Wenn Frank „Ol’ Blue Eyes“ Sinatra einen Evergreen anstimmte, konnte man sicher sein, von Anfang bis Ende mitsummen oder im Kopf Zeile für Zeile den Text und Note für Note die Text mitsingen zu können. Stimmt dagegen ein Jazzmusikant einen Evergreen an, der im Jazzbereich – englisch gesprochen – Standard heißt, kann man davon ausgehen, diesen noch nie gehört zu haben.
von Michael Scheiner
Jedenfalls nicht in der Originalfassung, wie ein solcher Song erstmals in einem Musical oder Film gespielt wurde. Zuhörer konnten das hautnah beim Konzert von Lorenz Kellhubers Bandprojekt „Standard Experience“ im Neuhaussaal erleben. Der Pianist und Hochschulprofessor meinte zwar in seiner Begrüßung, dass sie „jetzt vier Stunden ohne Pause für Sie spielen“. Als er sah, wie der eine oder andere innerlich zusammenzuckte, schob er grinsend hinterher, dass das ein Insider-Witz sei.
Statt 240 gab es in der Realität eines lauen Spätsommerabends dann 105 Minuten, eingerechnet einer vehement eingeforderten Zugabe – „Autumn Leaves“. Kellhuber, der bereits mehrfach in Regensburg mit einem Trio auftrat, ist für lange frei improvisierte Stücke bekannt, die er aus dem Stehgreif mit seinen Partnern kreiert. Dieses Mal spielte er mit einem neuen Trio Standards aus dem Great American Songbook, wie schon im Bandnamen angekündigt. Wer jetzt glaubte, sich zurücklehnen und entspannt altbekannte Melodien genießen zu können, den belehrte schon die erste Nummer „Stella by Starlight“ eines Andere.
„Standard Experience“ haucht bekannten Jazzsongs neues berauschendes Leben ein
In „You and the night and the music“ von 1934 spielte der als „special guest“ vorgestellte Saxofonist Seamus Blake das Thema auf seinem Horn in leicht modulierter Form an, bevor er mit einer expressiven Improvisation davon flog. Was dann aber im lichten Solo von Kellhuber am Flügel und den beiden Begleitern folgte, hatte mit dem Song nur mehr wenig zu tun. Während sich der in bunten Socken spielende Joe Sanders am Bass und Jesse Simpson, Schlagzeug, auf eine zurückhaltende, fein swingende Begleitung beschränkten, loteten die beiden Solisten immer entferntere Ecken aus. Im letzten Teil griffen die Musiker eine bekannte Form mit mehreren Takten am Schlagzeug und Antworten von einem der anderen Instrumenten auf. Das Tenorsax kehrte am Schluss zum Thema zurück.
Blake erwies sich als ausdrucksstarker Solist, dem selbst über lange Strecken nie die Ideen ausgehen. Zugleich beeindruckte er im Zusammenspiel durch nuancierte Klangfärbungen und eine weiche Empfindsamkeit, die der Band eine intensive Wärme verlieh. Die Einleitung zum bluesigen „How insensitive“ gestaltete Sanders ruhig, umrahmt von Simpsons kaum wahrnehmbaren, hauchzarten Besen-Spiel. In einigen Soloparts allerdings machte er mit trockenen Schlägen und dynamischer Attacke deutlich, dass er mit Hand und Fuß im Hier und Heute steht. Ähnliches gilt für seinen Kollegen, der aber am Bass deutlich präsenter war und wie bei „Body And Soul“ auch mal die wichtigen Wegmarken setzte. Und schließlich Kellhubers ausgreifende Improvisationen, die er oftmals über einem einfachen Ostinato beginnt: Wie sein freies Spiel sind sie ein hochgradiger Genuss, ein in unglaublichen Windungen sprudelnder Quell an Ideen, berauschend und zugleich erfüllend.