Auf Sicht in die Zukunft fahren – Das außergewöhnliche „Look Into The Future III“-Festival in Burghausen

Einen viel aktuelleren Festivaltitel kann man derzeit wohl kaum finden als „Look Into The Future“. So nennen die Brüder Johannes Tonio und Cornelius Claudio Kreusch das seit drei Jahren von ihnen für die Stadt Burghausen kuratierte Format, das aktuelle Musik aus allen Genres mit anderen Kunstgattungen im eindrucksvollen Ambiente des Klosters Raitenhaslach zusammenspannen und nach dem wegweisenden Stand kreativen Denkens befragen soll. Schon, dass das Festival nun statt an Pfingsten als Rumpfveranstaltung im August mit allen derzeit nötigen Einschränkungen stattfand, lenkte den Fokus verstärkt auf die Rahmenbedingungen musikalischer und künstlerischer Betätigung. Und wie unter einem Brennglas wurde bei allen fünf Veranstaltungen – nicht zu vergessen die anschließenden Künstlergespräche des Elbphilharmonie-Pressesprechers Tom R. Schulz, die mit den sich dabei ergebenden Porträts und Innensichten der Künstler einen entscheidenden Unterschied zu anderen Festivals ausmachen – deutlich, wie entscheidend das Verhältnis ist zwischen dem Erbe der Vergangenheit, dem Weg, den die Künstler dank ihres Talents finden, es in die Gegenwart zu transportieren, und den Möglichkeiten der Rezeption, die mitentscheiden, ob er in die Zukunft führt.

Am sinnfälligsten war dies vielleicht beim letzten Programmpunkt am Sonntagmittag im Anker Filmtheater (einem Fünfzigerjahre-Juwel), als Frank-Martin Strauß alias FM Einheit die herausragende Reihe eigens fürs „Look Into The Future“ beauftragter Stummfilmvertonungen fortsetzte. Der dank vieler Hörspiele und Filmmusiken einschlägig erfahrene Einstürzende Neubauten-Elektronik-Avantgardist katapultierte den lange unter Verschluss gehaltenen sowjetischen Science-Fiction-Stummfilm „Die kosmische Reise“ von Vasily Zhuravlyov aus dem Jahr 1936 ins Zeitlose. Die sich gewissermaßen im Zeitstrom widersprechenden Elemente dieser Mondreise – einerseits die damals schon völlig anachronistische Verfilmung als Stummfilm, anderseits die revolutionäre Tricktechnik, hier das propagandistische Leitbild des neuen sowjetischen Menschen, dort ewige Tugenden wie Liebe, Treue und der Ausgleich der Generationen – verdichteten sich durch FM Einheits Score zum eigenständigen Kunstwerk, gerade weil auch dort Gegensätze harmonisch ineinandergriffen: Der futuristische, hart pochende, auf mehreren Leitmotiven fußende sinfonisch-elektronische Sounduntergrund, den FM Einheit in zweiwöchiger Arbeit („ich habe den Film insgesamt sicher gut 50 Mal gesehen“) als Tonspur unterlegt hatte, und die Live-Improvisationen an seinem archaischen Instrumentarium mit Stahlfedern und Steinen.

So unterschiedlich alle Künstler waren, in diesem auf das Hier und Jetzt konzentrierten Ansatz ähnelten sie sich, unabhängig von ihrem Genre fast alle mit dem Element der Improvisation, also dem Jazz-Spirit. Ob die Flamenco-Tänzerin Ana Morales, die so einen modernen Ausdruck für ihre zwischen rigiden traditionellen Regeln und höchster Individualität pendelnden Kunstform fand; etwa indem sie die männliche Flamenco-Rolle ebenso stark ausspielte wie die weibliche oder indem sie die Kostüme auf der Bühne wechselte, um die Dramaturgie nicht zu brechen. Ob der Cello-Magier Vincent Segal, der alle denkbaren Musikstile nicht nur technisch erlernt, sondern so sehr verinnerlicht hat, dass er sie auch in einer Konzert-Lotterie – von 80 möglichen Stichworten ließ er zwölf von „Salsa“ und „Reggae“ bis zu „Tschaikowski“ und „Miles Davis“ ziehen – authentisch spielen kann. Oder ob sein kaum minder eklektischer Bumcello-Partner Cyril Atef, der als Papatef ein sensationelles DJ-Set mit Schlagzeug hinlegte, einen wilden mitreißenden Mix von Dub- und Breakbeats über afrikanische oder haitianische Rhythmen bis zu Maestro-Samples oder Jazz-Einsprengseln, dem in Burghausen nur das passende Publikum fehlte. Einzig von der Neuen-Volksmusik-Veteranin Zabine und ihrem Mix aus Hubert-von-Goisern-Titeln, angejodelten Standards (ihrem allzubraven „Summertime“ fehlte eine freche Zutat am dringendsten) und neuen Songs war man nicht wirklich überzeugt. Wohl vor allem, weil nach ihrer langen, der TV- und Tanz-Karriere geschuldeten Musik-Abstinenz die alte stimmliche Wucht und Präzision fehlte. Aber auch, weil man ihrem Begleit-Quintett anmerkte, dass es so zum ersten Mal überhaupt zusammenspielte.

Ausnahmslos allen Künstlern aber merkte man die Freunde an, meist nach längerer Zeit wieder vor Publikum auftreten zu können, zugleich auch die Verzweiflung über die neue Rarität und Flüchtigkeit dieses Urgrundes ihres Metiers. Wie sagte FM Einheit doch quasi als Schlusswort ziemlich resigniert: „Man kann derzeit überhaupt nichts planen. Wir fahren alle auf Sicht.“ Dass aber auch das funktionieren und elementare, weil bewegende und erhebende Momente freisetzen kann, das bewies sein Auftritt wie das gesamte Festival.

Text und Fotos: Oliver Hochkeppel

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