Von Möbeln im Ohr und Klängen, auf denen man sitzt

„Visionen“ sind heilbar, wollte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einst selbstgefällig weismachen. Es wäre schade drum. Deutlich wird das auch an Visionen, welche die Berliner Pianistin Fee Stracke auf einem Flughafen in Kanada überkamen. Nach einem Workshop sass sie dort erschöpft rum, als sich plötzlich die Stuhlreihen und Sitze um sie herum zu Rhythmen und einer Melodie formten. Gottseidank rannte Stracke, nach Deutschland  zurückgekehrt, nicht gleich zum Arzt, sondern begann Archive und Bibliotheken nach anderen besonderen Sitzgelegenheiten zu durchforschen. Recht bald stieß sie dabei auf den Ulmer Hocker von Max Bill, den Plastic Side Chair auf Traverse von Charles und  Ray Eames, den ikonischen Freischwinger von Mies van de Rohe, Marc Stam und Marcel Breuer aus den 20er Jahren, Michael Thonets Kaffeehausstuhl und etliche andere Möbel mit Stil und Geschichte. Aus den eher zufälligen musikalischen Visionen wurde eine künstlerische Absicht – und nach Monaten des Forschens, konzeptuellen Tüftelns und Noten Schreibens ein Packen voller Stücke, mit dem Fee Stracke ins Studio gehen konnte. Ein Stipendium des Berliner Senats half dabei und mit Daniel Meyer (g), Berit Jung (b) und Hampus Melin (dr) fand die Visionärin …

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Malias Momente voller Intimität und Intensität

Von Michael Scheiner. Etwas radikal Neues oder eine ganz neue Richtung, die mit einem neuen Album eingeschlagen worden sei, wird gerade im Schlager, Pop und Songwritertum öfter einmal von Musikern angekündigt. Im Ergebnis stellt es sich dann allzuoft eher als Variation, kleine Erweiterung oder Quäntchen mehr des Bisherigen heraus. Auch die britisch-malawische Musikerin Malia schlägt mit ihrem neuen Album „Ripples (Echos of Dreams)“, das sie bei einem Konzert im Leeren Beutel vorstellte, keine völlig neuen Wege ein. Dennoch wirkt ihr bemerkenswerter Auftritt beim Jazzclub Regensburg fast wie eine Neuentdeckung, überraschte mit neuem Sound ebenso wie mit der Interpretation der Songs. Im Grunde ist die Sängerin sogar den umgekehrten Weg gegangen. Sie hat sich nicht auf den Hosenboden gesetzt und neue Songs geschrieben, sondern ältere erneut aufgenommen. Malia interpretiert sich also selbst. Das machen viele, auch große Künstler immer wieder. Malia hat aber nicht nur ein paar ihrer Lieder neu instrumentiert und gesungen, sie hat ein ganzes Album, „Echos of Dreams“ von 2004, noch einmal neu aufgenommen. Ein Remake also! In gewisser Weise ist das ein deutlich radikalerer Ansatz, denn der unmittelbare Vergleich mit sich selbst …

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Musikalischer Gang durch die Jahreszeiten – neue CD von Mic Oechsner

Boschs „Garten der Lüste“ darf man bei Mic Oechsners vielseitigem Werk, dem öffentlichen (Klang-)Garten „Giardino pubblico“, nicht erwarten. In diesem akustischen Garten des gebürtigen Münchners mischen sich vielmehr orchestrale Werke mit kammermusikalischen Episoden, fusionartige Klänge mit Modern-Jazz-Kompositionen und groovigem Quartettsound. Die insgesamt 24 Stücke sind entsprechend ihrer Entstehung in einem Zeitraum von fast einem Jahrzehnt sehr unterschiedlich und von Oechsner in einer Art Jahreszeitenzyklus zusammengestellt worden. Eine üppige Natur jazzt in klanglicher Großzügigkeit durch Frühling und Sommer. Stimmen, Geplänkel. Die Rhythmen verlangsamen sich – Herbst, Winter. Dann wieder Leichtigkeit, Flow, der Zyklus beginnt von Neuem. Wahre Gefühle in kleinen Klangsystemen, eingebettet in stimmige Kreisläufe. Da tanzen Geige und Cello (Clemens Samitzer) in entrückender Berauschtheit, „Clemic Emotions“. In der „Kleinen Hirschmusik“ mischen sich die entspannte Gesprächskulisse eines Frühstückstisches mit angedeuteten Brunftrufen, unbestimmten Keyboardsounds, Geige und Schlagzeug (Joe Resl). In der „Scottish Fantasy“ werden die fusionartigen, trunkenen Melodien von folkigen Sackpfeifensounds und sehnsuchtsvollen Klanglandschaften abgelöst. Neue Horizonte öffnen sich auch mit somnambulen Walzermelodien auf dem Akkordeon, mit dem Oechsner ein heiter-seliges „Salute Italia“ im Mehrspurverfahren als Multiinstrumentalist anstimmt. Thematisch geht das auf zwei Cds publizierte Werk mit …

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„1.000 Kilo Schwein(s)“-Vergnügen mit Nicole Johänntgen

Von Michael Scheiner. Selbst in New Orleans, der Wiege des Jazz, wie die Stadt am Mississippi gern bezeichnet wird, würde Nicole Johänntgen mit ihrem Bandprojekt „Henry II“ die Szene kräftig aufmischen und jedes Publikum zum Tanzen bringen. Damit haperte es beim Auftritt der Saxophonistin und ihren Musikern im Leeren Beutel leider ein wenig. Die gemütliche Sitzordnung mit Tischchen und das zumindest teilweise etwas fortgeschrittene Alter des Auditoriums verlockte nur eine Handvoll begeisterter Zuhörer die Stühle wegzuschieben und Hüften und Beine in schwungvolle Bewegung zu versetzen. Der mitreißende Groove und die ansteckende Fröhlichkeit der Musik waren aber auch zu verlockend. Das mit drei Bläsern und Schlagzeug besetzte Quartett um die 37-jährige Musikerin ist eigentlich ein Zufallsprodukt. Vor zwei Jahren unternahm Johänntgen während eines Stipendiumsaufenthaltes in New York einen Abstecher nach New Orleans. „Um mehr als ein bloßes Mitbringsel mitzunehmen“, erzählte sie nach einer Zugabe dem begeisterten Publikum, „wollte ich mit einigen Musikern ein paar Stücke aufnehmen, die ich im Stil eines modernen New Orleans Jazz komponiert hatte“. Sie fand die Musiker, den Posaunisten Jon Ramm, Tubaspieler Steven Glenn aus Colorado und den Schlagzeuger Paul Thibodeaux, einen echten …

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Eintauchen in ein frühes Emigrantenleben: Musikproduzent Ulrich Balß offenbart mit New-York-Fotobuch das Vermächtnis seines Großvaters

Mit der ausgefransten Metapher „wie Sand am Meer“ könnte man einen Fotoband über die Weltmetropole New York City schnell abhaken und beiseite legen. Dann schreibt der Autor, der Bremer Musikproduzent und Verleger Ulrich Balß, auch noch, dass sich „das Buch maßgeblich von den vielen New-York-Büchern unterscheidet“. Sagt doch jeder, mag man denken, und beraubt sich damit vielleicht einer überraschenden Entdeckung und einer exemplarischen Familiengeschichte, die sich über drei Generationen erstreckt. „New York – Past & Present“ ist zweisprachig gehalten und grenzt damit das Vergleichsangebot schon deutlich ein. Es enthält Aufnahmen von einem historischen New York des Jahres 1928 und aktuelle Bilder. Eine weitere Eingrenzung. Bei den Texten greift es auf Briefe und Aufzeichnungen des Leipziger Buchbinders Theodor Trampler zurück, der 15 Monate in New York lebte, um seine Familie in Deutschland durchzubringen. Und nicht zuletzt liegt dem querformatig gehaltenen Foto-Brief-Tagebuch-Band noch eine Musik-CD bei, die Songs von 1928 bis heute umfasst, interpretiert von New Yorker Musiker/-innen. Zusammen genommen widerlegen alleine die Fakten jeden Anflug von Skepsis einem „alten Wein in neuem Schlauch“ aufzusitzen, um eine weitere Metapher ins Spiel zu bringen. Tatsächlich ist das Fotobuch …

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Erklärung zur Gleichstellung von Frauen im Jazz ruft zur Mitzeichnung auf

Anlässlich ihres 24. Jazzforums, das am 11. und 12. Oktober 2018 im Kulturzentrum Pavillon in Hannover stattfindet,  hat die Union Deutscher Jazz-Musiker/-innen gemeinsam mit zahlreichen Erstunterzeichner/-innen die „Gemeinsame Erklärung zur Gleichstellung von Frauen im Jazz“ veröffentlicht. Wie es in der vierseitigen Erklärung heißt, ist die Jazzszene Deutschlands „nach wie vor maßgeblich von Männern geprägt. Frauen machen laut der Jazzstudie 2016 nur ein Fünftel der Jazzmusiker/-innen in Deutschland aus.“ Obwohl mehr Mädchen als Jungen an Musikschulen Unterricht nehmen, finden weniger Frauen anschließend in Bands und Ensembles; auch bei weiterer Professionalisierung etwa als Dozent/in nimmt der Anteil der Frauen ab. Um diese Umstände zu ändern, fordert die Erklärung für eine Gleichstellung der Frauen im Jazz nicht nur die Sensiblisierung für das Thema, sondern steht im Weiteren für eine geschlechtergerechte Sprache ein. Außerdem verlangt die Darlegung „eine geschlechterbewusste Unterrichtspädagogik in der musikalischen Bildung“ sowie Kopplung öffentlicher Geldmittel an eine angemesse Beteiligung von Frauen. Überdies sollen Frauen bewusst bei der Vergabe von Ämtern und Funktionär/-innentätigkeiten berücksichtig werden, wozu auf Quotenregelungen gedrängt wird. Die von rund 80 Personen und Institutionen unterzeichnete Erklärung soll zum Abschluss des UDJ-Jazzforums am 12. Oktober …

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Eine vitale deutsch-amerikanische Begegnung: Im Regensburger Degginger überzeugte ein New Yorker Trio mit Gitarrist Rüdiger Eisenhauer mit modernem Jazz und Latingroove

Was für ein Treibauf! Oder auch Antreiber, das kommt – wie immer – auf die Perspektive an. Adam Nussbaum, Schlagzeuger im Quartett mit Rüdiger Eisenhauer, Gitarre, Mark Soskin am Flügel und Bassmann Jay Anderson, hatte beim Konzert im Degginger auf jeden Fall die Hosen an. Lustvoll trieb er seine Mitspieler mit harten Schlägen vor sich her, gab Gas und bremste im nächsten Moment wieder ein. Bei dunklen Bluesballaden schien er die Luft anzuhalten, so dass von seinem hingetupften Spiel kaum mehr etwas zu hören war. Dann wieder drehte er auf und eilte auch mal Zehntelsekunden voraus. Daneben riss er Witze, versuchte auch das unschlüssige Publikum zu animieren, aus sich herauszugehen, und vollführte solistisch regelrechte Tänze auf Becken und Fellen. Der 60-Jährige, der eine Stunde außerhalb des Big Apple in ländlicher Umgebung lebt, gehört seit Jahrzehnten zu den bestbeschäftigten Schlagzeugern in New Yorks Jazzszene. Er ist auf vielen Alben des im letzten Jahr verstorbenen Gitarristen John Abercrombie zu hören, spielte mit Sheila Jordan, Steve Swallow, Stan Getz und der Bigband von Carla Bley. Zudem war Nussbaum Mitglied im Quintett von Dave Liebman und unterrichtet heute an …

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Gitarre vom Klassenfeind im Heulmodus – Heiner Reinhardt & Helmut „Joe“ Sachse eröffnen neue Konzertsaison im Jazzclub Regensburg

„Schraubenzieher-Tango für Jaroslav Hasek“ betitelte der Gitarrist Helmut Joe Sachse eine Komposition auf seinem Soloalbum, das er 1988 noch auf dem staatseigenen Amiga-Label vorgelegt hat. Die musikalische Widmung an den Autoren des Soldaten Schwejk und das skurrile Hilfsmittel deuten bereits an, dass dem in Mittweida groß gewordenen Chemnitzer – damals noch Karl-Marx-Stadt – ebenso der anarchistische Schalk im Nacken hockt, wie dem braven Schwejk. So ließ er Jazzclub-Managerin Ulrike Eilers nach einem furiosen Duokonzert mit dem Bassklarinettisten Heiner Reinhardt in der Garderobe lächelnd auflaufen: „Geld? Was, Honorar gibt es hier auch noch?“ Die beiden Musiker stellten das von Sachse erarbeitete und arrangierte Programm „Hey Joe“ mit Kompositionen von Jimi Hendrix zum Auftakt des Herbstprogramms im Leeren Beutel vor. Es ist gewissermaßen eine Verneigung vor dem großen Idol und ein Dank, denn der Sachse verdankt dem Gitarren-Heroen seinen zweiten Vornamen. Als der jugendliche Beatfan 1967 mit einer Amateurband auftrat und niemand seinen Namen wusste, feierten ihn seine Kumpel nach dem Gig als „Joe“. Sachse war dem afroamerikanischen Rockgitarristen kurz zuvor in einer Beatclub-Sendung von Radio Bremen hoffnungslos verfallen. An Virtuosität und Vielseitigkeit hat der 69-Jährige sein …

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Mit „Clubjacken“ und pluckernden Grooves geht das junge hippe Nuejazz-Festival in die sechste Auflage. Schwerpunkt: Der Süden Londons

Vor sechs Jahren haben einige junge und kulturpolitisch engagierte Jazzmusiker das Heft selbst in die Hand genommen und dem darbenden Nürnberg ein neues Festival verpasst. Das Publikum hat dankbar zugegriffen. Seither hat sich das jährliche Nuejazz-Festival zu einem Magnet für neue Entwicklungen und nach vielen Seiten offene Trends im plötzlich gar nicht mehr uncoolen Jazz entwickelt. In diesem Jahr steht vom 9. bis 18. November die hippe Londoner Szene im Mittelpunkt. Erstmals setzt die Crew um Frank Wuppinger damit einen geographischen Schwerpunkt, der sich definitiv lohnt. Auf dem früheren Industriegelände Kulturwerkstatt Auf AEG, im Opernhaus und erstmals auch in Erlangen präsentieren sich an den Schnittstellen von Analogem und Digitalem etliche frische UK-Acts, vorwiegend aus dem kreativ blubbernden Süden der britischen Metropole. Schaut man auf diese neue quirlige Jazzbewegung, fällt meist ein Name: Shabaka Hutchings (Titelbild). Dieser Tenorsaxophonist, der seine Musiker zumeist um Haupteslänge überragt, ist ein Kreativbündel. Mit Sons of Comet kommt er nach Nürnberg. In seinem Quartett sind Afrika und Karibik zu hören, der tänzerische Impuls einer Second-Line aus New Orleans und der zupackende Groove elektronischer Clubmusik. Ebenso aufregend das Duo Blue Lab Beats …

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Mehr Frauen, mehr Europa: Der Jazzclub Regensburg meldet sich mit einem stilistisch vielseitigen und regional geprägten Programm zurück

Weiblich, europäisch, jung. Es sind Merkmale, die wie ein gesellschaftliches oder politisches Statement erscheinen. Tatsächlich vermitteln sie einen ersten Eindruck vom Herbstprogramm des Jazzclub Regensburg. Von den bislang rund 15 Konzerten, die bis Dezember den Leeren Beutel mit cool swingenden und soulig heißen Klängen füllen, wird fast die Hälfte von Musikerinnen geleitet oder mitbestimmt. Mit den großartigen Stimmen von TokTokTok, der Sängerin Tokunbo und Malia (22. November) sind darunter gleich zwei Künstlerinnen, die es geschafft haben, ein eigenes künstlerisches Profil zu entwickeln und damit ein breites Publikum ansprechen. Mit Bassistin Eva Kruse (11. Oktober) und den beiden Saxophonistinnen Nicole Johänntgen (23. Oktober) und Stephanie Lottermoser (29. November) gehören dazu auch ausgezeichnete Instrumentalistinnen. Denn, um niemanden etwas vorzumachen, noch immer sind es vorwiegend Stimmen, Sängerinnen wie Steffie Denk und die Britin Zoe Francis, die das weibliche Bild im Jazz prägen. Der starke europäische Akzent wird durch Themen wie das Tribute-Konzert für Stevie Wonder (27. September) und amerikanische Musiker in mehreren Bands ein wenig relativiert, ist aber dennoch deutlich sichtbar. Den Einstieg ins Herbstprogramm hat der Jazzclub bereits erfolgreich geschafft, kommende Woche setzt er es mit dem …

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