsche Redaktionspraktikantin – jung, charmant, ehrgeizig und voller Fantasie! Wie öde erscheint uns nun plötzlich der jazzelnde Oberstudienrat von einst! Die Jazzkonzert-Berichterstattung erlebt derzeit einen Quantensprung. Beispiel: das Johannes Enders Trio im Oktober 2011 im oberbayerischen Städtchen W. Laut Konzertkritikerin Nr. 1 handelte es sich da um „coolen Jazz“, sogar um „Cooljazz“, gleichzeitig aber auch um „die härtere Version des klassischen Bebops“ sowie um eine „superschnelle Mischung aus Hardbop, Soul und Blues“. Auch Konzertkritikerin Nr. 2 hörte sowohl „schwerelosen Cooljazz“ als auch „Cooljazz mit erdigen Grooves“, zudem aber eine „Mixtur aus klassischem Hardbop und NuJazz“. Zu derartig feinnervig-dialektisch differenziertem Stilempfinden waren die hausbackenen Jazzbeamten von …

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Verrelevanzt

Verliert Jazz an Relevanz, wenn der Pianist Jens Thomas die Rockband AC/DC covert? Und gewinnt Jazz plötzlich seine Relevanz zurück, wenn die Feuilletons über ihn schreiben? Verliert Jazz an Relevanz, wenn sein Publikum altert? Und gewinnt er an Relevanz, wenn die Werbehauptzielgruppe mit einem Mal Melody Gardot entdeckt? Besitzt denn diese Frage nach der Relevanz des Jazz überhaupt irgendeine Relevanz? Und wenn ja: Kann sie die auch wieder verlieren wie der Jazz die seine? Oder zurückgewinnen? Wie relevant sind im Vergleich zum Jazz – sagen wir mal – fröhliche Bastelarbeiten? Bastelarbeiten finden jahrein, jahraus statt, hunderttausendfach, in deutschen Kindergärten, Adventsvorbereitungszirkeln, Handarbeitskursen, Justizvollzugsanstalten, die kommen nie aus der Mode. Gewinnen Bastelarbeiten aber an Relevanz, wenn die Feuilletons beginnen sollten, über sie zu diskutieren? Verlieren sie an Relevanz, falls plötzlich statt Adventsschmuck Papierfaltfrösche zum Bastel-Renner werden? Ist Relevanz eine Art Betriebsbilanz? Eine Wahrhaftigkeitsinstanz? Ein schöner Silberglanz? Ein neuer Modetanz? Hat Redundanz Signifikanz?

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Der Barpianist

Am 27. Dezember 2011 zitierte Karl Lippegaus in der Süddeutschen Zeitung einen angeblichen (und anonymen) Besucher des Jazzfests Berlin. Der soll Folgendes gesagt haben: „Dass ein eher barpianistisch ausgerichteter Finne einen Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen kann, ist nicht mehr nachvollziehbar.“ Der zitierte Jazzfest-Besucher wertete diese Preisentscheidung als Hinweis darauf, dass es im Jazz keinen „Point of Reference“ mehr gebe. In der Tat wackeln in der Jazzwelt die Maßstäbe und Orientierungen. Bestes Beispiel dafür ist, dass ein informierter Jazzfest-Besucher – womöglich ein Jazzkenner – offenbar nicht mehr den Unterschied zwischen Iiro Rantala und einem Barpianisten zu erkennen vermag und dass ein Karl Lippegaus – bekanntlich ein Jazzkenner – das anonyme Zitat in einer großen Tageszeitung verbreitet, ohne ihm zu widersprechen. Iiro Rantala, der fast 20 Jahre lang das finnische Trio Töykeät leitete, ist dem Klavierkritikergeraune vom tiefgründigen Harmonisieren, bedeutenden Balladieren, ekstatischen Meditieren und sparsamen Melancholisieren nie auf den Leim gegangen. Er liebt es vielmehr, spontan, virtuos, vital, lustvoll, humorvoll und intelligent mit Tönen, Phrasen und Rhythmen zu spielen. Sollte dies ausreichend  sein, um als Bar- oder Bistropianist zu gelten, so befindet er sich jedenfalls in …

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Die Ansage

Liebe Jazzmusiker, wir verstehen euch ja: Jazz macht Mühe. Da hat man endlich einen Gig ergattert, steht auf der Bühne und alles soll klappen. Die Tempi sollen stimmen, die Einsätze, das Saxophonblättchen soll nicht quietschen, die Musik muss nach vorne losgehen. Und ein paar originelle Ideen in der Improvisation wären auch nicht schlecht. Klar, dass man dann zwischen den Stücken nicht auch noch den Bühnenkasper machen kann oder den plaudernden Conférencier. „Danke. Das nächste Stück ist auch von mir“ – das muss reichen. Der Stücktitel fällt einem in der Aufregung sowieso nicht ein und eine Bedeutung hat er ja eh nicht. Vielleicht könnte man rasch etwas über die Entstehung des Stücks erzählen, über die Idee der Komposition, über die Erfahrungen mit diesem Stück? Dafür allerdings hätte man sich vorher ein paar Stichwörter notieren müssen, aber dafür ist halt nie Zeit. Anreise, Hotel, Soundcheck, die Tempi sollen stimmen, die Einsätze, die Musik muss nach vorne losgehen. Und sie wird wohl auch weiterhin ganz allein für sich selbst sprechen müssen.

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Jazz in Berlin (4)

Es ist noch nicht lange her, da strömten Jazzmusiker von überall her, um hinfort in der Hauptstadt zu leben. Umbruch! Aufbruch!! Experiment!!! In geschätzten 200 Clubs konnte man Tag und Nacht performen, mal mit zwei Schlagzeugern, mal mit drei DJs, lauter Überraschungs-Gigs mit Überraschungs-Gästen – und 30 Euro Gage gab’s auch noch! Heute – so habe ich mir im Schwarzen Café in der Kantstraße erzählen lassen – muss man einen Überraschungs-Gig schon ein halbes Jahr vorher anmelden, die Wartelisten für interessierte Musiker sind ellenlang. Gagen gelten in Berliner Clubs schon seit einer Weile als uncool, also spielt man auf Eintritt. Eintrittsgelder gelten aber inzwischen auch als uncool, also lässt man nur noch den Hut rumgehen. Die Tendenz ist klar: Bald ist der Hut uncool und die Musiker müssen dafür bezahlen, dass sie überhaupt spielen dürfen. Die typische Ansage nach der Pause lautet jetzt schon: „Danke, dass ihr noch nicht gegangen seid.“ Dann sind die 15 Zuhörer immer ganz stolz auf sich.

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