Jazzfest Berlin 2019. Christian Lillinger’s „Open Form for Society“. © HuPe-kollektiv (PB)

Jazzfest Berlin 2019 | Tag 2 | KrrRrrK – Der Raum-Akustik-Tod – Schießbudenklang

Jazzfest Berlin 2019, wir müssen reden. Denn: Man kann nicht hören, das Jazzfest ist nicht anhörbar. What?

Die Idee der Festivalleiterin Nadin Deventer klingt auf den ersten Blick ganz gut. Im Festspielhaus wurde die Bühne abgesenkt auf ebenerdig. Man hat hinter der Bühne (Tribüne B) und links (Tribüne A) davon neue Sitzplätze in Form von Tribünen eingerichtet. Die ersten neun Stuhlreihen im Parkett sind Matrazen gewichen. Links und rechts an der Seite sind Bildschirme angebracht. Irgendwie alles in der Absicht, das Publikum näher an den Ort des Geschehens zu bringen. Lieb gedacht.

Das Ergebnis: der Großteil des Publikums im Parkett sitzt weiter weg, die Musikerinnen auf der Bühne spielen ggf. plötzlich in Richtung Tribüne A, zur Seite also wie das Australian Art Orchestra oder dicht aufeinanderhockend geknubbelt linkerhand wie Christian Lillinger’s „Open Form for Society“.

Sitzt man hinter der Bühne hat man, wenn man Pech hat den aufgeklappten Flügel-Flügel vor der Nase, den Ohren und der Linse, der dann auch noch Deckenstrahler gelegentlich unsanft ins Gesicht reflektiert. Okay, Pech gehabt.

Aber man sitzt dicht dran, wenn man hinter der Bühne einen Platz hat wie der Kritiker dieser Einträge. Für die Fotografinnen, jetzt in Reihe 10, wird die Distanz ebenso unangenehm (trotzdem gelang unserer Chefinfotografin in der vertrackten Situation noch erstaunliches). Das sind aber nur optische Probleme.

Fatal ist die Lage vor allem akustisch. Das Auge hört mit, was es nicht sieht, hört sich schwerer, oder anders. Der Kritiker ist entsetzt: „Haben die das vorher akustisch nicht ausgetestet?“ So ein Saal mit seiner Bühne ist ja eigentlich akustisch anders programmiert. Hat man nur vergessen für das Monitorboxen bereitzustellen, wie sie die Musikerinnen auf der Bühne haben? Oder hat man das Publikum als Opfer konstruiert, damit es für die Live-Streams von ARTE in Concert bestens abdrehbar ist?

Hier ein Eindruck vom Australian Art Orchestra.

Geil, was?

Und bei Christian Lillinger’s „Open Form for Society“ klingt es so:

So differenziert will man es aber gar nicht haben. Okay, ein Phantomscherz. Was soll das? Es ist akustisch einfach eine Katastrophe. So bekommt man gar nicht wirklich mit, was im Auftritt von Christian Lillinger’s „Open Form for Society“ tatsächlich abgeht. Wie soll man das dann noch besprechen. Man ahnt, was diese komplex verknubbelte Musik sein könnte. Eine überaus fein gesponnene Musik, bei der man in Part 1 fast ein bisschen Soul spüren kann, bei der man aber eigentlich ein wunderschönes Klangfarbenspiel in gerupften rhythmischen Konstellationen erahnen kann. Und was bekommt man? Schießbude!

Beim Australian Art Orchestra feat. Julia Reidy wäre es um drei Parts gegangen, die einer weit ausladenen Architektur folgen, ein bisschen simpel in ihrer schlichten Aufbau- und Zerfallslogik, gepaart mit einer säuselig-hauchigen und zugleich bedeutungsschwangeren Stimme. Die besten Passagen dann doch die, wo das Material der Musikerinnen ganz dünn wird. Das meiste klingt von Platz 12, Reihe 2, Tribüne B aber nur suppig, breiig, sumpfig, morastig – suchen Sie sich was aus.

Am besten wirkt die Platzierung beim Solo-Pianisten Brian Marsella, der den Abend eröffnet. Da ist man wirklich dicht dran, wird mitgerissen in den Strudel einer rhapsodischen Musik, die in weiter Registern beginnt, zwischendrin in Eislerschen Harmonieschritten denkt um über Powerstride-Passagen eine Mixtur im Volkston anzustimmen. Bestechend!

Genug? Nö! Stimmt. In die Kassenhalle des Festspielhauses lockte Angel Bat Dawid & The Brothahood. Da bekommt man allerdings nicht ein Publikum des Festspielhauses unter. Würde echt ziemlich eng werden. Dafür hat man Club-Klang und Feeling. Das hat was. Was Verschwörerisches. Es geht ja auch um was. Logistisch scheint aber auch diese Konstruktion im Veranstaltungsablauf eigenartig.

Gut, kann man sich die Zeit vertreiben im oberen Foyer, von wo es schon die ganze Zeit über zwiebelig in den Festspielraum hineindünstete. Das KIM Collective und seine Mitstreiterinnen forderten „Please Enter“ auf, um in eine Art Iglu-Konstruktion einzutreten. Fein.

Wie seligmachend ist das im Rückblick die Performance von Anthony Braxton im Gropiusbau gewesen. Immerhin. Machen Sie sich ein eigenes Bild und einen eigenen Ton. Hier das Concert im Stream von ARTE in Concert.

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2 Kommentare

  1. Der Autor hat in jeder Beziehung recht! Wir mussten 2 K onzertabende auf Tribüne B mit jeweils 80 Prozent Klang- und Sichtbehinderung erleben ! Und dass in der preislich 2höchsten Kategorie. Die neue Sitzanordung ist eine Katastrophe – zu hören auch aus der sitznachbarschaft . Das Argument, dass Publikum näher an das musikalische Geschehen zu rücken, entpuppt sich als albernes Gerede. Das gleiche gilt für die unsägliche yogamatten-Strategie.

  2. Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass die Zuschauer nur noch Kulisse für arte concerts darstellen,. Wie sonst sind all die Kniefälle vor dem Fernsehsponsor zu erklären – auch Moers, Baltica leiden unter dem Formatanspruch (Länge, Bühnenaufbau, Licht) und am Ende fragt man sich, warum soll ich so viel Geld ausgeben, wenn es in der Mediathek besser aussieht und nichts kostet? Auch die Künstler müssten sich fragen, ob sie vor Publikum oder Kamera spielen (wollen).

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