Lars Seniuk [New Geman Art Orchestra]: Pendulum (Mons Records)

Lars Seniuk.
Lars Seniuk.

Was man nicht alles schon über Lars Seniuk lesen konnte. Jung, dynamisch, virtuos. Und man kann es jetzt auch hören. Er hat um sich herum eine Musikertruppe versammelt, die er unter dem Namen „New German Art Orchestra“ auftreten lässt. Und ihnen zur Aufgabe gemacht hat er, seine Stücke, die unter dem Albumnamen „Pendulum“ firmieren, einzuspielen.

Ist es überhaupt ein „Orchestra“? Jein. Es sind viele Musiker, zusammen ergeben sie das, was man heute unter BigBand versteht. Bläsersätze mit Rhythmusgruppe eben. Die Bezeichnung „Art Orchestra“ ist mehr als ein Label, es zeigt an, wohin die musikalische Reise gehen soll – in die Kunstmusik. Die Mannschaft (es sind nur Männer), die aus hochvirtuosen jungen Leuten sich rekrutiert, ist definitiv der Kunst(-Musik) verpflichtet. Die Tradition ist da unnachgiebig: Jazz Composers Orchestra, Art Ensemble (of Chicago), (Vienna) Art Ensemble … BigBands mit neuen Tönen finden sich zuhauf: Da ist Stefan Schultze ebenso dabei wie Monika Roscher mit ihrer Band. Eine der beiden CDs des BuJazzO zum 25-jährigen Jubiläum ist gefüllt mit neuen Arrangements. BigBand wird zu einem eigenen Instrument. Es geht also um Komposition und es geht um Improvisation und es geht auch um Jazz. Eine harte Nuss. Und im Zentrum: Lars Seniuk, ein Trompeter, der Jazz und Komposition studiert hat – der aber seine Wurzeln deutlich im Jazz hat; dem aber Techniken aus der klassischen neuen Musik hörbar geläufig sind.

Das merkt man! Grundsätzlich ist die rhythmische Struktur der Stücke der Platte „Pendulum“ jazzaffin, die Arrangements, besser: die Kompositionen selbst sind dagegen durch den melodischen und harmonischen Wolf gedreht. Jedes Stück auf eigene „Art“ und Weise.

Lars, the progressive

Nehmen wir das erste Stück: „Der Wichsfrosch und sein Adjutant“. Das tritt in den Raum wie bester BigBand-Bläsersatz mit hochtönender Trompete. Unterhalb dessen finden sich aber Elemente, wie man sie aus motivisch-thematischer Arbeit im alten Sinne kennt. Das alte Wechselnotenspiel um den sich der Rest zu ranken scheint, immer auch gerne im Schwerpunkt verlagert. Da hinten hinein kommen dann Bläsersatzblitze.

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Das ist doch nicht anders als bei Brahms, dem Fortschrittlichen! Auch ein Hamburger. Wahrscheinlich wird Lars Seniuk darüber schmunzeln, aber komm, es ist so. Und es ist nicht schlecht. Zumal es im Jazz ja etwas Ungewöhnliches und Erfrischendes bedeutet.

Cluster, auch rhythmisch

Geht man auf Kunststufe 2, also zum zweiten Track „Prometheus“, landet man beispielsweise in einer Cluster- und Rhythmus-Orgie. Schwankende Pulse darin, ein Zickzack an Satz. Man wird schon ganz unruhig dabei. Immer auch, wenn es die prästabilisierte Ordnung unterminiert. Nichts für nebenbei, aufwühlend. Und es bleibt dabei nicht.

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Auch die Ordnungsstruktur Dynamik wird ergriffen, bis zu Rückwärtsklang-Effekten. Also, wenn man daraus, anders als beim Prometheus der griechischen Mythologie, mehr als einen Tonklumpen macht: sehr gerne. Fast schon komisch, dass das Stück dann im Einklang nach einem extremen Vielklang endet. Vielleicht denke und höre ich das ja zu simpel.

In „The End Of Something Special“, der dritten Nummer, dann endlich eine Art wohltuende Leere, etwas balladesk. Die Ökonomie der kompositorischen Arbeit ist gleichwohl ähnlich zu spüren. Hier ist es ein Viertonmotiv, in allen Varianten musikalischer Arbeit. Den Lesern dieses Textes mag das jetzt arg „verkopft“ vorkommen. Aber wir hören hier eben dann doch keine Partitur, sondern ein Ensemble von Jazzmusikern, die sich in diesen tragenden Wänden der Komposition so luftig frei bewegen. Und sie sind trotzdem als Bewohner des Hauses wahrzunehmen und nicht als dessen Ausräumtruppe. So beispielsweise auch Lutz Büchner in dieser Nummer am Tenorsaxophon. Leider zu kurz!

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Mikrotonales und verminderte Quinten

Bei Track 4 „Narziss“ gibt es ein Solo des Altsaxophonisten Philipp Gerschlauer, das im mikrotonalen Bereich genudelt wird – und man möge das nudeln nicht als Kritik missverstehen. Mikrotonale Elemente lassen sich in solch einer Umgebung am besten im schrittweisen melodischen Zusammenhang darstellen.

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Die Schwierigkeit dabei liegt akustisch auf der Hand: Man muss Mikrotonalität dezidiert von schmutzigen Tönen trennen; und was dann noch schwieriger ist, diesen Schmutz in der Mikrotonalität auch wieder nicht nur zulassen, sondern auch darstellen können. Was im ersten Stück als diastematisch um die Sekunden drehend sich darstellt, wird hier am Ende am Extremintervall (im Verständnis der Pitchclass-Sets) der verminderten Quinte exemplifiziert. So gesehen treffen das größte Intervall auf das entsprechend kleinste. Ein Prozess des Herausschälens geht dem voraus mit massivem Einsatz des Intervalls der kleinen und großen Terz. Diese werden im Verlauf gedehnt und gestaucht. Rhythmische Muster tauchen im Verlauf ganz unscheinbar auf, bis sie am Ende des Stücks frei liegen, es dominieren.

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„Perceptions Of Reality“ (Track 5) folgt, und ist eine wunderbare vor sich hin fließende Musik geworden. Dies erreicht Seniuk über sich durchschlingende Linien der Einzelinstrumente wie der Instrumentengruppen. Und es mäandert schließlich immer auf den Punkt hin, der als Klang ebenso schließt wie öffnet.

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Ein Stück zum Wegtauchen, das so gut funktioniert, weil es so materialkompositorisch durchdrungen ist, wie bei einem vielflächig geschliffenen Glaskubus. Darin eingeschlossen kleine umlenkende Kristall-Stückchen.

„Freuds Delight“ (Track 6) spielt unter anderem mit fallenden, wiederholten Septen und Sekunden, mit auf fünf Töne geschmolzenen Ganztonreihen, rhythmischen Verlagerungen und Tempo-Schichtungen. Aber manchmal wirken lockere Klangsubstanz und pressierte Komposition einander entgegen. Da klemmt es wie bei einem Witz, der über seine Pointe strauchelt, stolpert und sich überschlägt.

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Im letzten Stück „Goldmund“ schließlich schließt sich die Lücke zur Tradition. Au Year! Alte BigBand-Idiome werden in geradezu tanzbarer (Walzereinschübe) Weise über einer Blues-Struktur zusammengeknetet. Ein Sache, die nicht so einfach zu haben ist, wie die Arbeit am abstrakten Tonmaterial. Endet fast ernüchternd auf einem Unisono-Ton. Und weg ist die Musik.

Kosmos der Vitalität

„Pendulum“ ist etwas anderes, als es im Begleittext beschrieben wird. Nicht die Ausschläge des Pendels an ihren Extremen und dessen Ruhe nach dem kompletten Verlust der Energie durch Reibung dürften zur Vorlage gedient haben, sondern eine Art Material-Kosmos, nicht intergalaktischer und auch nicht mikroskopischer Struktur, Kosmos der Vitalität und seiner Bedrohung. Musikmachen in dieser Form ist Risiko – auch unkalkulierbares. Manchmal scheint es so, dass dabei Seniuk sich zu viel zumutet, also mal mit dem einen oder anderen Ball zu viel jongliert. Doch selbst das ist beeindruckend und nimmt einen dann gefangen. Man kann da nicht weggucken, wie man bei Seniuk und seinem „New German Art Orchestra“ nicht weghören kann.

Für die Zukunft wünschte man Seniuk gleichwohl ein bisschen mehr Lösung statt Problem. Seine Musiker allesamt haben Energie und Fertigkeit genug, um auch mal etwas mehr loszulassen, und als Losgelassene den komponierten Raum auszukleiden. Das hat man live dann anders gehört.

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Dann könnte die Synthese aus durchkomponierter und durchimprovisierter Musik noch besser gelingen. Seniuk ist weit auf diesem Weg voran, aber sicher nicht am Ende angelangt.

„Pendulum“ haut einem um, nimmt einen gefangen, man kann es perspektivisch-hörend ausloten und wird immer wieder etwas Neues entdecken. Das Pendel kommt nicht zur Ruhe.

Die Musiker des „New German Art Orchestra“

New German Art Orchestra
New German Art Orchestra

Saxophon: Philipp Gerschlauer (Altsaxophon, Sopransaxophon, Flöte), Eldar Tsalikov (Altsaxophon, Flöte), Lutz Büchner (Tenorsaxophon, Flöte), Finn Wiesner (Tenorsaxophon, Klarinette), Florian Leuschner (Baritonsaxophon, Bassklarinette, Klarinette)
Trompete und Flügelhorn: Felix Meyer, Nicolas Boysen, Torsten Maaß, Stephan Meinberg
Posaune: Torben Seniuk, Dan Gottshall/Tim Hepburn , Sebastian Hoffmann, Robert Hedemann
Rhythmusgruppe: Boris Netsvetaev (Piano), Sebastian Böhlen (Gitarre), Matthias Eichhorn (Kontrabass), Silvan Strauß (Schlagzeug)

Links:


PS: Musikbeispiele mit freundlicher Erlaubnis von Lars Seniuk

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