Moers – (k)ein Jazzfestival? Ein Bericht von der 52. Festivalausgabe

„This is not a jazz festival“ lautete im letzten Jahr das Motto. Aber ist das wirklich so? Vielleicht entsteht Jazz, verstanden als universelle Haltung von Improvisation und kultureller Toleranz, gerade dann, wenn das Wort mit den vier Buchstaben als einengende Schablone wegfällt. Weil sich dann die Dinge wieder aneinander reiben können.

Da gab vor allem der feierfreudige soziale Kosmos einer Open-Air-Bühne zur blauen Stunde der Musik ganz viel Luft zum Atmen. Günter „Baby“ Sommers „Brother- and Sisterhood“ klang genau so, wie dieses neue Projekt heißt. Der aus Dresden stammende Schlagzeuger ist mit fast 80 Jahren ein unermüdlicher Ideengeber und Menschenfänger. Hier skandierte er, als wenn es ein Rap wäre, die Lautpoesie des Dadaisten Hugo Ball, die einem seiner aktuellen Stücke mit dem Titel „Karawane“ zu Grunde liegt. Das gute Dutzend Musikerinnen und Musiker, die einen Querschnitt der deutschen Jazzszene ausmachten, und ebenso ihr Publikum stiegen in all dies und noch viel mehr dankbar ein.

Drei Bühnen – drei Aspekte von Livekultur

Seit letztem Jahr gibt sich das Moers-Festival mit unterschiedlichen Bühnen an ganz verschiedenen Orten „dreigeteilt“: Die Festivalhalle bietet konzentriertes Zuhören und auch visuelle Inszenierungen, was zum Beispiel bei einem Elektronik-Konzert mit dem „Recursion“-Kollektiv nebst opulenter Lasershow aufregende Wirkungen freisetzte. Was das Festival seit letztem Jahr wieder als elementaren Ort für improvisierte Musik ganz besonders „erdet“ und damit der Gründer-Idee besonders nahe kommt, ist die sogenannte „Annex-Bühne“: Umgeben von den nüchternen Betonwänden eines Gymnasiums fördert hier ein perfektes Atrium die Symbiose zwischen improvisierenden Musikern und konzentriert eintauchendem Publikum. Hier die kuratorische Verantwortung an die beteiligten Bands und Projekte abzugeben, ist seitens der Festivalleitung ein schöpferischer Akt, um Befreites zu fördern. Und daraus erwuchs vier Tage lang Überwältigendes, Elementares und Forschendes: Was für eine Intensität entstand im Zusammenspiel zwischen dem kraftvollen Schlagzeuger Simon Camatta, der noiseverliebten Gitarristin Raissa Mehner und der perkussiv zu Werke gehenden Vibrafonistin Salome Amend. Das rockte zuweilen mächtig, ließ aber auch feinsinnige Geräusch-Symbiosen entstehen. Kammermusikalische Versenkung entstand, als sich Gebhard Ullmann mit einer Cellistin und einem Kontrabassisten vereinte. Musik und tiefe Andacht beim Hören. In Echtzeit, ohne Filter.

Auf das Besondere ist Verlass

Zahllose Menschen reisen aus aller Welt nach hierhin, eben weil sie darauf vertrauen, dass hier das Besondere stattfindet und das Beliebige draußen bleibt. Der Vibrafonist David Friedmann traf auf seinen jüngeren Kollegen Jim Hart, der gerade in aller Munde ist und auf allen Bühnen Berge versetzt. Befeuert wurde die freie Improvisations-Begegnung der beiden Mallet-Spezialisten vom mächtig aufspielenden Schlagzeuger Drori Mondlak.

Faszinierende Tastenkunst bot der Finne Aki Rissanen auf einem elektronisch aufgemotzten Cembalo plus Loopstation. So originell sind wohl noch nie Improvisationen im barocken Stil auf Ambient-Texturen geprallt. Gavin Bryars, ein mittlerweile 80-jähriger britischer Gentleman, tauchte mit einem eigenen Ensemble seine Zuhörerschaft in einen menschlich wärmenden Soundtrack, gipfelnd in einer Endlosschleife, wo alle Instrumente über ein in den 1970er Jahren aufgenommenes Lied von einem namenlosen, umherreisenden Tramp meditierten. Ein berührendes Eintauchen in globale Musikkultur forderte das iranische Tember-Ensemble heraus, wo Arabesken und Klangflächen von Flöte, Santur nebst dezenter Live-Elektronik ein ergreifendes Gewebe in die Festivalhalle zauberten. Kommend aus einem Land mit großartiger Hochkultur, dessen aktuelles Regime sich aber vor allem um Freiheitsvernichtung „verdient“ macht, aber Menschen dagegen aufstehen und ermutigt gehören.

Eine aufregende Säule im Programm von Moers markieren jene Bands aus dem frankobelgischen Raum, die aus dem dortigen Progressive-Rock-Freejazz-Spektrum schöpfen und wo Musikmachen auch immer etwas mit Dreck unter den Fingernägeln zu tun hat. Zaäar, der Name dieser belgischen Band klingt schon danach, als wenn er „kobayanische“ Wurzeln in sich trägt (so nannte die stilprägende französische Progrock-Band Magma ihre Kunstsprache, in der konsequent gesungen wird). Und ja: In Sachen wucherndem Exotismus, lässiger Krautrock-Psychedelik gepaart mit kühner Jazz-Akrobatik ließen die Belgier solide die Luft brennen. Ebenso war auf eine Großbesetzung mit dem Namen „Neptunian Maximalism“ Verlass, die ihr Publikum mit einem gitarrenlastigen Wall of Sound narkotisierte. Ein rauschhaftes Finale für eines der freudvollsten, harmonisch ausgewogensten Moers-Festivals in seiner ganzen langen Historie!

Behörden-Schnellschüsse als Stressfaktor fürs Orga-Team

Früher vibrierte einmal im Jahr fünf Tage und Nächte der gesamte Park in einer Riesenparty rund um die Uhr. Seit vielen Jahren herrscht nachts Friedhofsruhe, was immer noch etwas befremdlich anmutet für alle, die „Moers“ von früher als kollektiven Bewussteins(erweiterungs)zustand mitgemacht haben. Durch einen kurzfristigen Gerichtsbeschluss hatten die Stille-Freaks der niederrheinischen Kleinstadt dieses Mal in letzter Minute „aushandeln“ können, dass es noch eine Stunde früher keine Musik und kein Bier mehr gebe. Nur wenige Stunden vor Beginn eines Großereignisses mit weit über 100 Konzerten und etwa 250 Auftretenden hat bei solchen Schnellschüssen mal wieder der Veranstalter das Nachsehen: Die Mehrarbeit, um kurz vor Beginn des Konzertmarathons nochmal den ganzen eng getakteten Zeitplan umstricken zu müssen, haben die Entscheider in den Behörden und ihre Anhängerschaft vermutlich nicht im Blick.

Für den Mainstream hoffnungslos verloren

Auf dem Moers-Festival lebt die hohe Kunst, das Beste aus der Situation zu machen. Auf dem Rodelberg wurde ein kleines Lagerfeuer entzündet – und tatsächlich stand jetzt ein Flügel dort, wo früher bis zum Hellwerden die Djemben wummerten. Jetzt rückten hier alle zusammen, ließen sich vom Pianojazz aus den Fingern von Ethan Iverson zum Runterkommen die Seele streicheln. Wieder einer dieser besonderen, singulären Momente.

Viel lauter und bunter war es tagsüber dort zugegangen, „wo die Wilden Kinder“ wohnen. Musiker wie Bart Maris oder auch das furiose Jooklo-Duo aus Italien reichten ihre Instrumente zum Ausprobieren an die Allerjüngsten weiter, so dass es – vordergründig betrachtet – gar nicht so grundverschieden wie bei so manchem Konzert der „Großen“ klang. Gut so, wenn daraus junge Menschen hervorgehen, die so früh wie möglich für den Mainstream verloren sind. Die Welt bietet mehr als nur den Viervierteltakt der Unterhaltungsindustrie. Es tut gut, dass man beim Moers-Festival dieser Erkenntnis nirgendwo ausweichen kann.

 

Text: Stefan Pieper
Beitragsbild: Gebhard Ullmann und Günter „Baby“ Sommer. Foto: Marion Kainz

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