Von der Tiefe hoch bis zu den Sternen: Tamara Lukasheva im Solo-Recital auf einer malerischen Wasserburg Lüttinghof

„Ich finde es total spannend, was es gibt in der Welt“ – mehr als diesen Satz braucht Tamara Lukasheva nicht, um auf den Punkt zu bringen, was sie will und tut. Kein Konzert mit der ukrainischen Pianistin und Sängerin dürfte wie das andere sein – ein Solo-Recital im malerisch-romantischen Ambiente einer stillen Wasserburg am Nordrand des Ruhrgebiets im Rahmen der Konzertreihe Fine Art Jazz war vielleicht noch eine Spur einzigartiger. Wie auf ihrem neuen vielbeachteten Soloalbum „Gleichung“ stand dabei ihre subjektive Lesart von literarischer Dichtkunst aus mehreren Jahrhunderten im Fokus. Die Skala von tief empfindsamer Melancholie bis zum wagemutigen Experiment war dabei – typisch für Tamara Lukasheva, die in diesem Jahr mit dem Deutschen Jazzpreis im Fach Komposition ausgezeichnet wurde – in jedem Moment nach oben hin offen.

Eine leichtfüßige Scat-Improvisation zum Aufwärmen macht auf Anhieb deutlich, was die in Köln lebende Künstlerin auszeichnet: Virtuosen Stimmeinsatz mit faszinierend vielseitigem Klavierspiel zusammen zu bringen – oft so, als würden  hier zwei Musiker und eben nicht nur eine Person agieren. Aber dann geht es schon ans literarisch Eingemachte: Clemens Brentanos zärtlich-trauriges Wiegenlied „Singet Leise“, Balladen von Novalis, Dichtungen von Theodor Fontane und Reiner Maria Rilke nähren die lyrisch-musikalische Inszenierung in vielen Facetten. Am Anfang standen Worte, die sie verzaubert haben, beschreibt die gebürtige Ukrainierin in ihren ausgiebigen Anmoderationen den kreativen Prozess. Töne und Harmonien gingen als unmittelbare Resultate aus einer solchen Einfühlung hervor.

In Rilkes Gedicht „Ich kreise um Gott“ durchmisst ihre Stimme kühne Intervalle wie Luftsprünge, bevor sich in rasantem Unisono – oder auch dem Gegenteil davon – Stimme und Klavier miteinander synchronisieren. „Ich mag Spiritualität“ bringt Tamara Lukasheva ihre Motivation auf den Punkt, aber sie erläutert ihrem Publikum auch sehr detailreich die eigene Kompositionsmethode. Auch in einer Hommage an Hildegard von den Bingen geraten mittelalterliche Dichtkunst und eine sehr subjektive musikalische Gegenwart auf gemeinsame Augenhöhe: „Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen überflutet die Liebe das All“ heißt es – und schon folgt die musikalische Einlösung dieser Aussage, wenn eine eine Kette aus dissonanten Intervallen eine gesungene modale Tonskala hervor bringt. Kraftvolle Metaphern aus Clara Müller-Jahnkes Dichtung „Der Schatten“ bringt eine bittersüß schwebende Vokalise in Fluss, die schließlich in einen fast spätromantischen pianistischen Klangozean mündet.

Tamara Lukashevas gesangliches und pianistisches Potenzial ist immens. Sie hat in Odessa Operngesang und klassisches Piano am Konservatorium studiert. Das will etwas heißen. Wenn sie in ihre feinsinnigen Vokalisen einsteigt, klingt dies wie eine indische, vokale Rhythmisierungstechnik und weniger wie angloamerikanischer Scatgesang. Manche Momente dieser instrumental-vokalen Personalunion erinnern in ihrer Färbung auch an den Mugham-Stil von Azizah Mustafa Zadeh. Und ja: Sie bestätigt hinterher im Gespräch, dass sie sich von der einflussreichen Aserbaidschanerin auch schon inspirieren ließ.

Bei Text-Lyrik geht es oft gar nicht darum, einen Bedeutungszusammenhang „kopfmäßig“ zu erfassen.  Der gymnasiale Deutschunterricht treibt vielen jungen Menschen mit solch vergeblichen Anstrengungen oft lebenslang die Leidenschaft für Literatur aus. Tamara Lukasheva machte auf der Wasserburg Lüttinghoff wieder die unaussprechliche Magie zwischen den Worten fühlbar. Letztlich bleibt, wie es Theodor Fontane sagt, „das Dunkel, das Rätsel“ und „die Frage“ übrig. Die Antwort könne nur „wie Meeresrauschen“ klingen. Oder eben wie Tamara Lukasheva.

Text und Fotos: Stefan Pieper

Tamara Lukasheva
Gleichung (Special Edition CD)

CD, wis5045, EAN 4025083504524 / DX
Jazz, © 2021, WismART

nrw vertrieb

 

 

 

 

 

 

 

 

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