Christian Lillinger. Foto: Stefan Pieper

Frische Klänge für ein neues Jahrzehnt: Aus „jazz in between“ wurde „shortcuts“

Es haben gerade wieder „20er Jahre“ begonnen – vielleicht sollte der Blick mal wieder auf jene, vor allem in kultureller Hinsicht bedeutsamen 1920er Jahre gelenkt werden, in denen ausgesprochen viel kreative, tolerante Aufbruchstimmung herrschte. Im Stadtheater Münster appellierte die Formation „Koma Saxo“ mit einem ambitionierten Ideenfeuerwerk aus der Sicht von heute an die Freiheit von Geist und Ohren. Das sorgte gleich zu Beginn für viel frischen Wind beim Festival „shortcuts“ – ein neuer Name für jene bewährte musikalischen Trilogie, wie sie alle zwei Jahre die „kleine“ Ausgabe des Internationalen Jazzfestivals Münster bestimmt! Das neue Etikett „shortcuts“ hat den bisherigen Namen „jazz in between“ abgelöst. Das soll wohl mehr Augenhöhe mit der großen, dreitätigen Ausgabe des Festivals suggerieren. Aber diese ist unter Fritz Schmückers künstlerischer Leitung ohnehin seit Anbeginn selbstverständlich, dass es eigentlich gar keine Marketing-Gimmicks braucht…

Wenn „Koma Saxo“ aufspielt, wird alles neu und anders, undalles reagiert im unmittelbaren Moment miteinander. Schlagzeuger Christian Lillinger schaltet und waltet federleicht und unberechenbar. Der Bandleader, der schwedische Avantgarde-Kontrabassist Peter Eldh beackert die Saiten, dass Feuer lodert. Die beiden wären sich selbst schon für aufreibende Diskurse genug. In der Band „Koma Saxo“ kommt eine neue, sinnliche Dimension hinzu: Otis Sandsjö, Jonas Kullhammar und Mikko Innanen, drei akrobatisch aufspielende Saxofonisten aus dem hohen Norden bieten mächtige Gegenpole, türmen Klangschichten, manchmal sogar mit Zirkularatmung auf. Das steigert sich immer wieder zu wilder, aber nie beliebiger Freejazz-Raserei, erinnert in der gegenseitigen Durchdringung aller Beteiligten phasenweise an „harmolodische“ Strukturen eines Ornette Coleman und wird mittendrin auch immer wieder hinreißend melodisch. Bei aller Ungestümheit wirken diese Interaktionen wie ein erstaunlich fokussiertes großes Ganzes – so können die 2020er Jahre beginnen!

Nach so viel musikalischer Grundlagenforschung durfte dann die Seele gestreichelt werden: Hierfür traf die französische Trompeterin Arielle Besson auf den Akkordeonspieler Lionel Suarez. Die Folge sind herrlich geschmeidige Unisono-Linien zwischen Trompete und Akkordeon, ebenso eine lyrische Melange aus imaginärer Folklore und viel balladesk-getragener, gerne auch verspielter, balladesk-eleganter Kommunikation. Faszinierend, wie plastisch Lionel Suarez Melodie und Bassstimme differenziert. Oft wirkt es, als würden zwei verschiedene Instrumente auf der Bühne stehen. Ganz groß ist, wie Arielle Besson ihr Horn zu einer berührenden Singstimme werden lässt. Aber viele hätten sich auf dieser beseelten Grundlage auch mal so manchen freigeistiger improvisierten Exkurs gewünscht. Auf jeden Fall strahlte aus dieser Kommunikation viel Nahes, Menschliches, Inniges.

Es war immerhin bereits 1991, als der amerikanische Cellist Hank Roberts zum ersten Mal in Münster auf der Festivalbühne stand. Im Theater wird das Wiederhören mit dem sensiblen Charismatiker zum kaleidoskopartigen Hörkino. Seine aktuelle, italienisch-amerikanische Band „Pipe Dream“ entfesselt Spiellust ohne Ende und sprühende Musikalität. Viele der langen, multistilischen Stücken wirken wie ein Plädoyer für so manche Tugend, die heute zu Unrecht als unzeitgemäß gilt – vor allem das ausgiebige Improvisieren über Ostinati, welche jedem instrumentalem Höhenflug eine hypnotische Stringenz verleihen. Charismatisch agiert der Posaunist Filippo Vignato mit seinem messerscharf fokussierten Spiel. Sensibel interveniert Pianist und Rhodes-Spieler Giorgio Pazoric. Als fantastische Rhythmiker wachsen Schlagzeuger Zeno de Rossi und vor allem der überragende Vibrafon-Artist Pascale Mirra über sich hinaus. Und Hank Roberts selbst? Selten erlebt man einen so leise und fragil agierenden Musiker mit so viel Präsenz in einem großen Theater und vor einer so reichhaltig besetzten Band. Meist streicht er sein Cello in klassischer oder auch etwas neutönerischer Manier und spielt sich dann weltentrückt in höhere Sphären hinein. Eine ebenso fragile Poesie erzeugt sein Gesang, der ausgesuchten Momenten vorbehalten bleibt. Jazzrock, Folk, Zwölftonmusik, Romantik – wie immer man es nennen mag, diese Reise durch eine Wunderwelt musikalischer Überraschungen hätte noch endlos währen können!

Text und Fotos: Stefan Pieper

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