Von der Tiefe hoch bis zu den Sternen: Tamara Lukasheva im Solo-Recital auf einer malerischen Wasserburg Lüttinghof

„Ich finde es total spannend, was es gibt in der Welt“ – mehr als diesen Satz braucht Tamara Lukasheva nicht, um auf den Punkt zu bringen, was sie will und tut. Kein Konzert mit der ukrainischen Pianistin und Sängerin dürfte wie das andere sein – ein Solo-Recital im malerisch-romantischen Ambiente einer stillen Wasserburg am Nordrand des Ruhrgebiets im Rahmen der Konzertreihe Fine Art Jazz war vielleicht noch eine Spur einzigartiger. Wie auf ihrem neuen vielbeachteten Soloalbum „Gleichung“ stand dabei ihre subjektive Lesart von literarischer Dichtkunst aus mehreren Jahrhunderten im Fokus. Die Skala von tief empfindsamer Melancholie bis zum wagemutigen Experiment war dabei – typisch für Tamara Lukasheva, die in diesem Jahr mit dem Deutschen Jazzpreis im Fach Komposition ausgezeichnet wurde – in jedem Moment nach oben hin offen. Eine leichtfüßige Scat-Improvisation zum Aufwärmen macht auf Anhieb deutlich, was die in Köln lebende Künstlerin auszeichnet: Virtuosen Stimmeinsatz mit faszinierend vielseitigem Klavierspiel zusammen zu bringen – oft so, als würden  hier zwei Musiker und eben nicht nur eine Person agieren. Aber dann geht es schon ans literarisch Eingemachte: Clemens Brentanos zärtlich-trauriges Wiegenlied „Singet Leise“, Balladen von Novalis, …

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Das Gespür für den richtigen Moment: Leo Betzls Klaviertrio erobert den Techno

Text und Fotos von Stefan Pieper. Erst war es für das Münchener Leo-Betzl-Trio nur ein Experiment, mal eine „Techno-Nummer“ ins Programm zu nehmen. Mittlerweile ist ein ganzes Abendprogramm und eine ganze CD daraus hervorgegangen. Und was im Januar beim Jazzfestival Münster noch etwas kammermusikalisch- verhalten vonstatten ging, entfesselt ein knappes Jahr und 40 Liveauftritte später ein gewaltiges Potenzial, das in der Hertener Schwarzkaue Schlägel und Eisen viele Zuhörer von den Stühlen holte – und eintauchen ließ!   In Detroit eroberten DJs leere Fabrikhallen zu den ersten Raves, was man gemeinhin als Geburtsstunde des Techno betrachtet. Fast drei Jahrzehnte später erfolgt im Rahmen der Konzertreihe Fine Art Jazz in Herten eine „Eroberung“ aus gegensätzlicher Richtung. Wieder findet Techno in Reinkultur statt. Unerschütterlich pulsiert der Vierviertel-Beat. Songstrukturen haben hier nichts verloren. Tiefe Subbässe wabern, hämmernde Snaredrum-Synkopen funken im richtigen Moment dazwischen, ebenso allerhand andere, meist abstrakte Klangereignisse oder aufs absolute Minimum reduzierte melodische Figuren. Denn der richtige Moment, die kluge, treffsichere Dosierung ist alles, damit treibende Magie entsteht. Und genau daraus ergibt sich die Schnittstelle für den Schlagzeuger Sebastian Wolfsburger, den Pianisten Leo Betzl und Maximilian Hirning, …

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Enthoben und entrückt: Jörg Brinkmann Trio auf dem Gelsenkirchener Nordsternturm

Text und Fotos von Stefan Pieper. Weit reicht der Blick vom Gelsenkirchener Nordsternturm über das Ruhrgebiet. Lichter funkeln – und einige letzte Stahlwerke und Fabriken schicken vereinzelte Feuerstöße in den Nachthimmel. Die mächtigen Stahlräder im Maschinenhaus, welche einst die Aufzüge in die Tiefe der Schächte entließen, stehen heute still. Das Maschinenhaus ist heute eine spektakuläre Musikspielstätte, welche durch die Konzertreihe „Fine Art Jazz“ für den Jazz erschlossen wurde – an diesem Abend fühlt sich das Trio um den Cellisten Jörg Brinkmann in einem solchen Umfeld sichtlich wohl. Brinkmann, der heute in Bochum lebt, wollte im Alter von 15 Jahren nicht einfach nur die Kompositionen anderer, meist toter Komponisten nachspielen. Infiziert von Rock und Blues begann er, über harmonische Schemata zu improvisieren. Die Initialzündung wirkte nachhaltig: Heute spielt er so ganz das, was ihm die eigene innere Stimme sagt – und das hat ihn zum wohl prominentesten Crossover-Jazz-Cellisten im Lande werden lassen. Er verleugnet seine klassische Prägung dabei in keinem Moment. Sein Ton, den er auf seinem über 200 Jahre alten Instrument erzeugt, wirkt mächtig geerdet und berührt tief. Auch und vor allem, wenn Brinkmanns Spiel …

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