CD-Rezension: Filippa Gojo und Sven Decker – daheim

cover_gojoVon Dietrich Schlegel – Der Saxophonist, Komponist und Bandleader Sven Decker und die Vokalistin Filippa Gojo sind seit Jahren fest in der Kölner Jazzszene etabliert und sich dennoch nie begegnet. Bei viel beschäftigten Musikern kann das vorkommen. So dauerte es Jahre bis zu einem Konzert des Thoneline Orchestra Ende Juni letzten Jahres in Passau, als die beiden sich erstmals persönlich sahen und hörten, Gojo als festes Mitglied des Orchesters der Kölner Saxophonistin und Komponistin Caroline Thon und Decker als Aushilfe im Saxophonsatz der Band. Gleich einem Blitz hatte es bei Decker eingeschlagen: „Sofort nach diesem ersten Aufeinandertreffen und nachdem ich auf der Rückfahrt im ICE auch noch Filippas letzte, die Solo-CD „vertraum“ gehört hatte, war ich derart inspiriert von ihrer Art zu singen und zu improvisieren, dass ich sofort begann, Musik für uns beide zu komponieren.“ Und Filippa auf die Frage, wie sie diese Begegnung empfunden habe: „Das musikalische Verständnis füreinander war unvermittelt da. Dazu kam Svens von vornherein glasklare Vorstellung eines Duo-Klanges, die er auch derart schnell auf Papier gebracht hat, dass ich eine Woche nach unserer ersten musikalischen Begegnung eine E-Mail mit lauter frisch für unser Duo geschriebenen Stücken in meinem Postfach hatte. So was habe ich wirklich noch nie erlebt!“

Aus dieser Begeisterung heraus entstand nach nur sechs Monaten die CD „daheim“, für Decker „eine meiner persönlichsten, wenn nicht gar die persönlichste Veröffentlichung“. Und auch der Sängerin liegt die CD „persönlich sehr am Herzen“. Überraschende Bekenntnisse, wenn man die ansehnliche Zahl an CDs überschaut, die beide mehrfach ausgezeichnete Musiker bereits vorgelegt haben. Neben drei älteren Kompositionen – „Elephants Walk, „Blues For Bud“ und „Herbst“ -, die er nur neu arrangieren musste, hat Decker neun Stücke speziell für dieses Duo geschrieben. „Nach nur einer Woche intensiver Schreib- und Arrangierarbeit“, so Decker, „stand das Programm, und nach ein paar Proben gab es schon die ersten beiden Konzerte, im Essener ‚Goethe-Bunker‘ und im Kölner ‚Loft‘.“ Für die CD wurde ein Teil der Stücke vom Konzert im ‚Loft‘ übernommen. Der Rest wurde zwei Wochen später während einer eintägigen Session im Kölner „Tonstudio der Welt“ ebenfalls live eingespielt.

Diese Eile, die keinem irgendwie gearteten Produktionsdruck entsprang, sondern allein der stimulierten Kreativität dieser jungen musikalischen Partnerschaft, hat dem Ergebnis keinesfalls geschadet, sondern offenbar noch zusätzlich befruchtend gewirkt. Alles, was sich an Ideen angesammelt und angestaut hatte, musste einfach heraus. Das Endprodukt wird geprägt durch reizvolle und überraschende Kontraste. Das trifft allein schon zu auf den spannungsvollen Gegensatz zwischen Filippas Stimme, besonders in den hohen Lagen, und Svens Bassklarinette, die er – seine Saxophone völlig beiseite lassend – hier noch häufiger spielt als die Klarinette. Gerade auf dem Tieftöner erzeugt er bisweilen, entsprechend der jeweiligen Komposition und Filippas notierter oder improvisierter Stimme, sperrige, schräge, knarzende, stöhnende, fauchende Klänge oder auch nur Geräusche. So beispielsweise in dem Stück „Zirbenwald“, in dem eine erst zauberische, dann fast schon unheimliche Stimmung erzeugt wird. Oder auch in „Elephants Walk“, wo sich die Vokalistin und der Holzbläser an der Erzeugung grunzender, trötender, flötender Geräusche der Wildnis geradezu überbieten.

Wie in manchen der anderen Titel und bei allen ihren Konzerten setzt Filippa auch hier einfühlsam und wirkungsvoll die Shrutibox ein, dieses aus Indien stammende, einer Ziehharmonika oder im Klang auch einem Harmonium ähnelnde Instrument. Zur klanglichen und atmosphärischen Bereicherung nutzt Filippa auch gern ein Megaphon, die Kalimba und in „New Friends“ auch die Sansula, ebenfalls ein Daumenklavier, mit der durch eine zugefügte Membrane auch Wa-Wa- und Echo-Effekte erzielt werden können. Auch Decker erweitert sein Instrumentarium durch Melodica und Glockenspiel. Dieses zusätzliche Material trägt bei fast allen Stücken zu den Kontrasten im klanglichen Spektrum bei. In dramaturgisch geschürzten Wechsel sind lebhafte, groovende, jazzige, temporeiche, laute, sperrige Stücke zwischen verhaltene, leise, sehnsuchtsvolle, zarte, melodiöse Songs gesetzt.

Damit ist zugleich das Stichwort für Filippa Gojos Gesang gefallen: Bis auf eine Ausnahme, das Titelstück „daheim“, gibt es keine Texte im Wortsinn. Sie nutzt ihre Stimme in vielfältigster Weise als Instrument. Das kennen wir von anderen Sängerinnen auch, denken wir nur an Norma Winstone, Gabriele Hasler oder Sidsel Endresen. Aber Filippa hat inzwischen ihren ganz eigenen Stil gefunden. Sie formt jeden Ton entsprechend der kompositorischen Vorgabe, hell oder dunkel oder mezzo, dramatisch bis zum Diskant wie im Opener „Train Journey“. Oder pianissimo wie in „Laber Rhabarber“, ein Titel, der sprechender nicht vermitteln kann, was hier auf den Hörer einstürmt: Nach einem vertraulichen Dialog voller Neckereien zwischen Stimme und Klarinette kommt es unvermittelt zu einem kurzen, aber heftigen Streit oder Kampf, der jedoch bald abflaut und übergeht in ein intimes, zärtliches Geflüster und auslaufend in einem tiefen Seufzer.

So entstehen wahre „Lieder ohne Worte“ in fast schon Mendelssohnscher Weise, da die Stimme als Instrument für ihre Erzählungen keiner Worte bedarf. In „Summer Song“ wird die fast elegische Stimmung eines Duetts zwischen Filippas hier ganz klarem Alt und Svens Melodica durch sein zartes Glockenspiel noch unterstrichen. „Reflection“, eines der aus subjektiver Sicht eindrucksvollsten Stücke, meditativ und largo di molto, erinnert an mongolische Kehl- und Obertongesänge, zumal die auf der Bassklarinette erzeugten Windgeräusche zum Schluss an die Weite asiatischer Stellen denken lassen. Der Zauber-„Zirbenwald“ schließt unmittelbar an. Später folgt „Herbst“, mit einem Glockenspiel-Intro, ein aus Stimme und Melodica in Töne umgesetztes herbstliches Farbenspiel. Schließlich „gruen“, der Ausklang, wieder voller zarter Töne von Glockenspiel und Melodica, einer anfangs verhaltenen Filippa, die sich in dieser an Kirchen- oder Weihnachtslieder gemahnenden Komposition bis hin zu Gospelanklängen steigert.

Und davor und dazwischen die besagten Kontraste: Die dynamische „Train Journey“, ein diesem Titel entsprechendes diminuendo e crescendo, mit einem der in anderen Stücken auch auftauchenden blendend exakt gesungenen und gespielten unisono Passagen. Im jazzigen „Blues for Bud“, ein auf den „Summer Song“ folgenden Wachmacher, wird von Filippa beherzt „gescattet“, und der Song läuft in eine beboppige Coda aus. Der wilde „Elephants Walk“. Das erst coole, dann hitzige „39,3 Grad Celsius“, in dem sich Megaphon und Bassklarinette ein heißes Duell liefern. „New Friends“ leitet dann leichtfüßig mit einem sensiblen Sansula-Solo zum Schlusstitel „gruen“ über.

Nicht zuletzt aber müssen wir uns noch dem Titelstück „daheim“ widmen. In dem einzigen Lied mit Worten greift Filippa Gojo auf ihren geliebten Vorarlberger Dialekt zurück, den sie erst wirklich schätzen gelernt hat, seit sie in der „Kölner Diaspora“ lebt. Sie besingt in ihrem eigenen, für Deckers Komposition geschriebenen Text einen endlos langen Weg, der „het ned amol an Anfang… Koan Anfang, koa End“. Und dazwischen spielt sie mit über- und untereinander geworfenen Worten wie „koan Huckl, koan Buckl, koa Gruckl“ und „nix hucklat, nix bucklat, nix rucklat“ Silben, wie geschaffen für Lautmalereien und –spielereien. Ein bei allem Schabernack anrührendes Lied voller Sehnsucht, fast ein Heimatlied, ohne dass es sentimental wirkt, dazu ist der Text auch zu hintergründig (der gesamte Text findet sich im Album hinter der CD).

Abgerundet wird der Gesamteindruck dieser anspruchsvollen und doch mit großem Vergnügen anzuhörenden, klang- und kontrastreichen CD durch eine sympathisch schlichte Aufmachung, mit einem stimmungsvollen Herbstfoto Deckers aus einem Kölner Park. Das Booklet zieren Studio- und Konzertfotos von Jana Heinlein. Für die Gesamtgestaltung zeichnet Svens Deckers Partnerin Katrin Scherer. Die Saxophonistin und Komponistin hatte mit ihm zusammen 2007 das Label GREEN DEER MUSIC gegründet, eine seinerzeit mutige Entscheidung, welche die Produktion der eigenen Platten aber auch sehr erleichtert, was auch in diesem Fall zutrifft. Den anheimelnd schönen Titel für die CD hatte übrigens Sven Decker mit Bedacht gewählt. Seine Begründung: „Es gibt Musiker, mit denen spricht man intuitiv die gleiche musikalische Sprache. Man versteht sich fast ohne Worte. Und mit Filippa zusammen Musik zu machen, fühlt sich für mich an, wie angekommen zu sein – eben ‚daheim‘.“

Filippa Gojo & Sven Decker: daheim, GREEN DEER MUSIC, Köln 2015

Offizielles CD-Releasekonzert am 13. Februar 2016 im Kölner Stadtgarten

www.filippagojo.de; www.sven-decker.de

Der tägliche
JazzZeitung.de-Newsletter!

Tragen Sie sich ein, um täglich per Mail über Neuigkeiten von JazzZeitung.de informiert zu sein.

DSGVO-Abfrage *

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.