Liberté, Egalité, Virtuosité: das 32. Jazzfestival Südtirol mit Frankreich-Schwerpunkt

Fisseau (dombr)Ein Bericht aus Südtirol – von Oliver Hochkeppel, Fotos von Ralf Dombrowski: Dass es im Laufe der vergangenen Jahre nicht nur wegen seiner besonderen Spielorte, sondern auch programmatisch eines der außergewöhnlichsten und spannendsten Festivals geworden ist, belegte die 32. Ausgabe des Südtirol Jazzfestivals gleich mit den beiden Auftaktveranstaltungen am vergangenen Wochenende. Zunächst hatte der Wunderakkordeonist Vincent Peirani – mittlerweile beim Münchner Label ACT unter Vertrag und nicht nur als frisch gebackener „Jazz Victoires“ Sieger vielleicht der im Moment herausragende junge französische Jazzer – eine „Carte Blanche“ für „Une Nuit Francaise“ erhalten. Basis des Abends war Peiranis aktuelles „Living Being“ Quintett mit Sopransaxofonist Emile Parisien, E-Bassist Julien Herne, Schlagzeuger Yoann Serra und Tony Paeleman am Fender Rhodes. Mit Parisien – den Peirani „meinen Bruder“ nennt und der soeben gleichfalls bei den Jazz Victoires erfolgreich war – verbindet ihn eine langjährige persönliche wie künstlerische Freundschaft, unlängst ist ihr Duo-Album „Belle Epoque“ bei ACT erschienen.

Es verwunderte daher nicht, dass diese Kombinationen nahezu miteinander verschmolzen, dass Peirani seine einmaligen Fähigkeiten, nahezu jedes andere Instrument auf dem Akkordeon erklingen zu lassen, problemlos jeden Einfall improvisatorisch begleiten zu können und sich mit nahezu übermenschlicher technischer Perfektion über alle denkbaren Stilgrenzen hinwegzusetzen, voll ausspielen konnte. Eher verwunderlich war, dass dies in den anderen, teilweise erstmals auf der Bühne zu sehenden Kombinationen genauso gut funktionierte – ob mit der gleichermaßen beeindruckend kraftvollen wie präzisen Sängerin Serena Fisseau oder der aufstrebenden Trompeterin Airelle Besson, die ihre anfängliche Nervosität schnell überstand, oder mit Francois Salque, dem Klassik-Star am Cello. Letzterer, der auch schon zwei weltmusikalische Alben mit Peirani eingespielt hat, spielte hier das erste Mal in seinem Leben zusammen mit einem Schlagzeug („Oh, das ist laut“, sagte er beim Soundcheck) und stand dem Gastgeber an stupender Virtuosität nicht nach.

Es war also eine „französische Nacht“, aber eine, die einen Ausblick auf einen derzeit in der ganzen Jazzwelt zu beobachtenden Trend gewährte. Denn die Kompositionen, sofern sich nicht von Peirani waren, stammten unter anderem aus Brasilien (Jobim), Argentinien (Piazzolla), Spanien und den USA. Ein Songbook der Welt entrollte sich da, eines, das von der europäischen Klassik über die Volksmusiken der Welt bis zum Modern Jazz und funkiger Fusion reicht. Weil heutzutage nahezu alle jungen Jazzmusiker (und immer mehr junge Klassiker) zweigleisig ausgebildet werden, ist für sie der vermeintliche Graben zwischen Komposition und Improvisation, zwischen „klassischer“ Harmonik und „jazziger“ Rhythmik längst zugeschüttet. Mitunter kann freilich auch instrumentale Meisterschaft eine gewisse Beliebigkeit des modernen Crossovers nicht überdecken. Hier wurde die Gefahr dadurch gebannt, dass alles einen individuellen, französischen Akzent behielt.

Das zweite, weit abenteuerliche Fusionsprojekt des Festivals stand unter einem weniger guten Stern. Die „Saslonch Suite“ in und am Fuße der Langkofel-Wand inmitten der Dolomiten ist ein lange gereifter Herzenswunsch des Festivalleiters Klaus Widmann. Der ist im Zivilberuf Arzt und im Hobby ein passionierter Bergfreund. Seine Idee, Naturerlebnis, Sport und Jazz zu verbinden, nahm hier dank enormer Risikobereitschaft aller Beteiligten und einem nahezu aberwitzigen Aufwand – organisatorisch machte das Projekt so viel Arbeit wie der komplette Rest des Festivals – Gestalt an: Nicht nur spielten Trompeter Matthias Schriefl – als Allgäuer Berg-erfahren und als Musiker ohnehin einer der buntesten Hunde der Szene – und die Saxofonisten Florian Trübsbach und Cedric Favresse auf einem Vorsprung mitten in der gewaltigen Langkofel-Wand, und Schlagzeuger Lucas Niggli, Gesangsakrobat Andreas Schaerer und Gitarrist Kalle Kalima an ihrem Fuße, sie begleiteten dabei auch noch den südtiroler Extrem-Slackliner Armin Holzer und vor allem die Erstbegehung eines Zehn-Meter-Überhangs durch die belgischen Brüder Nicolas und Olivier Favresse.

Eigentlich sollte auch noch eine Wing-Suite Performance von drei Base-Jumpern dazu kommen, doch leiderwar ausgerechnet dieser Samstag der einzige Schlechtwettertag. Mit Glück (zumal am Tag zuvor noch eine Ganate aus dem Ersten Weltkrieg gefunden worden war und entschärft werden musste) konnte man Generalprobe und das Rumpfprogramm (beides vom Fernsehen dokumentiert) bis Mittag durchziehen, bevor Regen und Wind losbrachen.

Man kann bei dieser aberwitzigen Unternehmung sicher über das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag diskutieren. Wer aber den Auf- und Abstieg übers „Steinerne Meer“ und das große Gerölfeld unter der Kofelwand bewältigte, das Camp inmitten der unwirtlichen Bergwelt sah und die kilometerweit tragenden Klänge der Bläser sowie die mit dem Stöhnen und den Anfeuerungsrufen der Freikletterer korrespondierenden Bandimprovisationen hörte, der hatte in jedem Fall etwas musikalisch wie emotional Einmaliges, Unwiederholbares erlebt. Und ist das nicht eine der möglichen Definitionen von Jazz?

Noch bis zum 6. Juli geht das Festival mit einem ähnlich ungewöhnlichen Programm weiter. Viele weitere junge Franzosen präsentieren sich, von Julien Desprez und Didier Levallet (Mittwoch, 2. Juli), über Julien Soros Big Four und Fanny Lasfargues (Donnerstag, 3. Juli), dann das Trio MeTal-O-Phone und die wilde Bigband Ping Machine (Freitag, 4. Juli) bis zu Leila Martials Baa Box (Samstag, 5. Juli). Aber auch amerikanische Stars sind wieder dabei, etwa das New Yorker Quartett Now vs. Now mit Baba Israel (Samstag, 5. Juli vor dem Bozener Museion) und zum Abschluss Chick Corea im Duett mit Stanley Clarke (in Sterzing am Sonntag, 6. Juli). Wie es diesem Festival und seiner Region geziemt, hat Widmann außerdem eine besondere Veranstaltung zu 100 Jahren Erster Weltkrieg ins Programm genommen, zugleich wird Beim „J’atz Lusern“ auf dem Dorfplatz des historischen Kriegsschauplatz Lusern erstmals die Grenze nach Trient überschritten: Ein Sextett um Christian Wegscheider mit herausragenden hiesigen Jazzern begleitet und ergänzt eine Lesung aus Kriegstagebüchern und Erinnerungen von Ortsbewohnern. Die Reise ins wundervolle Südtirol sei also jedem aufgeschlossenen, an aktuellen Strömungen interessierten Jazzfreund sehr empfohlen.

 

 

 

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