Peter Brötzmann. Foto: TJ Krebs

CD Rezension:  Peter Brötzmann – Catching Ghosts

Die Musikwelt trauert um den Saxofonisten Peter Brötzmann, der am 22. Juni in Wuppertal verstarb. Dass diese Platte ein letztes Vermächtnis werden würde, hatte wohl kaum einer gedacht. Die Musik auf diesem live aufgenommenen Trio-Album hört sich definitiv nicht nach Abgesang, sondern nach Aufbruch und Sich-Neuerfinden, womöglich für weitere viele Jahre an. Und auch für alle, die um Peter Brötzmann bislang eher einen Bogen machten, „weil das ja Freejazz ist“ sei dieses Release zur Horizonterweiterung und Differenzierung des Urteils über einen der einflussreichsten Musiker dringend ans Herz gelegt.

Die Rede ist vom Jazzfest Berlin. Peter Brötzmann bildete am 4. November 2022 eine Triobesetzung zusammen mit dem marokkanischen Guembri-Virtuosen Majid Bekkas und dem Chicagoer Schlagzeuger Hamid Drake. Wie geht denn sowas?! Und wie das geht! Es hatte ja auch schon eine Vorgeschichte, da Brötzmann auch schon früher mit Hamid Drake der Gnawa-Tradition gehuldigt hatte. In Berlin sind drei Musiker sowas von in ihrer Sache drin und reiben sich aneinander aufgrund völlig verschiedener kultureller Horizonte, aber lassen sich mit umso mehr Lust und offenem Geist aufeinander ein.

Unterschiedliche kulturelle Horizonte, aber ein gemeinsamer offener Geist

Das pulsierende Zentrum ist nicht etwa der Schlagzeuger Hamid Drake, sondern besteht im repetitiven Puls der Bassfiguren der Guembri aus der südmarokkanischen Gnawa-Tradition, wo oft auch noch Temposteigerung ein Mittel zur Erzeugung von Trance ist. Gnawa-Musik ist ja in erster Linie eine rituelle Gebrauchsmusik zu diesem Zweck. In Trance gerät auch Schlagzeuger Hamid Drake, der all dies mit einem lässig pochenden Feuerwerk aus Akzenten, Betonungen, Inventionen, polternden Beats und coolen Rimshots umspielt, ohne je Herrschaft über den eigentlichen Beat, der nicht selten in Fünfviertel-Metren läuft, übernehmen zu wollen. Und Peter Brötzmann selbst? Der zelebriert auf seinem Tenorsax dieses magische Hier und Jetzt vor allem als aktiv Zuhörender. Die Emotionen in seinem Spielfluss wirken dankbar, wie er all dies in sich aufnimmt und aufgreift, um in den eigenen reichen Kosmos abzuheben. Wenn er spielt, denn manchmal hört er nur. Feinziseliert, ekstatisch, empfindsam und alles mögliche mehr sind seine Soundkaskaden. Hellwach die dahinter stehende musikalische Intelligenz und Schnelligkeit, um in jedem Moment neue spielerische Geistesblitze wie in einem imaginären Teilchenbeschleuniger in Fahrt zu bringen.

Ergreifende Momente

Die treibende Wucht dauert auch an, wenn Majid Bekkas seine beschwörende Gesangsstimme erhebt – mal auf arabisch, aber vermutlich auch in diversen traditionellen Sprachen aus den Regionen, wo Nordafrika allmählich in den schwarzen Kontinent übergeht. Ergreifende Moment vor allem, wenn Brötzmann sich in die Melismen und Mikrointervalle von Bekkas Gesang hinein hört und diese den eigenen gespielten Linien einverleibt. Mit solcher Entgrenztheit, zugleich von so viel Empfindsamkeit und gegenseitiger Offenheit getragen, passiert so etwas ganz selten. Man muss dem Jazzfest Berlin und dem ACT-Label dankbar sein, dass es diese Sternstunde für die Ewigkeit festgehalten hat. Dass diese Ewigkeit jetzt schon Realität ist, kam überraschend.

Text: Stefan Pieper

Peter Brötzmann: Catching Ghosts
Label ACT

 

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