Saxophonist, Autor, Dozent und Gründer: Zum Tod der bayerischen Jazzlegende Joe Viera

Heute, am Sonntag, den 7. April, ist der Saxophonist, Arrangeur, Lehrer und Autor Joe Viera im Alter von 91 Jahren verstorben.

Er hat die deutsche Jazzszene nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich mitgeprägt: der studierte Münchner Physiker Joe Viera. Joe Viera ist einer der Gründer des bekannten internationalen Festivals in Burghausen, wo er seit 40 Jahren auch Kurse für Jazzmusiker veranstaltet. Da es in den 50ern im Jazzbereich so gut wie keine Lehrwerke auf Deutsch gab, verfasste er sie kurzer Hand selber.

Er war Mitbegründer der Internationalen Jazz-Föderation und der Union Deutscher Jazzmusiker (ab 1988 erster Vorsitzender).  Gemeinsam mit Helmut Viertl begründete er 1970 die Internationale Jazzwoche Burghausen, deren künstlerischer Leiter er bis zu seinem Tod war.

Im Jahr 1993 gründete er gemeinsam mit dem damaligen Referatsleiter Musik an der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen, Walter A. Neubeck, die Lehrer Big Band Bayern (LBB Bayern), als deren musikalischer Leiter er bis Ende 2000 fungierte. Er nahm mit diesem Ensemble mehrere CDs auf. Unser Titelbild von Andreas Kolb zeigt Joe Viera zusammen mit dem jungen Julian Wasserfuhr.

Im Jahr 2012 traf Ursula Gaisa den Musiker anlässlich seines 80. Geburtstages (am 4. September) in seinem Häuschen in einer ruhigen Ecke in Schwabing. Im Folgenden das Gespräch der beiden für nmz.de im Wortlaut.

Stichwort Burghausen

Seit über 40 Jahren pilgern Jazzfans aus ganz Deutschland und den Nachbarländern zur Internationalen Jazzwoche Burghausen. Alles, was in der internationalen Jazz-Szene Rang und Namen hat, war dort zu Gast: Ella Fitzgerald, Count Basie, Michel Petrucciani, Albert Mangelsdorff, Chet Baker, um nur einige zu nennen. Begleitend dazu finden auf dem Mautnerschloss fast genauso lang hochrangig besetzte Kurse unter Ihrer Gesamtleitung statt. Wie kam es dazu und warum passiert das alles im kleinen Burghausen und nicht in München?

Die Kurse habe ich allein gegründet, das Festival zusammen mit Helmut Viertel. Der stammt aus Neumarkt in der Oberpfalz und hat seine Ausbildung als Gerichtsvollzieher in Neuburg an der Donau absolviert, hat dort Ende der 50er-Jahre einen Jazzclub gegründet und anschließend in Burghausen seine erste Stelle angetreten, Anfang der 60er-Jahre. Dort hat er wieder einen Jazzclub gegründet und mich im Oktober 1969 zu einem Vortrag eingeladen. Er kannte mich vom Namen her, ich kannte ihn nicht. Aber am nächsten Tag, auf der Fahrt zum Bahnhof, da habe ich dann auch meinen Zug versäumt, sind wir ins Reden gekommen und ich habe gemerkt, da ist einer, der möchte gerne mehr machen und weiß nicht recht wie. Und damals gab es ja so eine Aufbruchsstimmung, Stichwort 68er. Da hab ich mir gedacht, es wäre doch mal interessant, an so einem Ort bei Null anzufangen.

Also haben wir genau da noch – in seinem alten VW, vor dem alten Bahnhof von Burghausen – beschlossen, wir machen das erste Festival im März. Ich habe März vorgeschlagen, weil da sonst nirgendwo was los war in Europa. Ich kannte damals schon viele Festivals, zum Teil habe ich darüber geschrieben, zum Teil bin ich dort aufgetreten, so wusste ich, was wir besser nicht machen sollten: also kein Open Air und kein Zelt, sondern ganz normal in einem geschlossenen Raum. Und fünf Tage, weil zwei Tage sind kein Festival, das muss schon länger sein. Dann haben wir also, eigentlich komplett ohne Mittel, nur mit dem Stadtsaal, den uns der damalige Bürgermeister Georg Miesgang umsonst zur Verfügung gestellt hat – das wurde dann der Dritte im Bunde – angefangen. Und dann schrittweise weiter aufgebaut. 1975 hatten wir den ersten Knaller mit Oscar Peterson und Joe Pass. Da sind die Leute bis von München gekommen und haben sich gewundert, warum das in Burghausen passiert und die zwei nicht in München auftreten.

Im gleichen Jahr haben wir für ein Stadtfest die Count Basie Bigband geholt. Das war natürlich finanziell ein riskantes Unternehmen, aber die Stadt hat gesagt: „Wir helfen euch schon, wenn es Probleme gibt.“ Also haben wir für ein Doppelkonzert die Basie-Band und Ella Fitzgerald mit Trio geholt – damit waren wir auf der Jazzlandkarte. Das Fernsehen ist dann 1979 eingestiegen, der Rundfunk war mit „Jazz auf Reisen“ gleich von Anfang an dabei. Die Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Fernsehen, die war ideal. Als das dann auf Bayern Alpha überging und wir plötzlich einen Sendetermin am Sonntagabend zur besten Sendezeit bekamen, davon konnte man früher nur träumen… Aber das hat sich einfach so entwickelt, und in Burghausen ist ein ganz besonderer Teamgeist entstanden, der auch ganz wichtig ist.  Inzwischen haben wir über 50 Mitarbeiter, die Clubmitglieder und mehr, um das Festival durchzuziehen, denn da braucht man ja einen Fahrdienst zum Flughafen, einen Fahrdienst zu den Hotels und und und… Den kann man gar nicht hoch genug einschätzen, diesen Teamgeist, der da herrscht in Burghausen. Das ist eines der Geheimnisse…

Die ganze Stadt steht also hinter „ihrem“ Festival.

Ja, genau. Und daran möchte ich an dieser Stelle auch noch erinnern: eines der jüngsten Mitglieder in dem alten Jazzclub in Neuburg an der Donau war Manfred Rehm. Er hat dann in der alten Stadtapotheke weiter gemacht und es ist ein hervorragender Jazzclub draus geworden. Also insofern hängt, über die Person von Helmut Viertel, Neuburg mit Burghausen zusammen.

Und die Kurse sind praktisch zur gleichen Zeit entstanden…

Nein, das war dann 1972. Ich hatte schon vorher einige der ersten ganz großen Jazzkurse als Dozent mit betreut: 1960/61 in Weikersheim für die Jeunesses Musicales, in Regensburg damals durch Richard Wiedamann. Aber das lief dann alles nicht richtig weiter, dafür ging‘s 1962 in der Akademie in Remscheid los. Da gab es seitdem regelmäßig einen großen Kurs, und ich war dort von 1963 bis 1985 als Dozent tätig. In Remscheid kamen bayerische Teilnehmer zu mir und haben festgestellt: „Wie schade, dass es in Bayern sowas nicht gibt!“ Also dachte ich bei mir: „Jetzt habe ich die Geschichte in Burghausen angefangen, eigentlich könnte man da auch Kurse machen.“ Und das war dann auch wieder ein Glücksfall: 1975, vorher waren wir in verschiedenen Schulen und anderen Gebäuden, wurde das Mautnerschloss renoviert und so zu einem idealen Austragungsort. Das ist der Kurs der kurzen Wege, mit dicken Mauern, was auch für die Temperatur im Sommer natürlich gut ist, und jetzt bei der letzten Renovierung haben wir sogar einen Aufzug reingekriegt. Das ganze Haus vibriert, wenn da 70 Teilnehmer mit 9 Dozenten arbeiten und jeden Abend Session ist.

 

Der Jazz-Nachwuchs

Inzwischen gibt es viele Jazzstudiengänge, viele sehr gut ausgebildete junge Musiker. Haben es die heute schwerer als Sie damals, haben die mehr zu kämpfen?

Teils, teils. Der Jazz ist heute viel mehr akzeptiert als zu der Zeit, in der wir angefangen haben, und dass es so viele sind, das ergibt sich automatisch. Aber das ist in der bildenden Kunst genauso: Es gibt keine Arbeitsplatzgarantie, es gibt auch keine Möglichkeit, die Arbeitsplätze irgendwie zu zählen und zu sagen: „Ok, so viele Arbeitsplätze wären jetzt frei, entsprechend wird ausgebildet.“ Das wäre nicht möglich und das wäre auch nicht gut. Ich sage meinen Studenten, was sie erwartet und was wichtig ist, wie man etwa auf der Bühne einen relaxten Umgang mit dem Publikum pflegt. Zu einer erfolgreichen Band gehört eben mehr als nur gut zu spielen…

Da gibt es immer wieder Musiker, die da einigermaßen wenig Geschick haben und gerade mit Mühe und Not ihre Stücke ansagen. Aber es gehört mehr dazu. Das habe ich von vielen Musikern gelernt, von Oskar Klein zum Beispiel, der ein sehr witziger Ansager gewesen ist oder Dizzy Gillespie. Viele schwarze Musiker haben das einfach drauf, relaxt mit dem Publikum umzugehen, ein paar Storys zu erzählen. Und das ist wichtig. Wenn einer sagt: „Die Musik muss für sich selber sprechen, Worte sind überflüssig“ – das stimmt eben nicht.

Also der Kontakt zum Publikum ist immer wichtig.

Der ist sehr wichtig. Die jungen Musiker heute haben es insofern auch leichter, weil es Wettbewerbe gibt. Wir machen ja auch einen Großen in Burghausen seit einigen Jahren. Wir veranstalten einen „Next Generation Day“ während des Festivals – zusammen mit einer Plattenfirma. Die bietet uns Gruppen an, mit denen sie vorher eine CD gemacht hat. Drei spielen dann im Abschlusskonzert, die vierte Gruppe spielt ganz zum Schluss im Keller. Es wird also für junge Musiker heute sehr viel mehr getan als früher. Wir hätten uns das damals gewünscht, auch solche Wettbewerbe zu haben oder Stipendien. Der bayerische Staat vergibt jedes Jahr Förderstipendien, und ich bin in dem Gremium, das für Musik und Tanz zuständig ist. Und es ist mir fast jedes Jahr gelungen, seitdem ich da dabei bin, eines für einen Jazzmusiker zu erringen. Aber man muss sich halt durchsetzen. Das mussten wir auch. Man muss lange Reisen in Kauf nehmen. Wenn einer ungern reist, dann kann er viele Möglichkeiten nicht wahrnehmen. Und man braucht auch einen Lebenspartner, der das weiß und akzeptiert. Meine Frau zum Beispiel habe ich bei einem Vortrag in der Volkshochschule in München kennen gelernt, den ich gehalten habe. Sie hat mich nach einer Dixielandband gefragt, da kannte sie jemand. Und die waren sehr schlecht. Ich hab sie dann gefragt, warum sie sich gerade für die interessiert und ihr dann meine eigene empfohlen. Damals gab‘s ja noch viele Faschingsbälle mit Jazzbands, etwa im Haus der Kunst. So kam der Kontakt zustande…

Und sie konnte das immer gut akzeptieren, dass Sie auf Reisen waren.

Ja, und die Wiedersehensfreude war jedes Mal sehr groß.

 

Jazz in München: die Anfänge

Gehen wir also zurück – ganz zu den Anfängen. Wie haben Sie das damals empfunden, wie kam der Jazz nach München und wie sind Sie zum Jazz gekommen?

Der Jazz kam nach dem Zweiten Weltkrieg nach München. Vorher gab es nur Jazz-beeinflusste deutsche Tanzmusik. Und auch nach dem Krieg hat es noch gedauert, bis es die ersten Konzerte im Kongresssaal gegeben hat und die ersten Lokale, wo Jazz gespielt wurde. Das hat in München vielleicht ein bisschen länger gedauert als anderswo. Ich bin schon während dem Krieg zum Jazz gekommen. Wir hatten zu Hause einige Schellacks mit Jazz-beeinflusster deutscher Tanzmusik, die habe ich mit vier, fünf Jahren schon gehört. Und so ungefähr mit zehn oder elf, 1942/43, da hat mich der Rhythmus auf einmal mehr interessiert als vorher. Und dann habe ich im Radio nach solcher Musik gesucht, fand natürlich bei den deutschen Sendern nur wieder das Gleiche. Und das Wort „Jazz“ war ein Unwort damals. Es gibt immer so Behauptungen, die Nazis wären heimlich Jazzfans gewesen. Ich halte das für einen Unsinn. Der Jazz hat schon vor der Nazizeit größte Widerstände gehabt, weil er aus Amerika kam, weil es jüdische Musiker waren, weil es schwarze Musiker waren und weil die klassische Musik eben strikt dagegen war. Dieses Gegen-den-Jazz-Sein hat es noch Jahrzehnte nach dem Krieg gegeben. Und wenn es nur in der Form war, dass wir irgendwo gespielt haben und da stand ein Flügel in der Ecke und den haben wir eben nicht gekriegt, weil wir Jazzmusiker waren. Sondern wir mussten uns mit einem Klavier zufrieden geben. Und dann habe ich auch, gegen Ende des Krieges, ausländische Sender gehört, habe gewartet, bis meine Eltern weg waren, weil die wahrscheinlich gesagt hätten: „Du, lieber nicht!“ und so, „Das ist gefährlich, wenn die Nachbarn das mitkriegen.“ Ich hab den Radio auch ganz leise gestellt.

Auf diese Weise habe ich also Radio Beromünster gehört und BBC London und deren deutschsprachige Sendungen, die so einen ganz anderen Ton hatten wie alles, was aus den deutschen Lautsprechern kam. Da habe ich angefangen, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. Und dann kam Radio Bari dazu, das war in Mittelitalien, da waren die Amerikaner schon. Da hörte ich Benny Goodman und Stan Kenton und Tommy Dorsey, also Bigbands, und dann war ich endgültig für den Jazz eingenommen. Das hat sich eben durch das Radio verstärkt. Später habe ich Platten gekauft, dann kamen Veranstaltungen dazu und schließlich fing ich selber an zu spielen. Aber dadurch, dass ich vorher schon sehr viel Jazz gehört hatte, bevor ich angefangen habe, ihn zu spielen, hatte ich eben schon sehr viel Hörerfahrung und konnte auch schon eine Menge von Themen quasi auswendig. Ich wusste nur nicht, wie man sie am Saxophon greift. Also dieses Plattenhören ist wie Üben ohne Instrument. Das ist im Jazz sehr wichtig, und das machen die jungen Musiker heute zum Teil viel weniger, als wir das damals gemacht haben. Da verschafft einem sehr viele Informationen, vor allem, was den Klang betrifft und die Feinheiten der Phrasierung, das kann man nicht aufschreiben. Das muss man von den Großen hören.

Und Saxophon haben Sie dann mit wie viel Jahren angefangen zu spielen?

Da war ich schon über 20. Vorher habe ich Blockflöte gespielt, dann kam das Klavier dazu. Ich kannte ja damals niemanden, der Jazz spielt. Sonst hätte ich schon früher angefangen, ihn auch zu spielen. Und dann hat sich ein Freund von mir ein Sopransaxophon gekauft, ein gebrauchtes, und ein paar Tage später kam er zu mir und hat gesagt: „Du, ich kann nichts anfangen damit, willst es du haben?“ – „Ok“, habe ich gesagt, „gut, ich kauf dir‘s ab.“ Und habe sofort mit dem Spielen angefangen. Mit Unterrichtsstunden war es schwierig, aber das „Learning by doing“ war ein wichtiger Faktor von Anfang an. Man hat einfach jeden Musiker interviewt und befragt, so dass jedes Zusammenspielen mit anderen eigentlich eine Lehrstunde gewesen ist. Amerikanische Musiker, die haben natürlich Dinge gewusst, die die deutschen nicht gewusst haben, und dann kam eins zum anderen.

Was haben Sie dann damals beruflich gemacht?

Ich hätte gerne Jazz studiert, das ging aber nicht. Die Klassik hätte mir nicht viel gebracht. Das ist ein Grund, warum ich mich dann sehr früh mit der Frage beschäftigt habe, ob man den Jazz unterrichten kann. Weil die älteren Musiker haben meistens gesagt, das mach ich erst dann, wenn ich nicht mehr spielen kann, und das kam mir eben irgendwie albern vor, diese Aussage. Ich habe mich also mit vielen Musikformen beschäftigt und habe gewusst, selbst im tiefsten Afrika gibt es Musikunterricht, aber eben nicht mit Noten, sondern die Älteren spielen den Jungen was vor, und die machen das nach. Vorspielen-Nachspielen ist eine der wichtigen Formen, auch heute noch, im Jazzunterricht.

Mich hat Physik schon sehr früh interessiert, schon mit 14 Jahren, noch bevor ich Physikunterricht in der Schule erhielt. Und das hatte vielleicht auch mit dem Jazzhören im Radio zu tun, denn mein Vater hatte ein Buch über Radiotechnik, das habe ich heute noch. Da ist mir dann klar geworden, ich brauche eine bessere Antenne, wenn ich mehr von dieser merkwürdigen Musik hören will. Das habe ich dann auch gemacht, habe mir Draht besorgt und den vor dem Fenster aufgespannt, da drüben im zweiten Stock, wo ich damals gewohnt habe, was nicht ungefährlich war. Jedenfalls habe ich dann an der Technischen Hochschule Physik studiert. Das hat mir dann den Titel eines Diplomingenieurs eingebracht. Aber am Schluss, da hätten die meisten wahrscheinlich aufgehört – der Heinz Sauer hat zum Beispiel, glaub ich, auch Physik studiert, aber nicht fertig gemacht -, aber ich hatte den Ehrgeiz:  „Wenn du es angefangen hast, machst du es fertig, es interessiert dich ja auch“. Aber damals hatte ich auch schon Monatsengagements, so wie das damals im Jazz üblich war. Oder halbe Monatsengagements, zum Beispiel im legendären „Studio 15“ in der Leopoldstraße, wo jetzt die rosaroten Uni-Gebäude sind.

Jedenfalls habe ich also das Diplom abgeholt und den Beruf nicht eine Stunde ausgeübt. Aber im Studium habe ich das Denken gelernt und in der Musik das Fühlen. Das ist eine absolut ideale Kombination. Und manche sagen ja, das würde man merken, das Studium, durch die klaren Aussagen in meinen Lehrbüchern, da ist wahrscheinlich was dran. Mit Begriffen geht man dann eben genauer um. Also, das möchte ich nicht missen, aber die Musik war stärker.

Und dann kamen die 60er-Jahre, die waren schwierig. Durch die Entwicklung der Popmusik, die vielen Jazzmusikern das Wasser abgegraben hat, weil das so explosiv war. Viele Jazzmusiker, auch in den USA, stellten plötzlich fest: „Ja, was ist jetzt los? Ist unsere Musik nicht mehr interessant oder was? Wir spielen doch genauso gut wie gestern und vorgestern…“ Und dann hatte ich mich eine Zeit lang ganz auf den Free Jazz konzentriert, meine erste diesbezügliche Gruppe war ein Trio mit Manfred Eicher und Siggi Büchner. Also mit dem Manfred Eicher, der später ein weltberühmter Produzent wurde. Das war von 1966 bis 1968, und ich denke, ich war damals der erste, der ihm Keith Jarrett auf einer Platte vorgespielt hat. Und er hat mich im Gegenzug, mit Erfolg, für Paul Bley begeistert. Wir haben viel diskutiert, und mir war ganz klar, als er angefangen hat, Platten zu produzieren: Das geht genau in die richtige Richtung. Dass er damit aber so erfolgreich wird, das konnte man nicht ahnen, das konnte er selber wahrscheinlich nicht ahnen.

Jazz-Pädagogik

Wann kam das Unterrichten dazu?

Das Unterrichten kam schon sehr früh dazu. Ende der 1950er-Jahre kam nämlich eine Band, ein Quartett, zu mir und fragte: „Du hast doch eine eigene Band, kannst du nicht mal zu uns kommen und uns Tipps geben?“ Dann hatte die Musikalische Jugend die Idee, Wochenendkurse auf der Burg Schwaneck zu veranstalten. Dort habe ich mit dem Pianisten Erich Ferstl, mit dem ich auch im Duo gespielt habe, zusammen unterrichtet. Ich hatte schon immer ein Faible für ungewöhnliche Besetzungen. Wir waren wahrscheinlich das erste Duo, also Klavier und Saxophon, das regelmäßig miteinander gearbeitet hat. Das war noch ganz ungewöhnlich, dass man ohne Bass und Schlagzeug gespielt hat. Dann kam Remscheid dazu und Anfang der 70er-Jahre die ersten Lehraufträge an Hochschulen, an der Münchner Musikhochschule, in Duisburg, Hannover, schließlich die Geschichte in Burghausen. Seit den 80er-Jahren gab ich auch immer mehr Kurse und Workshops für Schulbigbands. Das Unterrichten habe ich nie als zweitrangig angesehen, sondern es hat mich genauso fasziniert wie das Selberspielen. Du musst auf jede Frage von einem Schüler eine gute Antwort wissen, und manchmal stellen die Fragen, die wirklich schwierig zu beantworten sind.

Es gab also einen Bedarf, und es war interessant, auch da von Null anzufangen, denn Lehrbücher gab es in Deutschland eigentlich so gut wie gar keine. Darum habe ich ja dann auch angefangen, selber eine ganze Reihe zu schreiben. Allerdings nicht mit einem deutschen Verlag, da ich keinen gefunden habe, sondern mit der Universal Edition in Wien. Ich habe mir sehr viele amerikanische Bücher besorgt, über die Schweiz und dann später über England, um zu sehen, wie machen es die Amerikaner? Das Berklee College habe ich einmal besucht, 1970, um zu sehen, wie die arbeiten. Mehr als 50 Prozent ist in jeder Kunst reines Handwerk, und damit muss es auch lehr- und lernbar sein, es kommt nur auf die Methoden an. Nachdem der Jazz eine sprachähnlich strukturierte Musik ist, was von seinen schwarzafrikanischen Wurzeln her kommt – man kann bei Jazzfiguren von Silben, Worten, zusammengesetzten Worten und Sätzen reden – kann man vieles aus dem Sprachenunterricht übernehmen. Man braucht ein rhythmisches Vokabular, das man dann beliebig miteinander kombiniert, und wenn man es mit Tönen koppelt, hat man Melodien. Man forscht dann natürlich viel, und ohne musikwissenschaftlich ausgebildet zu sein, aber wissenschaftlich auf jeden Fall, habe ich vieles genauestens durchdacht, mit anderen darüber diskutiert, und die Unterschiede zur Klassik herausgearbeitet. Denn wenn man sich mit einer neuen Musikform beschäftigt, sollte man sich zuerst mit den Unterschieden, die ja typisch sind für diese neue Musikform, beschäftigen. Wenn man sich mit dem beschäftigt, was in der neuen Musik so ist wie in den Musikformen, die man schon kennt, dann kommt man nicht zur eigentlichen Substanz dieser Musik.

Und das mit dem Standardrepertoire im Jazz ist sehr wichtig: Es gibt ja viele Auftritte von Jazzmusikern, wo Gruppen spontan zusammengestellt werden. Meistens kennen sich die Musiker schon, manchmal kommt aber auch jemand ganz Neues dazu. Es wird nicht geprobt, aber die Musik muss so gut über die Rampe kommen, dass die Leute sagen: „Prima, das ist eine eingespielte Band.“ In Wirklichkeit ist die aber zusammengestellt. Dazu braucht es das gemeinsame Repertoire. Und heute kennen die jungen Musiker zum Teil viel weniger Standards als wir früher, und viele haben den Ehrgeiz, nur eigene Stücke zu spielen. Erstens berauben sie sich damit vieler Auftrittsmöglichkeiten, weil man mit ihnen nicht arbeiten kann und sie das Repertoire nicht auswendig im Kopf haben. Zweitens findet dann auch die fruchtbare Auseinandersetzung nicht statt: mit den fremden Themen. Themen, die nicht von mir sind, stellen mich unter Umständen vor erhebliche Aufgaben. Rein handwerklich gesehen und auch vom musikalischen Verständnis her. Wenn ich mir die Stücke alle selber schreibe, dann schreibe ich sie natürlich so, dass ich sie auch ohne große Schwierigkeiten spielen kann. Abgesehen davon, die Zahl der großen Themenkomponisten im Jazz ist viel geringer als die Zahl der großen Musiker. Natürlich kriegst du auf diese Weise etwas von der GEMA, aber das führt zu einer Isolation, wenn jeder immer nur sein eigenes Zeug spielt. Und wer sind die großen Themenkomponisten im Jazz? Duke Ellington, Thelonious Monk, Horace Silver – und viele gibt’s, die haben nur ein einziges Mal ein wirklich gutes Thema geschrieben, weil es ihnen eben nicht so liegt. Denn selbst wenn du gut spielst, gut improvisierst, sogar gut arrangierst, kannst du noch lange kein gutes Thema schreiben. Darüber sprechen wir bei den Burghausener Kursen auch – übers Themen Schreiben. Und über das Arrangieren.

 

Jazz im Buch

Sie sind ja auch als Autor für die JazzZeitung tätig und rezensieren fast nur englischsprachige Publikationen. Werden die wichtigen Bücher im Jazz immer noch von Amerikanern geschrieben?

Ja, und leider wird vieles auch immer noch nicht ins Deutsche übersetzt. Es ist auch sehr schade, dass einige wichtige Biografien fehlen. Über Albert Mangelsdorff gibt es zum Beispiel nur dieses lange Interview. Ich habe auch festgestellt, dass diese Interview-Biografien einen großen Nachteil haben. Meistens werden sie von Fans des Betreffenden verfasst, da werden keine kritischen Fragen gestellt oder weiterführende Untersuchungen angestellt, was notwendig wäre. Und wenn man sich dann die großen Biografien anschaut, kann man schon staunen, was die Autoren da an Energie investiert haben. Oder aber so einer wie der Gunther Schuller, der halt ein sehr intelligenter Mensch ist, schreibt eine Autobiografie und schont sich selber dabei nicht. Das ist interessant und berührend. Emil Mangelsdorff zum Beispiel – der ist drei Jahre älter als sein Bruder, lebt auch immer noch – warum schreibt keiner eine Biografie über den Emil? Den die Gestapo mal eingesperrt hat  wegen seiner Lebensführung. Weil ihnen das nicht gepasst hat, dass er mit langen Haaren in Frankfurt rumgelaufen ist und sich für Jazz interessiert hat. Der dann in russischer Kriegsgefangenschaft war. Der hat mehr erlebt als viele ihr ganzes Leben. Ich kenne ihn ganz gut, er hat mir viele Storys erzählt. Also es gibt eine Reihe von großen deutschen Jazzmusikern, deren Biografien immer noch fehlen. Und eine deutsche Jazzgeschichte, die ausführlich wäre, sagen wir seit 1945, gibt es eigentlich auch noch nicht. Es gibt nur Teildarstellungen, anscheinend fehlen die Autoren oder die Verlage – oder beides.

Aber den Amerikanern fällt immer wieder etwas Neues ein. Ich habe zum Beispiel ein Buch über die wichtigsten Jazzposaunisten gekauft, das macht auch einen hervorragenden Eindruck. Das könnte man eigentlich mit jedem Instrument machen. Und wenn es ein Posaunist ist, der das schreibt und sich mit dem Posaunespielen auskennt, dann hat jeder andere Posaunist auch etwas davon.

Jazz in München: die Gegenwart

Wenn man auf diese lange Zeit zurückblickt, wie hat sich der Jazz zum Beispiel in München etwa von der Clubszene her entwickelt, aus Ihrer Sicht?

Da gab es einen Höhepunkt in den späten 1960er- und 1970er-Jahren, was die Zahl der echten Jazzclubs betrifft. Das ist leider wieder zurückgegangen. So ein Club wie das Domicil fehlt heute. Die Unterfahrt macht ein sehr gutes Programm, lässt aber einiges aus dem so genannten Mainstream aus, leider. Andere Clubs sind furchtbar klein und bekommen keine Unterstützung. Deshalb können dann wichtige Gruppen nicht in München spielen. Dazu kommen behördliche Auflagen, das Lautstärkeproblem. Eigentlich müsste sich die Stadt München viel mehr engagieren, dass sie zum Beispiel aus der Förderung des Klaviersommers ausgestiegen ist, ist eigentlich völlig unverständlich.

Es gibt ja auch kein richtig großes Jazzfestival in München.

Nein, und ich habe das ja auch mal in einem „break“ geschrieben, was mir der Hummel damals gesagt hat: „Das Münchener Jazzfestival findet in Burghausen statt.“ Das hat er zweimal zu mir gesagt, zu zwei verschiedenen Gelegenheiten. Er wollte meine Idee, auch in München ein großes Festival zu veranstalten, einfach wegschieben, um sich nicht damit beschäftigen zu müssen. Das kann man einerseits verstehen, andererseits ist es schade.

 

Geburtstagswünsche

Ein Blick in die Zukunft: Wie glauben Sie, geht es weiter? Wird der Jazz so etabliert bleiben an den Hochschulen?

Ja, das denke ich. Und er lässt sich ja noch weiter ausbauen. Zum Beispiel, was Gesang betrifft, da gibt es meines Wissens nicht in allen Jazzstudiengängen eine hochqualifizierte Ausbildung oder genügend Ausbildung. Auch was das Arrangieren und Komponieren betrifft und den ganzen Free Jazz-Bereich. Free Jazz ist ja gleichzusetzen mit Jazz der wenigen Absprachen, bis hin zum Extremfall keiner Absprache. Das lässt sich natürlich mit gebundenem, also arrangiertem Jazz in unglaublich vielen Formen, die es noch gar nicht gibt, miteinander verbinden. Eine zukünftige Entwicklung liegt also in den Verbindungen. Deshalb müsste es staatliche oder städtische Jazzorchester geben, unbedingt! Mit der Möglichkeit, Kompositionsaufträge zu vergeben und hochwertige Musik unter finanziell gesicherten Bedingungen zu machen. Und wenn Sie heute eine Liste der sogenannten Kulturorchester lesen, steht keine einzige Bigband drauf, weil die offenbar gar nicht als solche ernst genommen werden. Es gibt also immer noch Felder, wo wir nicht genügend ernst genommen werden. Da liegen viele Möglichkeiten in der Zukunft. Warum soll es nicht, genauso wie es finanziell gesicherte Symphonieorchester gibt, solche auch auf dem Jazzgebiet geben? Die einzigen, die was machen, sind einige Rundfunkanstalten. Und leider hatte München eine ziemlich schwache Radio-Bigband, das war das Tanzorchester Herbert Beck.

Schon als Schüler habe ich gehört, dass es da viele Defizite gab. In den 60er-Jahren ist es dann still und leise beerdigt worden. Es gab ein Jazzensemble des Bayerischen Rundfunks, das hat Don Menza mal geleitet, auch Pepsi Auer und Joe Haider – Ende der 60er-Jahre. Das Jazzensemble des Hessischen Rundfunks gibt es seit 1958 ununterbrochen bis heute, aber dieses Jazzensemble des Bayerischen Rundfunks ist auch wieder verschwunden. Das hätte ja wirklich nicht viel gekostet. Es muss eben Möglichkeiten geben, Arrangements aller Art, bis hin zu Partituren für freies Spiel mit nur einigen Festlegungen, öfter zu spielen – nicht nur als Projekt. Es gibt ja sehr viele Projekte heute, aber die Probenzeit ist begrenzt, es wird einmal aufgeführt, und dann ist es meistens verschwunden. Das ist sehr schade. Man müsste solche Sachen wieder ausgraben, wiederaufführen und neue Projekte dazu nehmen. Das wäre ein wichtiger Zweig der zukünftigen Musikszene. Aber dazu gehört eine finanzielle Absicherung. Ich wüsste ganz genau, wie so etwas laufen könnte, also unter Gesichtspunkten sparsamen Finanzgebarens, wie man mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Wirkung hätte.

Praktisch ein Geburtstagswunsch.

Ja. Ein anderer ist, dass ich eine Plattenfirma finde, die einige unveröffentlichte Bänder rausbringt. Ich habe nämlich Bänder von meinem Duo mit Erich Ferstl und dem Trio mit Manfred Eicher und Siggi Büchner.

https://www.nmz.de/menschen/personalia/bayerische-jazz-legende-saxophonist-und-paedagogik-pionier-ein-gespraech-mit

 

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