((( potentiale ))) Festival für experimentelle Musik. Foto: Jörg Gläscher

((( potentiale ))) 2019 in Kalbe (20. bis 23. Juni) – Fünf Fragen an die Veranstalter

Vom 20. bis 23. Juni findet in Kalbe die ((( potentiale ))), das Festival für ländliche Entwicklung und improvisierte Musik statt. An den vier Tagen möchten die Veranstalter herausfinden: Was passiert, wenn musikalische Avantgarde auf örtliches Handwerk, verwunschene Orte und ein lokales Publikum trifft? Hat zeitgenössische Musik das Potential, Kalbe von Konventionen zu befreien oder ist der Widerstand, sich auf dieses Experiment einzulassen zu groß?

Martin Hufner stellte den Veranstaltern Fragen zu Konzept und Durchführung des Festivals in der Altmark. Die Antworten lieferten: Corinna Köbele (56, Initiatorin der Künstlerstadt Kalbe e.V., Kulturmanagerin & Psychologische Psychotherapeutin, Organisatorin der (((potentiale)))) und Steffen Roth (29, Schlagzeuger, Jazz- & Improvisationsmusiker aus Leipzig, wiederkehrender Resident der Künstlerstadt Kalbe, künstlerischer Leiter der (((potentiale)))).

Sie gehen mit einem Musikfestival auf’s Land. Die Altmark und der Ort Kalbe dürften nur wenigen Menschen ein Begriff sein. Wollen Sie das Festival so gut es geht verstecken? Was war der Grund für den Weg nach Kalbe und nicht etwa nebenan nach Klötze?

Corinna Köbele: Wir wollen uns nicht verstecken, sondern auf Verstecktes aufmerksam machen. Seit sechs Jahren belebt die Künstlerstadt Kalbe mittels Kunst und Kultur die Stadt bzw. die Region der Altmark um den Folgen des demografischen Wandels entgegen zu wirken. Statt düstere Prognosen zu akzeptieren, wollen wir auf Potentiale aufmerksam machen. Damit meinen wir nicht nur die Potentiale des ländlichen Raumes an sich, sondern Potentiale, die jede und jeder in sich trägt. Diese gilt es, wieder in sich zu entdecken und mit denen anderer zu verknüpfen. Hierbei nutzen wir den Luxus der Leere, die jahrelange Arbeit der gemeinnützigen & bürgerschaftlichen Künstlerstadt, sowie den bisherigen sehr fruchtbaren Austausch zwischen residierenden Künstler*innen & ansässigen Bewohner*innen.

Steffen Roth: Warum ein Festival für improvisierte Musik? Sie ist die Musik des Jetzt, der Begegnung, des sich Einlassens aufeinander, des Findens einer gemeinsamen und kraftvollen Sprache. Es setzt Bereitschaft voraus sich auf etwas hinzubewegen, was sich erst im Austausch entwickelt. Diese Improvisation setzt die Arbeit in ländlichen Gemeinden eigentlich fast täglich voraus. Besondere Potentiale von Kalbe sind die kurzen Wege und der direkte Kontakt. Im vergangenen Jahr konnten wir so eine gemütliche und intensive Atmosphäre entstehen lassen, die nachhallt und entschleunigt. Wir nutzen für das Festival, die Konzerte & Workshops freie Flächen im öffentlichen Raum, eine Scheune, eine Kirche und einen Zeltplatz. Diese Orte liegen direkt beieinander und mitten in der Stadt, sodass wir vom Schmieden direkt zum Vibraphon Solo spazieren können. Die Nutzbarmachung dieser freistehenden Orte & Flächen, die direkt nebeneinander liegen, das ist in einer größeren Stadt kaum zu realisieren.

Das Festival trägt den Titel ((( potentiale ))), ist also gleich in drei Klammern gesetzt, so als sei seine Nebensächlichkeit besonders wichtig. Zugleich scheint es Ausschnitte von Klangwellen zu symbolisieren. Was zeichnet die ((( potentiale ))) besonders aus? Was dürfen die Besucherinnen an vier Tagen erwarten?

Corinna Köbele: Die drei Klammern sind beides: Die ausstrahlende Kraft des Klangs und die Zurücknahme dessen was ist. Es handelt sich um eine Bewegung die hallt, die etwas übrig lässt. Die innere Bewegung, ist das Entdecken neuer Horizonte. Die äußere Bewegung zieht andere mit hinein, stößt etwas an, bringt weiter. Die Besucher*innen können neben den einzigartigen, interdisziplinären Konzertformaten ebenfalls an offenen Werkstätten bspw. zu Handwerk, bildender Kunst, Marionettenbau und Yoga teilnehmen. Auch Kinder & Jugendliche können auf dem Festival ihre Potentiale entdecken: Radio selber machen, Bewegungsimprovisation erlernen, oder Theater spielen, und das alles in einer kleinen, „hochromantischen“ Altstadt mit Fachwerkhäusern in der bisher vielleicht noch unentdeckten Altmark.

Steffen Roth: Durch das Workshop-Programm und den niedrigschwelligen Charakter, ist der Kontakt von Künstler*innen, Besucher*innen, Handwerker*innen und allen Beteiligten so intensiv, dass auf jeden Fall etwas bleibt, vielleicht sogar angestoßen wird. Ich kann als Besucher mit den unterschiedlichsten Menschen Zeit verbringen & sie kennenlernen. Wir möchten diese Kultur des Austausches statt des reinen Musikkonsums auf unserem Festival fördern.

Die residierenden Künstler*innen wie u.a. Jaap Blonk, Achim Tang & Elisabeth Coudoux stellen sich am Festivaldonnerstag mit ihren Soloauftritten dem Publikum vor und besitzen dann im Laufe der kommenden Tage Auftrittsslots, die sie ganz im Sinne der Improvisation mit Partner*innen & Instrumenten ihrer spontanen Wahl füllen werden. Improvisation heißt für uns auch Freiheit in der Umsetzung der Konzerte, die mit Spezialgästen im wahrsten Sinne des Wortes „untermalt“ werden.

In ihrer Ankündigung zum Festival schreiben Sie, dass Sie „Menschen durch Kunst & Kultur aus ihrem Alltagstrott, aus der Einsamkeit, aus den düsteren Prognosen ihres Ortes befreien“ möchten. Wie düster ist es in der Altmark und meinen Sie, so eine Art „Kulturüberfall“ kann Helligkeit bringen? Welche Aufgabe kommt da den Besucherinnen – neben den Künstlerinnen – zu?

Corinna Köbele: Kalbe verliert jedes Jahr 50 Einwohner*innen durch den demografischen Wandel. Das ist schon recht düster, bei 7500 Einwohner*innen, verteilt in 37 Ortschaften und dem Stadtkern von 2300 Einwohner*innen. Noch ist die Infrastruktur recht gut, weil Kalbe viele Jahre als Kreisstadt fungierte. Doch es wird bald nicht mehr gut zu leben sein, wenn nicht deutlich ein Impuls für Zuzug und neue Ideen entsteht und gefördert wird. Kunst und Kultur sind sehr kraftvolle Mittel. Bisher ist es uns schon recht gut gelungen, Menschen wieder auf Kalbe aufmerksam zu machen, sie mit unseren Angeboten her zu locken und einzuladen sich mit an der sozialen Skulptur zu beteiligen. In einer Welt, in der das Fertige, Satte, Perfekte durchgehend angestrebt werden, sind offene Gestaltungsräume, „Spielwiesen“ rar. Diese sind aber für Innovationen geradezu notwendig. Aus diesem Grund geschieht das hier als Impuls und als Möglichkeit etwas zu entdecken, was es vielerorts nicht mehr gibt. Die Menschen vor Ort dagegen nehmen ihre Stadt wieder als wertvoll wahr, lernen ihre Räume mit dem Blick von außen zu schätzen.

Soll Kalbe zu einer Art „Woodstock“ für improvisierte Musik werden?

Steffen Roth: Nein. Den Titel haben sich ja schließlich schon unsere Kolleg*innen der Jazzwerkstatt aus Peitz über Jahrzehnte erarbeitet.

Corinna Köbele: Aber keine schlechte Idee! Vielleicht in einem etwas kleineren Format, es soll schließlich zum Ort passen. Viele Festivals versuchen ja genau das wieder in ihre Programme einfließen zu lassen: Menschen an eine Musik heranzuführen, die ungewohnt bzw. ungewöhnlich ist, aber das Potential in sich trägt, Mut zu erzeugen, Authentizität aus einer bereichernden Begegnung entstehen zu lassen.

Wird es sich um ein einmaliges Ereignis handeln, oder ist eine längerfristige Planung angedacht? Welche Potentiale erhoffen Sie sich von der ((( potentiale )))?

Corinna Köbele: Wir planen längerfristig. Schließlich wollen wir uns die Chance geben stets näher an das heran zu kommen, was wir unter der (((potentiale))) verstehen. Mit jedem Festival werden wir schlauer und es werden stets weitere neue Gedanken entwickelt – ist halt alles in Bewegung… wie schön!

Steffen Roth: Die erste Ausgabe im letzten Jahr war ein großes Wagnis, aber wir haben erkannt, welche Wellen dieses Festival tatsächlich erzeugen kann. Auf diesem Erfolg bauen wir dieses Jahr auf, so wie wir nächstes Jahr wieder auf 2019 aufbauen wollen. Immer im Hinblick auf ein ausgewogenes Verhältnis von Angereisten, die bereit sind, ausgetrampelte Pfade zu verlassen und den ungewöhnlichen Weg in die unbekannte Altmark anzutreten und den Einheimischen, die diesen Austausch und die Festivalatmosphäre als etwas Bereicherndes & Vitalisierendes wahrnehmen. Das ist und bleibt das Anliegen des Festivals und ist gleichzeitig dessen größtes Potential.


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