Angelika Niescier – Florian Weber Quintet. Angelika Niescier. Foto: Petra Basche

Jazzfest Berlin 2016 (3) – Unter Groovekillern: Spielen und kaputtspielen

Eigentlich eine Domäne des europäischen Jazz, das Kaputtspielen – ganz aus den späten 68ern heraus. So wie vorgestern beim Globe Unity Orchestra. Man kann die Dinge aber auch anders kaputtspielen: entweder wegen Überforderung oder durch ein aneinander vorbeispielen. Wird ja schon keiner merken – bei Profis oder gar Superstars der Szene gelingt doch sowieso immer alles. Nein!

Dafür ist Platz für andere da. So war der erste Act des Abends im Haus der Berliner Festspiele einer der Höhepunkte des Festivals bislang! [Alle Fotos: Petra Basche]

Robust, ökonomisch, fluffig!
Das Angelika Niescier und Florian Weber Quintet

Das Quintet um Angelika Niescier (as) und Florian Weber (p) beherrscht sich selbst und beherrscht das Metier. Mit „And Over“ betitelten sie ihr erstes Stück: Eine famose Komposition, bei der die Musikerinnen jeweils ihre Linien durchführen, wenig doppeln – im Gegenteil, tatsächlich ihre Wege einzeln komponiert verfolgen, ja geradezu polyphon. Virtuose Soli bei allen Instrumentalisten, ein groovender Bass (Eric Revis) und ein wunderbar ökonomischer Schlagzeuger (Gerald Cleaver), der mit wenig Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielt. Großartig!

Toll schon das Doppelsolo von Florian Weber und Ralph Alessi, entspannt, leicht, präzise. Funken schlägt es, wenn Bass und Schlagzeug hinzutreten und damit wie bei einem Raketenstart zünden. Angelica Niesciers Soli und Kompositionen sind ebenso von Virtuosität und von robuster Fluffigkeit gekennzeichnet. Es wird reduziert und es wird aufgefächert. Die Sache ist bewegt, eingespielt. Überhaupt gelingt ihnen an diesem Abend fast alles. Ob mal ganz allein ein Basssolo oder dann wieder im Duo (Piano und Schlagzeug). Da passen die freien Passagen und die komponierten zusammen, greifen ineinander – ein Vergnügen, denn man kann an jeder Position einen Faden aufnehmen und ist mitten im Geschehen. So geht das!

Willkommen in ihrem neuen Musterhaus
Nik Bärtsch’s Ronin – hr-Bigband

Ganz anders die BigBand des Abends vom hr mit Nik Bärtsch’s Ronin. Ich kann nicht verhehlen, dass zu bemerken war, dass da nichts zusammenlief. Das Modell ist fast immer das gleich. Ronin (aus tiefen Klarinetten, Bass und Schlagzeug sowie Nik Bärtsch am Piano) entwickeln ein komplexes rhythmisch, repetitives Geflecht – an das dann die BigBand sich anpasst, gerne in Einwürfen Liegetönen – gefordert ist da vor allem der Mann am Scharnier, der Perkussionist Claus Kießelbach. Das ist am Anfang so, das ist auch am Ende so. Und zwischendrin ist es auch so. Das ist zu Beginn noch chic, wird im Verlauf aber doch zu einer musikalischen Einöde bei der es zudem noch klappert.

Das Ganze funktioniert trotzdem so perfekt und spannungslos wie das nächste Musterhaus im Vorort. Und dann sehnt man sich in den Plattenbau zurück, der nach dem selben Prinzip funktioniert, dafür aber auch nicht vorgibt, ein besonders Wertvolles Lebensobjekt zu sein. Das Publikum war dennoch dankbar und aus dem Häuschen. Für mich ist das nur eine andere Form des Kaputtspielens, die evident wird, wenn das polyrhythmische Geflecht für Soli der hr-BigBand offensichtlich eigens abgespeckt wird. Die Musik ist kaputt und hörbar kaputt, weil sie nach dem Rädchenprinzip von vielen kleinen Patternmaschinen funktioniert und dabei hakt es oder strahlt die Langeweile des Prinzips aus. Schade um den Aufwand.

Ssirus Pakzad hat einmal vor Jahren die Gefahr dieser Musik in der Jazzzeitung sehr genau beschrieben:

Um solche, wenig Freiräume lassende, von Feinabstimmungen abhängige Musik zu spielen, ist absolute Präzision erforderlich, oder, wie Bärtsch es formuliert, „eine Mischung aus Wachheit, Konzentration und Lockerheit.“ [JazzZeitung 2006/09]

Und das genau ist nicht passiert. Es war klamm, ermüdend und die Freiräume waren passé. Vier Tage Probenzeit sind nicht genug.

Es dröpt die Namen
DeJohnette – Coltrane – Garrison

Namen sind Schall und Groove. Oder eben auch nicht. Das Trio mit den großen Namen setzte den Schlusspunkt unter den Abend auf der Hauptbühne des Hauses der Berliner Festspiele. Sicher großartige Musikerinnen, endlich auch Liveelektronik bei Matt Garrison mit von der Partie. Jack DeJohnette zu Beginn am Klavier. Solide gutes Saxophonspiel von Ravi Coltrane. Aber es dauerte sehr lange bis alle in einen gemeinsamen Groove fanden.

Es ist so schade drum. Alle Musikerinnen hätten locker eine Stunde solo spielen können. Aber zusammen? Die Namen waren da klangvoller als ihr Tun. Warum können sie nicht sich darin austoben, wo sie am besten sind: In konventionellen Strukturen nämlich, dann, wenn sie tatsächlich abrocken. Das können sie nämlich wirklich. So blieb das Episode. Ausnahmen: DeJohnette, der beispielsweise Hindemiths Klaviersonate insofern auf den Kopf stellt, indem er sein Schlagzeug wie ein Melodieinstrument spielt. Oder Garrison, der sich seinen E-Bass per Software modifizieren lässt. Episoden. Gleichwohl: Großer Applaus aus dem Publikum. Man fand es gut. Ich finde, da gibt es genug Ensembles in der Jazzwelt, die das besser beherrschen, das freie Spiel in der Gruppe.

Nachtrag: Frauenquote und Qualität

Auch an diesem Abend war die Frauenquote miserabel: 1 zu 27. Daher ein kleiner Kommentar. Die Festivalleitung und Intendanz betont bei diesem Jazzfest Berlin immer wieder, man sei nicht an der Quote interessiert, sondern entscheidend ist die Qualität der Musikerinnen. Das lässt leider im Umkehrschluss nur die fatale Folgerung zu: Dann ist es mit der Qualität der Frauen im Jazz offenbar doch nicht so weit her. Zumindest auf der Hauptbühne. Das kann doch aber nicht wahr sein, weil es nämlich nicht stimmt. Gut, Angelika Niescier hätte den Rest den Abends locker aufgewogen. So gesehen würde ein Schuh draus.

Die Ensembles und Musikerinnen des Abends

Angelika Niescier – Florian Weber Quintet
Ralph Alessi trumpet
Angelika Niescier alto saxophone
Florian Weber piano
Eric Revis bass
Gerald Cleaver drums

Nik Bärtsch’s Ronin – hr-Bigband
Nik Bärtsch composition, piano
Sha alto saxophone, bass and contrabass clarinets
Björn Meyer electronic bass
Kaspar Rast drums
Jim McNeely arranger, conductor
Frank Wellert trumpet
Thomas Vogel trumpet
Martin Auer trumpet
Axel Schlosser trumpet
Günter Bollmann trombone
Peter Feil trombone
Richard Hellenthal trombone
Manfred Honetschläger bass trombone
Heinz-Dieter Sauerborn alto saxophone
Oliver Leicht alto saxophone
Tony Lakatos tenor saxophone
Steffen Weber tenor saxophone
Rainer Heute baritone saxophone
Martin Scales guitar
Claus Kießelbach percussion

DeJohnette – Coltrane – Garrison
Jack DeJohnette drums, piano
Matt Garrison bass guitar, electronics
Ravi Coltrane sopranino, soprano and tenor saxophones

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