Vis a vis und auf verschlungenen Pfaden: Die Band Hilde im Bielefelder Bunker Ulmenwall

Vergessen wir die Frontalbeschallung: Im ehemaligen Luftschutzbunker unterhalb der verkehrsreichen Bielefelder Stadtmitte bildet eine kleine Bühne das Zentrum, flankiert von jeweils zwei Zuschauerräumen. Raffinierte Perspektiven eröffnen im Bunker Ulmenwall zudem mehrere, über dem Viereck aufgehängte Spiegel. Vis a vis zu spielen ist für jede Band die logische Konsequenz – und das sorgte auch bei „Hilde“, einem experimentierfreudigen, ausschließlich weiblich besetzten Quartett aus NRW für maximale Vertiefung.

Julia Brüssel, Violine, Maria Trautmann, Posaune, Marie Daniels, Stimme und Emily Wittbrodt, Cello, haben sich im Ruhrgebiets-Kollektiv „The Dorf“ kennengelernt, welches im November im Dortmunder domicil sein 15-jähriges Bestehen feierte. Der dort gelebte, freie künstlerische Ansatz strahlt in die eigenen künstlerischen Projekte vieler Protagonisten hinein, wirkte also auch für die Band Hilde wie eine Keimzelle für die eigene Kreativität.

Der Horizont ist weit und die Fantasie reich. Ebenso die Bereitschaft, sich ganz auf den Moment einzulassen. Beim Konzertbeginn in der Bielefelder „Unterwelt“ dominiert eine Art Ur-Chaos aus Klängen, Frequenzverläufen und Geräusch-Gesten. Nichts ist hier geradlinig getaktet oder architektonisch geordnet. Alles wuchert frei, entwickelt sich organisch und dies in unmittelbarer Konfrontation. So verschlungen die Strukturen, so dominiert dabei ein direktes „Instant Composing“ . Dabei geht es aus einer frei wuchernden Individualität direkt in eine gemeinsame Mitte hinein. Frequenzverläufe bekommen Struktur, stationäre Bordun-Töne geben den feinsinnigen Gebilden viel Erdung.

 

Eine verschlungene, dichte musique concrete

Beide Sets, welche „Hilde“ im Bunker Ulmenwall spielt, durchlaufen wechselnde Stadien. Zuweilen ist es eine  verschlungene, dichte „Musique Concrete“, in der vor allem Marie Daniels ihre Stimme in allerhand lautpoetischen Nuancen einsetzt. Maria Trautmanns Posaune bringt kraftvoll artikulierende Rhetorik in die Sache, es entstehen auch rhythmisch strukturierte Gestalten. Derweil der ganze schillernde Klangreichtum gestrichener und gezupfter Saiten aus Emily Wittbrodts Cello und Julia Brüssels Violine Assoziationen an einschlägige Streicher-Komposition des 20. oder auch 21. Jahrhunderts weckt, ebenso blitzen fantasievolle Anspielungen an Renaissance oder frühe Barockmusik auf. Aber mit solch reichen Ressourcen um sich selbst zu kreisen, ist nicht Sache der Band „Hilde“: Mehr und mehr schälen sich Songstrukturen aus diesen  Klangszenarien heraus. Aus dem Abstrakten sich ins Lyrische hervor wagen, darum geht es – umso mehr wie schließlich die Marie Daniels Gesangslinien emotional wirkungsstarke Songstrukturen formen.

Haben diese musikalischen Abenteurerinnen diesmal völlig anderes gespielt als beim letzten Konzert oder auf ihrer bemerkenswerten CD?  Oder hat man einfach wieder mal andere, völlig neue Aspekte in diesem befreiten Ideenfluss entdeckt? Ein Gespräch mit den Musikerinnen nach dem Konzert stellte klar, dass beides der Fall ist.

Die Band „Hilde“ wird, wie etliche andere Jazzformationen in NRW, durch die Richard Dörken Stiftung gefördert. Mit einer solchen Wahl beweist die renommierte Stiftung, die sich seit 1987 um den Musikernachwuchs NRW beliebt macht, eine weitblickende Offenheit für aktuelle künstlerische Gegenwart.

 Ist das Glas halbleer oder halbvoll?

Für Frank Ay (künstlerische Leitung im Bunker Ulmenwall) und Frieda Wieczorek (Geschäfts- und pädagogische Leitung) war es ein besonderes Geschenk, dass dieser Abend kurz vorm Jahresabschluss noch zustande gekommen war. Viele Konzerte wurden abgesagt. Bei den wenigen noch stattfindenden Veranstaltungen ist der Zulauf eher spärlich. Auch das brillante Triokonzert mit Alexander von Schlippenbach, Rudi Mahall und Dag Narvesen hatte in einem doch sehr „exklusiven“ Kreise stattgefunden. Für einen feinsinnigen Jahresabschluss sorgte eine Konzert-Lesung mit dem Cellisten und Schriftsteller Willem Schulz, welcher der Geschichte seines eigenen Instruments nach geht.

Mit einer Mischung aus Hoffnung und Ungewissheit schauen Frank Ay und Frieda Wieczorek in die nächsten Monate. Können weiterhin Konzerte wie geplant stattfinden? Wie viele Menschen werden kommen? Das Geld ist nach wie vor knapp. Die Einnahmen aus den Spielstättenprogrammpreisen sichern gerade so das „Überleben“ bei der Programmplanung. Trotzdem ist das Glas mindestens (!) halbvoll, wenn es um öffentliche Wertschätzung geht: Bielefelds östlicher Außenposten der Jazzszene in NRW hat sich auch im Sommer viel Gehör verschafft – und damit zur „corona-bedingten“ Rennaissance der Open-Air-Kultur gewichtig  beigetragen. Das Sommerfestival „Bunker unter Ulmen“ hatte für Superstimmung, viel Publikumszulauf und positive, auch überregional wahrgenommene Ausstrahlung gesorgt.

Text und Bild: Stefan Pieper

 

 

 

 

 

 

 

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