Unverblümt eskalierende Koloraturen

Vor nicht zu langer Zeit gab es in jeder deutschen Kleinstadt einen des Schreibens kundigen Jazzfan – im Zivilberuf Oberstudienrat oder Rathausbeamter –, der fürs Lokalblatt die örtlichen Jazzkonzerte besuchte. Dieser gute Mann kannte sich aus: Er wusste, dass Stan Getz kein Sänger war und Billie Holiday kein Kerl. Er konnte sogar ein Sopransaxophon von einer Klarinette unterscheiden. Doch dieser historische Typus des lokaljournalistischen, kleinstädtischen, verbeamteten Jazzfans ist akut vom Aussterben bedroht. Heute schicken die Lokalblätter zu Jazzkonzerten meist die hübsche Redaktionspraktikantin – jung, charmant, ehrgeizig und voller Fantasie! Wie öde erscheint uns nun plötzlich der jazzelnde Oberstudienrat von einst! Die Jazzkonzert-Berichterstattung erlebt derzeit einen Quantensprung. Beispiel: das Johannes Enders Trio im Oktober 2011 im oberbayerischen Städtchen W. Laut Konzertkritikerin Nr. 1 handelte es sich da um „coolen Jazz“, sogar um „Cooljazz“, gleichzeitig aber auch um „die härtere Version des klassischen Bebops“ sowie um eine „superschnelle Mischung aus Hardbop, Soul und Blues“. Auch Konzertkritikerin Nr. 2 hörte sowohl „schwerelosen Cooljazz“ als auch „Cooljazz mit erdigen Grooves“, zudem aber eine „Mixtur aus klassischem Hardbop und NuJazz“. Zu derartig feinnervig-dialektisch differenziertem Stilempfinden waren die hausbackenen Jazzbeamten von …

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Verrelevanzt

Verliert Jazz an Relevanz, wenn der Pianist Jens Thomas die Rockband AC/DC covert? Und gewinnt Jazz plötzlich seine Relevanz zurück, wenn die Feuilletons über ihn schreiben? Verliert Jazz an Relevanz, wenn sein Publikum altert? Und gewinnt er an Relevanz, wenn die Werbehauptzielgruppe mit einem Mal Melody Gardot entdeckt? Besitzt denn diese Frage nach der Relevanz des Jazz überhaupt irgendeine Relevanz? Und wenn ja: Kann sie die auch wieder verlieren wie der Jazz die seine? Oder zurückgewinnen? Wie relevant sind im Vergleich zum Jazz – sagen wir mal – fröhliche Bastelarbeiten? Bastelarbeiten finden jahrein, jahraus statt, hunderttausendfach, in deutschen Kindergärten, Adventsvorbereitungszirkeln, Handarbeitskursen, Justizvollzugsanstalten, die kommen nie aus der Mode. Gewinnen Bastelarbeiten aber an Relevanz, wenn die Feuilletons beginnen sollten, über sie zu diskutieren? Verlieren sie an Relevanz, falls plötzlich statt Adventsschmuck Papierfaltfrösche zum Bastel-Renner werden? Ist Relevanz eine Art Betriebsbilanz? Eine Wahrhaftigkeitsinstanz? Ein schöner Silberglanz? Ein neuer Modetanz? Hat Redundanz Signifikanz?

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Johannes Faber – Abschied vom Gärtnerplatz

Nach 12 Jahren geht in der laufenden Spielzeit die Konzertreihe „Jazz im Gärtnerplatz“ zu Ende. Das Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz gibt mit der vom Trompeter Johannes Faber gestalteten Reihe ein festes Programmelement mit Seltenheitswert an einem staatlichen Opernhaus auf. Viele internationale Schwergewichte konnte Faber in das kleinere der beiden Münchner Staatstheater locken, das einen wesentlich intimeren Rahmen bot, als die großen Festivalbühnen, auf denen man Abdullah Ibrahim, Herbie Hancock oder Ron Carter sonst bewundern kann. Besonders waren in dieser Hinsicht auch die Jamsessions, die in der Kantine oder im Foyer des Theaters das ein oder andere Konzert zu einem wunderbaren Abschluss brachten. Ein Gag am Ende jedes Konzerts war der Auftritt von Faber selbst, der nicht nur alle Abende moderierte, sondern auch als musikalischer Gast immer wenigstens einen Song mitspielte. Faber dürfte wohl einer von ganz wenigen Konzertveranstaltern gewesen sein, bei denen sich die Musiker so etwas gefallen lassen. Auch das Neujahrskonzert der Allotria Jazzband gehörte seit immerhin elf Jahren zu Jazz im Gärtnerplatz. Nach 65 Konzerten ist nun vorerst Schluss. Das Theater schließt in der kommenden Saison für umfangreiche Sanierungsarbeiten. Ob der Jazz danach …

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102 Jahre Django Reinhardt

Heute hätte Django Reinhardt seinen 102. Geburtstag. Leider war Django nicht so robust wie Jopie Heesters und starb bereits mit 43 Jahren. Claus Lochbihler hat in der FAZ vor zwei Jahren zum 100. an den alten Meister erinnert. Auch heute noch lesenwert… Ein Jazz für die Ewigkeit – von Claus Lochbihler, FAZ 23.01.2010       Links: http://en.wikipedia.org/wiki/Django_Reinhardt

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Der Barpianist

Am 27. Dezember 2011 zitierte Karl Lippegaus in der Süddeutschen Zeitung einen angeblichen (und anonymen) Besucher des Jazzfests Berlin. Der soll Folgendes gesagt haben: „Dass ein eher barpianistisch ausgerichteter Finne einen Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik bekommen kann, ist nicht mehr nachvollziehbar.“ Der zitierte Jazzfest-Besucher wertete diese Preisentscheidung als Hinweis darauf, dass es im Jazz keinen „Point of Reference“ mehr gebe. In der Tat wackeln in der Jazzwelt die Maßstäbe und Orientierungen. Bestes Beispiel dafür ist, dass ein informierter Jazzfest-Besucher – womöglich ein Jazzkenner – offenbar nicht mehr den Unterschied zwischen Iiro Rantala und einem Barpianisten zu erkennen vermag und dass ein Karl Lippegaus – bekanntlich ein Jazzkenner – das anonyme Zitat in einer großen Tageszeitung verbreitet, ohne ihm zu widersprechen. Iiro Rantala, der fast 20 Jahre lang das finnische Trio Töykeät leitete, ist dem Klavierkritikergeraune vom tiefgründigen Harmonisieren, bedeutenden Balladieren, ekstatischen Meditieren und sparsamen Melancholisieren nie auf den Leim gegangen. Er liebt es vielmehr, spontan, virtuos, vital, lustvoll, humorvoll und intelligent mit Tönen, Phrasen und Rhythmen zu spielen. Sollte dies ausreichend  sein, um als Bar- oder Bistropianist zu gelten, so befindet er sich jedenfalls in …

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Jazz-Redakteurin Cooks – Teil 4: Steinpilz-Risotto mit Jakobsmuscheln

Herbstzeit ist Steinpilzzeit: wer jetzt keine frischen mehr bekommt, kann auch getrocknete benutzen, die müssen aber vor dem Anbraten ca. 30 Minuten in warmem Wasser eingeweicht werden. Für 4 Personen braucht man also ca. 200 g Arborio- oder anderen Risottoreis, 50 g Butter, Olivenöl, eine Zwiebel oder drei kleine Schalotten, 500 ml heiße Gemüsebrühe, 1 Glas Weißwein, eine handvoll getrockneter Steinpilze, 100 g Parmesan gerieben, pro Person zwei Jakobsmuscheln Uns so geht’s: Butter und etwas Öl in einem Topf mit dickem Boden erhitzen, dann klein gewürfelte Zwiebel/Schalotten darin glasig dünsten, Reis dazu und ebenfalls anbraten. Mit Weißwein ablöschen, und dann heißt es rühren, rühren, rühren. Die Kunst ist es, immer wieder genügend aber auch nicht zu viel von der heißen Brühe dazu zu geben und wieder so lange zu rühren, bis die Flüssigkeit aufgesogen ist. Währenddessen, die klein geschnittenen Steinpilze kurz in Öl oder Butter anbraten und mit etwas Petersilie oder anderen Kräutern und Salz und Pfeffer würzen. Ist der Risotto fertig gegart (probieren, dauert ca. 15 Minuten!), Parmesan und die Steinpilze unterrühren und gegebenfalls mit Salz und Pfeffer nachwürzen. Mit den in der Grillpfanne …

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Die Ansage

Liebe Jazzmusiker, wir verstehen euch ja: Jazz macht Mühe. Da hat man endlich einen Gig ergattert, steht auf der Bühne und alles soll klappen. Die Tempi sollen stimmen, die Einsätze, das Saxophonblättchen soll nicht quietschen, die Musik muss nach vorne losgehen. Und ein paar originelle Ideen in der Improvisation wären auch nicht schlecht. Klar, dass man dann zwischen den Stücken nicht auch noch den Bühnenkasper machen kann oder den plaudernden Conférencier. „Danke. Das nächste Stück ist auch von mir“ – das muss reichen. Der Stücktitel fällt einem in der Aufregung sowieso nicht ein und eine Bedeutung hat er ja eh nicht. Vielleicht könnte man rasch etwas über die Entstehung des Stücks erzählen, über die Idee der Komposition, über die Erfahrungen mit diesem Stück? Dafür allerdings hätte man sich vorher ein paar Stichwörter notieren müssen, aber dafür ist halt nie Zeit. Anreise, Hotel, Soundcheck, die Tempi sollen stimmen, die Einsätze, die Musik muss nach vorne losgehen. Und sie wird wohl auch weiterhin ganz allein für sich selbst sprechen müssen.

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Jazz, Tote und jede Menge Rotwein…

Das neue Frankfurter Ermittler-Duo im hessischen Tatort, Steier und Mey, löst heute abend (20.11.11; 20.15 Uhr, ARD) seinen zweiten Fall. Dabei geht es dank der musikalischen Vorliebe des von Joachim Król gespielten, saufenden Kommissars Steier jazzig zu. „Sex, Suff und pumpende Bläsersätze“ resümiert der SPON-Artikel über den Auftritt des neuen Tatort-Teams. Gehört sich ja auch irgendwie für einen Frankfurter Kommissar. Die Liebe zum Jazz, nicht das Saufen… Infos zur Sendung (Quelle: HR): „Der Tote im Nachtzug“ ist der zweite Tatort-Fall des neuen hr-Kommissarteams Conny Mey und Frank Steier alias Nina Kunzendorf und Joachim Król. Der Hessische Rundfunk (hr) zeigt den TV-Krimi am Sonntag, 20. November, um 20.15 Uhr im Ersten. Lars Kraume schrieb das Drehbuch, das auf einem authentischen Fall aus dem Buch „Auf der Spur des Bösen“ des Kriminalkommissars und Tatort-Analytikers Axel Petermann basiert. Kraume führte – wie schon beim ersten Fall – auch Regie. Zum Inhalt: Conny Mey wird früh morgens – noch in Joggingkleidung – zum Bahnhof beordert. Im Nachtzug aus Warschau wurde eine blutüberströmte Leiche mit Schusswunde gefunden, ein Verdächtiger ist beim Eintreffen der Polizei geflohen. Frank Steier, nach einer Stichverletzung …

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Jazz in Berlin (4)

Es ist noch nicht lange her, da strömten Jazzmusiker von überall her, um hinfort in der Hauptstadt zu leben. Umbruch! Aufbruch!! Experiment!!! In geschätzten 200 Clubs konnte man Tag und Nacht performen, mal mit zwei Schlagzeugern, mal mit drei DJs, lauter Überraschungs-Gigs mit Überraschungs-Gästen – und 30 Euro Gage gab’s auch noch! Heute – so habe ich mir im Schwarzen Café in der Kantstraße erzählen lassen – muss man einen Überraschungs-Gig schon ein halbes Jahr vorher anmelden, die Wartelisten für interessierte Musiker sind ellenlang. Gagen gelten in Berliner Clubs schon seit einer Weile als uncool, also spielt man auf Eintritt. Eintrittsgelder gelten aber inzwischen auch als uncool, also lässt man nur noch den Hut rumgehen. Die Tendenz ist klar: Bald ist der Hut uncool und die Musiker müssen dafür bezahlen, dass sie überhaupt spielen dürfen. Die typische Ansage nach der Pause lautet jetzt schon: „Danke, dass ihr noch nicht gegangen seid.“ Dann sind die 15 Zuhörer immer ganz stolz auf sich.

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