Von Möbeln im Ohr und Klängen, auf denen man sitzt

„Visionen“ sind heilbar, wollte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einst selbstgefällig weismachen. Es wäre schade drum. Deutlich wird das auch an Visionen, welche die Berliner Pianistin Fee Stracke auf einem Flughafen in Kanada überkamen. Nach einem Workshop sass sie dort erschöpft rum, als sich plötzlich die Stuhlreihen und Sitze um sie herum zu Rhythmen und einer Melodie formten. Gottseidank rannte Stracke, nach Deutschland  zurückgekehrt, nicht gleich zum Arzt, sondern begann Archive und Bibliotheken nach anderen besonderen Sitzgelegenheiten zu durchforschen. Recht bald stieß sie dabei auf den Ulmer Hocker von Max Bill, den Plastic Side Chair auf Traverse von Charles und  Ray Eames, den ikonischen Freischwinger von Mies van de Rohe, Marc Stam und Marcel Breuer aus den 20er Jahren, Michael Thonets Kaffeehausstuhl und etliche andere Möbel mit Stil und Geschichte.

Fee Stracke Quartett. Foto: Dovile Sermokas

Aus den eher zufälligen musikalischen Visionen wurde eine künstlerische Absicht – und nach Monaten des Forschens, konzeptuellen Tüftelns und Noten Schreibens ein Packen voller Stücke, mit dem Fee Stracke ins Studio gehen konnte. Ein Stipendium des Berliner Senats half dabei und mit Daniel Meyer (g), Berit Jung (b) und Hampus Melin (dr) fand die Visionärin die passenden Mitmusiker. „Ich bin sehr froh“, sagt sie über die drei, „dass ich alle für dieses Projekt begeistern konnte. Ich liebe einfach das Zusammenspiel, die Energie und Interaktion mit ihnen. Die drei prägen die Komposition immer wieder auf’s Neue mit ihrem Spielstil und ihren Improvisationen. Meine Stücke sollen wie Stühle und Möbel sein, die wir ja auch individuell nutzen und bespielen.“ Aus verschiedenen Parametern dieser Sitz- und sonstigen Möbel, aus ihren Maßen, den Materialien, formen und Nutzungsweisen hat Stracke 14 Stücke mit insgesamt 55 Minuten Dauer gestrickt. Überraschend, vielfältig und originell klingen diese Möbelkompositionen, die nicht wie Erik Saties „Musique d`ameublement“ einen Raum möblieren, sondern die Möbelstücke durchdringen und in anderer Form erstehen lassen.

Da schwingt der Kaffeehausstuhl das (Tanz-)Bein zum Walzertakt und der Freischwinger wird von der schwebenden Improvisation „Seamless Steel“ auf der Gitarre Meyers mit gebundenem Spiel und viel Raum wunderbar eingeschwungen. Dann lassen die Stahlsaiten das Sitzgefühl als Flageolett erklingen. Das minimalistische Klavier, der verträumt-gestrichene Bass und das freie Spiel des Schlagzeugs schaffen die Stimmung einer Besprechung am Freitagnachmittag im Büro, wenn die Gedanken von den Tops abschweifen. Halb abwesend verträumt, halb schwermütig verliert sich ein Sitzender im Boston Loveseat zwischen Klangtupfern, schiefen Akkorden und wolkigem Rauschen. „Die Ameise“ wirkt geschäftig, biegsam und nimmermüde in ihrem minimalistischen Duktus aus Ausdauer und kühlen Modernität. In anderen Möbelkompositionen fließen Elemente von Volksliedern, klassisch anmutende Motive, Marschrhythmen, stimmungsvolles Pathos und viel freier Geist mit ein und verbinden immer wieder komponierte mit improvisierten Teilen. „Beim Ulmer Hocker von Max Bill habe ich schematisch gearbeitet“, erzählt die Pianistin in einem Interview, „und mit den Maßen und der Bauweise experimentiert“. Die Seitenlängen hätten zum Beispiel „die Anzahl der Beats, die Tonfrequenzen und Grundharmonien vorgegeben“. Daraus ist ein sehr abwechslungsreiches und überaus spannendes Album entstanden, das danach verlangt wieder und wieder Platz zu nehmen und auszuloten welche Stimmung, welcher Sound heute passend zur eigenen Gemütslage steht. Manchmal räkelt man sich auch auf seinem „Wunderhocker“, blickt auf den „Teetisch (zusammengeklappt)“ und fragt sich seufzend, ,warum gibt es nicht mehr solcher form- und stilvollen Sitz- und Gebrauchsmöbel in meinem Ohr?‘

Michael Scheiner

Fee Stracke, Instrumental Chairs, Unit Records UTR 4863