Unikat auf der ostdeutschen Jazzlandschaft – 40 Jahre Jazzclub Tonne Dresden

Er gehört zu den angesehensten Jazzclubs in Deutschland, ist auf der internationalen Szene bestens bekannt, hatte im Oktober 2015 zum dritten Mal in Folge den renommierten Spielstättenprogrammpreis der Initiative Musik – der Fördereinrichtung für aktuelle Musik der Bundesregierung – erhalten: der Dresdner Jazzclub Tonne. Vor 40 Jahren, am 18. März 1977, wurde er – noch als »IG Jazz« – gegründet. Von Mathias Bäumel

Heute wieder in den kultigen Kellerräumen des Kurländer Palais mitten im Stadtzentrum ansässig, bietet die Tonne durchschnittlich drei Live-Konzerte pro Woche mit Weltstars der Jazzszene, mit regionalen Größen und mit vielversprechenden Nachwuchsmusikern. Der Akzent liegt auf avanciertem Jazz mit kleiner Gastronomie, nicht, wie andernorts häufig, auf Kneipe mit Mainstreamjazz-Dudel-Beschallung.

Im Dresdner Jazzclub Tonne wurde viele Jahre lang auch Wert auf anspruchsvolle visuelle Qualität gelegt. Hier das Plakat für den Dresdner Jazzherbst 1992. Künstler: Jürgen Haufe (1949 bis 1999).

Angefangen hat alles vor vierzig Jahren – am 18. März 1977 gründeten Enthusiasten um den Jazzfan und Theatermenschen Frank W. Brauner die Interessengemeinschaft Jazz innerhalb der Kulturbund-Stadtorganisation Dresden. Jazz, vor allem der moderne, galt damals als klingendes Symbol für ein freies Leben als Individuum gemeinsam mit Gleichgesinnten, wurde häufig empfunden als Musik gegen Bürgerlichkeit und Gleichschaltung. Natürlich war diese Initiative Brauners nicht die erste in Dresden. Aber sie hatte – als einzige dieser Art – Langzeitwirkung bis heute und mündete in die letztlich doch beständige Existenz eines regulären, öffentlich bekannten Jazzclubs.

Reichlich 13 Jahre, vom April 2002 bis August 2015, war der Klubkeller unter dem Kulturrathaus auf der Dresdner Königstraße Spielstätte der »Tonne«. Was mancher Jazzfreund als zu unattraktiv empfand, war für andere gerade gemütlich und klubgemäß genug. Hier ein Schnappschuss einer Jam Session aus dem Jahre 2006 mit Dresdner Musikstudenten. Foto: Viktor Slezak/Archiv Bäumel

Und die Jazzfreunde um Brauner legten gleich los. Am 13. September 1977 fand im Studentenclub Bärenzwinger das erste von der IG Jazz veranstaltete Live-Konzert statt – mit der englischen Alan Elsdon Band. Und weil detaillierte Informationen über die Jazzszene der DDR (oder gar darüber hinaus) rar waren, gaben die Jazzfreunde gleich mit der »Dresdner Jazzszene« ein kleinformatiges sechzehnseitiges, hektographiertes Periodikum heraus, das Informationen, Schallplatten-Tipps, Konzerttermine und Hinweise auf Musiker enthielt (erste Ausgabe September bis Dezember 1977).

Viele weitere Konzerte folgten, die die IG Jazz im Bärenzwinger, in verschiedenen Hörsälen, im sogenannten Rundkino auf der Prager Straße und auch im Studentenklub Spirale auf der Nöthnitzer Straße veranstalteten. (Das Gebäude der Spirale wurde nach der Wende abgerissen, an dessen Stelle steht heute ein Max-Planck-Institut.) Logisch, dass die Jazzfreunde von eigenen Veranstaltungsräumen träumten.

 

Nachdem das Dixielandfestival zu einem internationalen Aushängeschild der DDR geworden war, brauchte man mehr Flair und einen stimmungsvoll-romantischen Raum für die Mitternachtssessions – den es in den Weiten des Kulturpalastes nicht gab. In einem zünftig wirkenden Klubkeller wie dem unter der Ruine des Kurländer Palais aber hätte man alle Jazzfreunde und auch die westlichen Musiker eng beisammen, was die unauffällige Arbeit der »Kundschafter des Sozialismus« sehr erleichterte. Das Wunder geschah: Die IG Jazz erhielt diesen ruinösen »Gerümpelkeller« zum Ausbau. Im März 1981 und nach mehr als 15.000 Stunden unentgeltlicher Arbeit konnten die Mitglieder der Interessengemeinschaft ihr tonnenförmiges Kellerklub-Domizil beziehen.

Nun verlagerte sich Dresdens Jazzgeschehen immer mehr in die Tonnen-Gewölbe der IG Jazz. In der fanden alle stilistischen Richtungen von Dixieland über Blues und Swing bis hin zu zeitgenössischen Formen eine Heimstatt. Die Reihe »Jazzclub International« stellte ausländische, meistens frei improvisierende Musikanten vor, »Jazz Today« präsentierte regelmäßig die mittlerweile europaweit anerkannte Creme des DDR-Freejazz, das »Jazzpodium« den Jazznachwuchs. Im Alltagssprachgebrauch bürgerte sich der Name »Tonne« für den Klub ein. 1985 fanden schon 79 Konzerte mit 14000 Besuchern statt. Das sind anderthalb Konzerte und 270 Besucher pro Woche, etwa 170 Besucher pro Konzert – und dies alles ehrenamtlich!

Mit der politischen Wende in der DDR kam es zu erdrutschartigen Veränderungen im Besucherverhalten. Nur noch durchschnittlich fünfzehn bis zwanzig Hörer besuchten die »Tonne«-Jazzkonzerte. Gleichzeitig beginnen die Kosten für den Betrieb der Einrichtung drastisch zu steigen. Der Kulturbund fiel mit rasender Geschwindigkeit auseinander. Im Juni 1990 wird deshalb der Verein Jazzclub Tonne gegründet, der Kampf um gute Musiker und um das Publikum wurde noch härter.

 

In besonderer Weise trat die Tonne ab 1992 mit ihrem kleinen Festival »Dresdner Jazzherbst« hervor, das dem Publikum vor allem in den Jahrgängen bis 1995 mit Gala-Konzerten im Kongress-Saal des Hygienemuseums große Namen des modernen Jazz vorstellte, die bisher nicht live in der DDR aufgetreten waren: Chick Corea, Joe Pattitucci, Bob Berg, Oregon, United Jazz and Rockensemble, Ack van Royen, Betty Carter, John McLaughlin, 29th Street Saxophone Quartet, Hermeto Pascoal, Abdullah Ibrahim, Billy Bang, Al Di Meola, Dave Holland, Jack DeJohnette und Geri Allen.

Aber schon zum 1994-er »Jazzherbst« schrieb Kritiker und Fotograf Matthias Creutziger: »Mit Ausnahme von Doppelmoppel bestimmte immer noch der Nachholbedarf das abendliche Jazz-Gala-Programm. … Die Schonzeit ist vorüber, jetzt sollte man sich Gedanken machen, ob man ein europaweit anerkanntes Festival mit einem eigenständigen Profil oder ein Allerweltsprovinzfestival werden will.« Eine Fragestellung, die – sinngemäß – auch bis in die Gegenwart hinein jeden Jazzveranstalter, auch die heutige Tonne, angeht. Damals zumindest wurde der Festivalcharakter Jahr für Jahr immer mehr »verwässert«, aus »Jazzherbst« wurde »Jazz im Herbst«, der schließlich in den normalen, allerdings stets anspruchsvollen Monatsprogrammen aufging.

Aber: Visuell setzten die ersten Jahrgänge dieser Jazzherbst-Reihe Maßstäbe: Die entsprechenden Plakate und grafischen Faltblatt-Gestaltungen von Jürgen Haufe waren hinsichtlich ihrer künstlerischen Qualität und grafischen Signalwirkung einmalig in Deutschland! Damals hatte Tonne-Jazz ein Gesicht erhalten, Jazz und Visuelles gehörte seither in Dresden zusammen. Dieses das Visuelle einschließende Jazzverständnis spiegelte sich in all den Jahren im kontinuierlichen Präsentieren von Ausstellungen im Tonne-Gewölbe und später auch im Ausstellungsfoyer des Kulturrathauses wider. Eine bereichernde Gepflogenheit, die leider mit dem Rück-Einzug ins Kurländer Palais im Herbst 2015 wegfiel.

 

1996 hat sich die Tonne gründlich konsolidiert. 180 Konzerte mit 23000 Besuchern sprechen eine überzeugende Sprache. Das sind dreieinhalb Konzerte und 442 zahlende Besucher wöchentlich, also knapp 130 Hörer pro Konzert – Werte, von denen vergleichbare kommunale Einrichtungen mit weit besserer finanzieller und personeller Ausstattung damals nur träumen konnten. »Tonne« stand für Qualität. Es galt, dass jeder, der über das Jahr regelmäßig die Tonne besucht, viele der wichtigen innovativen Jazzer aus den USA und Europa gehört hat. Der Mythos »Tonne« begann, Fuß zu fassen.

Der Einschnitt kam 1997. Weil das Land Sachsen die Ruine des Kurländer Palais zum Verkauf ausschrieb, ohne ein Bleiberecht für die Tonne zu garantieren, sah sich die Mitgliederversammlung des Vereins nach harten Diskussionen gezwungen, in die historischen Bierlagerkeller der ehemaligen Waldschlösschenbrauerei umzusiedeln. Dort wurde der Klub jedoch weder vom Großteil der Gründungsmitglieder noch vom Dresdner Jazzpublikum ausreichend angenommen. Konsequenz: Der Jazzclub Tonne e.V. musste im Jahre 2000 Insolvenz anmelden.

Um den Tonne-Jazz für Dresden zu retten, gründeten Dresdner Jazzfreunde am 21. November 2000 im Jazzcafé des Waldschlösschengeländes den Verein Jazzclub Neue Tonne Dresden. Doch die horrenden Kosten im Waldschlösschengelände konnten auch vom neuen Verein nicht erwirtschaftet werden, der Jazzclub Neue Tonne ging ins »Asyl«, veranstaltete von September bis Dezember 2001 19 Konzerte im Kulturzentrum Scheune und auf der Kleinkunstbühne des Restaurants Schillergarten. Gleichzeitig wurde die Suche nach einer neuen geeigneten eigenen Spielstätte verstärkt, fünf, sechs Alternativen geprüft. Nach zwei Probekonzerten entschied sich der Verein für die Variante Königstraße 15.

 

Mit Eröffnungskonzerten am 19. und 20. April 2002 ging es in den neuen Räumen der Tonne auf der Königstraße 15 wieder los! Das Dresdner Publikum nimmt die Tonne wieder an, und auch im Ausland wird dieser Dresdner Jazzclub wieder wahrgenommen. Mit mehr als 100 Konzerten im Jahre 2003 braucht sich der Jazzclub schon allein quantitativ vor anderen Veranstaltern in Dresden nicht zu verstecken.

 

Bemerkenswert war die Veröffentlichung der CD »Vor der Flut«, die erste Scheibe der Tonne nach der Neugründung. Sie enthält den Mitschnitt eines Live-Konzertes vom 18. Juni 2002 mit Günter Baby Sommer, Friedhelm Schönfeld, John D’Earth und Michael Hauser.

 

Das Veranstalten von Konzerten und Ausstellungen war ab da Alltags-Geschäft, und es gibt wohl im Osten Deutschlands keinen anderen Jazzclub mit einer solch beeindruckenden Konzertkontinuität. Der Jazzpublizist und -wissenschaftler Dr. Bert Noglik stellt 2005 begeistert fest: »Der Jazzclub Neue Tonne in Dresden ist der einzige im gesamten MDR-Sendegebiet Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, der kontinuierlich und mit solch großer Dichte Konzerte mit einer bemerkenswert hohen innovatorischen Qualität veranstaltet.«

 

Doch für die Tonne mindestens ebenso wichtig wie die laufenden Konzerte waren viele eigene Produktionen.

Mit dem Projekt »Picasso – Klang und Raum« (Künstlerische Leitung: Michael Schulz) im Jahre 2004 erreichte der Jazzclub die bis dahin größte Öffentlichkeitswirkung. Diese selbst produzierte Performance fand im Rahmen der Dresdner Museumssommernacht am 10. Juli 2004 in der ALTANA-Galerie der Universitätssammlungen Kunst + Technik an der TU Dresden statt und erreichte mehrere Tausend (!) Besucher. Mit ihrem Projekt »Stadtmusik« (Künstlerische Gesamtleitung: Michael Schulz) würdigte die Tonne am 26. Mai 2006 gleichzeitig an verschiedenen Orten Dresdens das Dresdner Stadtjubiläum. Unter dem Titel »Verwandlung. Kafka klingt nach« am 28. März 2007 las Zdenka Procházková, die grande dame der tschechischen Schauspielkunst, kleine Kafka-Texte und Baby Sommer improvisierte gemeinsam mit seinen Studenten dazu. Phantasievoll war das Film-Musik-Projekt »Märchenhaft – Kurzfilm-Klänge« am 24. März 2009. Dabei liefen zunächst drei extra ausgesuchte und organisierte tschechische und drei deutsche Animationsfilme, zu denen junge Musiker – ein nur für diesen Zweck zusammengestelltes deutsch-tschechisches Ensemble – improvisierten. Eine Weltpremiere schließlich gab es anschließend mit den Improvisationen zur Flash-Animation »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren« der Künstlerin Ulrike Wicht. Ein spezielles Erlebnis bot das extra für das Jazzwelten-Festival 2009 konzipierte Open-Air-Duett zwischen dem Glockenspiel am Glockenspielpavillon und einem Alphorn, dem Hunderte im Zwinger-Innenhof zuhörten (John Wolf Brennan + Arkadi Shilkloper).

 

»Jazzwelten« – so hieß das Festival des Jazzclubs Tonne Dresden, das zwischen 2005 und 2010 jährlich im Frühjahr stattfand. Jahr für Jahr stand ein anderes Thema im Vordergrund – eben jedes Mal eine andere »Jazzwelt«. Die sechs Jahrgänge Jazzwelten waren etwas Besonderes in Sachsens Jazzszene, die Einstellung des kleinen Festivals ist für sie ein großer qualitativer Verlust.

 

Zur Jazzbilanz gehört auch, dass die Tonne sieben Jahre lang, von 2003 bis 2009, offizieller Mitveranstalter des in Mähren stattfindenden Festivals Boskovice war, der Dresdner Jazzclub war dabei zuständig für das Bespielen der Jazzbühne. Spätestens hierbei wird klar, das gelebte Internationalität für die Tonne zu den Selbstverständlichkeiten gehört. Auch die Herausgabe einer eigenen Broschüre im Kontext des Jubiläums »Zwanzig Jahre Wende« muss erwähnt werden.

 

Und wieder änderte ein einschneidendes Ereignis so ziemlich alles: Nach einem Wassereinbruch im Juni 2015 setzte die Stadt Dresden ihren Jazzclub vor die Tür, kündigte der Tonne die bisherigen Räume. Die stand damit auf der Straße. Das war fast genau zu einem kleinen Jubiläum, nämlich fünfzehn Jahre nach dem Neustart im November 2000. Welch Kontrast: Anlässlich eines früheren Jubiläums, zum 10. Geburtstag der IG Jazz 1987, hatte der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer ein zweiseitiges Gratulationsschreiben geschickt!

 

Dass die Jazzfreunde – bei Fehlen von Alternativen – nun kurzfristig im Oktober 2015 in die mittlerweile elegant designten Kellergewölbe unter dem Kurländer Palais (wieder)einziehen konnten und – ja! – mussten, löste Freude und Skepsis gleichermaßen aus. Freude wegen der erweiterten Möglichkeiten für Konzerte, Skepsis wegen der im Vergleich zu vorher spürbar höheren Kosten, die auch mit gewinnbringenden, häufig ins Poppige rutschenden Konzerten erwirtschaftet werden müssten. Ein Motto der Tonne war es über die vierzig Jahre, den Jazzclub nicht vordergründig als Bedürfnisanstalt, sondern vor allem auch als »Bedürfnisweckanstalt« zu führen. Dass die Tonne in den nächsten Jahren diesbezüglich eine interessante Balance finden möge, ist dem Unikat auf der ostdeutschen Jazzlandschaft zu wünschen.

 

 

 

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