Dizzy Gillespie in a concert in 1988

Dizzy lives! Zum 100. Geburtstag von Dizzy Gillespie

Endlich konnte ich Dizzy sehen. Er trat auf die Bühne und sagte: „Ich möchte die Musiker vorstellen“. Danach stellte er scheinbar ernsthaft, doch aus Lust am Ulk die Musiker einander auf der Bühne vor. Schallendes Gelächter des Publikums, das Eis war gebrochen und das Konzert konnte losgehen. Sich an Dizzy Gillespie erinnern, heißt auch, sich seine unbezähmbare, mit Experimentierlust verbundene Spielfreude ins Gedächtnis zu rufen, nochmals über die Clownerien eines begnadet ironischen Spaßmachers zu schmunzeln. Bei allem Wissen um den tiefen künstlerischen Ernst, mit dem der geniale Innovator seine Tonsprache und damit einen Grundbaustein des modernen Jazz überhaupt formte, ist es seine ansteckende, auf die Hörer überspringende Lebensfreude, die unser Bild von ihm prägt. Einmal „Ool-ya-koo“ oder „Manteca“ hören und Kummer wird buchstäblich weggeblasen von den atemberaubenden, akrobatischen Höhenflügen seiner strahlenden Trompete.

Wie abstoßend diese Musik gewirkt hat als sie und Dizzy noch jung waren! Die Tänzer gaben bei den schwindelerregenden Tempi auf, Kritiker vergossen viel Tinte über den Tod des Jazz. Doch Dizzy Gillespie gelang die scheinbar unmögliche Quadratur des Kreises: als Mitbegründer einer komplexen, zunächst unbeliebten Musikform ohne Verlust der künstlerischen Integrität eine sehr beliebte Gestalt zu werden. Selbst Dizzys Outfit war in den späten 40ern so volkstümlich, dass bald Sonnenbrille, Baskenmütze und Unterlippenbärtchen zu den unentbehrlichen Requisiten jedes Boppers gehörten (aber auch von Leuten, die eine „flatted fifth“ für ein geheimes Codewort oder einen gehaltvollen Cocktail hielten). War Dizzy versehentlich auf einem Foto mit einem offenen Hosenschlitz abgebildet, so fand sogar dies verwirrte Nachahmer. Dizzys angeborener Sinn für Entertainment lieferte den Bopppern gute Publicity und machte ihn zu einem der wenigen Musiker des modernen Jazz, die fast die Popularität eines Satchmo oder Fats Waller erreichten.

Bop-Väter

John Birks Gillespie, 21. Oktober 1917 in Cheraw, South Carolina geboren, war abgesehen von Kenny Clarke der älteste der „Bop-Väter“ und hatte bei der Geburt dieser Musik schon eine ansehnliche Karriere vorzuweisen. Als Sohn eines Amateurbandleaders schlich er sich als Kind immer in die Nachbarwohnung. „Der Junge nebenan hatte eine Trompete, und ich hörte diesen Sound!“ Seine Musiklehrerin, die ausschließlich die Tonart B-Dur beherrschte, nahm ihn als Kornettisten in die Schulband und schon 1935 machte er erste Schritte als Profimusiker. „Als ich anfing, wollte ich nur Swing spielen. Eldridge war mein Mann … Ich habe immer nur versucht, genauso wie er zu spielen, aber ich habe es nie ganz geschafft, und das hat mich dann jedes Mal scheußlich irritiert. Also versuchte ich es mal mit etwas anderem. Daraus hat sich dann das entwickelt, was als Bop bekannt geworden ist.“ Im Orchester von Frankie Fairfax erhielt er vom Trompeter Fats Palmer den Spitznamen „Dizzy“. Tatsächlich hielten ihn auch Kollegen in den Orchestern von Teddy Hill, Lucky Millinder, Charlie Barnet, Fletcher Henderson und Cab Calloway für „dizzy“, leicht verrückt, nicht nur weil er z.B. schlafenden Musikern Zigaretten in den Mund steckte bis sie zu husten anfingen, sondern auch, weil er schon frühzeitig mit neuartigen Harmonien und Rhythmen experimentierte. Als Dizzy wieder einmal bei Calloway das Arrangement umgemodelt hatte, schimpfte der „Hi-De-Ho-Mann“: „Ich will nicht, dass du in meiner Band diese Chinesenmusik spielst.“ Als Calloway von Jonah Jones mit Papierkugeln beworfen wurde, hielt er Dizzy für den bösen Buben und feuerte ihn.

Dizzy war an vordester Front dabei, als Größen wie Kenny Clarke, Thelonious Monk, Charlie „Bird“ Parker den Bebop aus der Taufe hoben: „Ein paar von uns fingen zu Beginn der 40er-Jahre an, in Minton‘s Playhouse in Harlem zu jammen. Doch immer wieder kreuzten irgendwelche Typen auf, die überhaupt nichts konnten, aber fünf oder sechs Chorusse mitspielten, um zu beweisen, dass sie doch was konnten. So fingen Thelonious Monk und ich am Nachmittag vor einer Session an, uns schwierige und komplizierte Ausweich-Harmonien und lauter so Sachen auszudenken, und die benutzten wir dann am Abend, um die talentlosen Knaben zu verjagen. Nach einiger Zeit interessierte uns die Sache mehr und mehr als Musik, und als wir in die Tiefe drangen und weiterforschten, entwickelte sich unsere Musik und machte Fortschritte.“ Dizzy lieferte mit dem 1941 komponierten, doch erst 1944 auf Platte gebannten „A Night in Tunesia“, dem 1942 entstandenen, aber von ihm erst 1945 mit Don Byas aufgenommenen „Salt Peanuts“ und dem von ihm 1944 als Sideman von Coleman Hawkins eingespielten „Woody‘n You“ erste Bebop-Kompositionen, die aber vergleichsweise spät öffentlich bekannt wurden. Spätere, zu Beginn der eigentlichen Bebop-Ära bekannt gewordene Stücke aus Gillespies Feder, setzten sich gleich und entstanden zum Teil, wie die meisten Stücke Charlie „Bird“ Parkers auf den Harmoniegerüsten altehrwürdiger Standards, etwa das 1945 mit Dexter Gordon (eingespielte „Groovin’ High“ auf der Basis von „Whispering“.

Unterwegs mit Bird

Mit „Bird“, der eher intuitiv neue Wege beschritt, verband Dizzy, der analytische Modernist, eine der bedeutsamsten Partnerschaften der Musikgeschichte. Ihre ersten gemeinsamen Aufnahmen von 1945 (darunter „Dizzy Atmosphere“ und „Shaw Nuff“) wirkten wie eine schockierende Revolution. Da 1942/43 wegen eines Aufnahmestreiks nur vereinzelt Jazzplatten entstanden, konnten nur Insider, die z.B. das Earl Hines Orchester mit Dizzy und Bird aufmerksam gehört hatten, die organische Entwicklung des Bebop aus dem Swing nachvollziehen.

Nach seiner Zeit im Orchester von Billy Eckstine, leitete Dizzy Gillespie von 1946 bis 1949, also mitten in der Zeit des Big Band-Sterbens, ein eigenes Orchester. Es besaß zwar nicht viele Solisten von Rang (darunter immerhin Milt Jackson und John Lewis vom späteren Modern Jazz Quartet), musizierte aber mit ekstatischer Besessenheit und lieferte mit packenden Titeln wie „Things To Come“ (1946) die bislang modernste Orchestermusik des Jazz. Allein Gillespies Beitrag zur Entstehung des Bebop und des orchestralen Bop sowie seine Genialität als Komponist und hochvirtuoser Solist hätten für Dizzys Unsterblichkeit genügt. Seine musikalische Offenheit trieb ihn aber weiter. Er beschäftigte sich intensiv mit lateinamerikanischen Rhythmen und lieferte schon 1947 überzeugende Verbindungen von Jazz und kubanischer Musik (z.B. „Manteca“ mit dem legendärem Conga-Spieler Chano Pozo). Bald überstürzten sich die anderen Bandleader, lateinamerikanische Elemente in ihre Musik aufzunehmen (so Stan Kenton, der einmal betrunken Dizzy ankündigte: „Ich werde deine Musik bald besser spielen als du selbst.“) Mit dem sogenannten „Cubop“ wurde Dizzy zum Urahn des Salsa; ein Jahrzehnt später sollte er auch noch vor Stan Getz den brasilianischen Bossa Nova für den Jazz entdecken, was aber zu spät in die Öffentlichkeit drang.

Dizzy Gillespie in a concert in 1988
Dizzy Gillespie in a concert in 1988

Dizzy Gillespie war auch einer der ersten Jazzmusiker, der eine eigene Plattenfirma („D.G. Records“) leitete, um sich nicht von den Vorgaben der Industrie bevormunden zu lassen. Doch gerade diese Aufnahmen der Jahre 1951 bis 1953 zeigen, dass er musikalische Kompromisse eingehen musste, um mit seinen Produktionen ein breiteres Publikum zu erreichen, das damals auf R & B flog. „Ich habe nun vorerst genug davon Jazzgeschichte zu machen, ich will mir jeden Tag ein warmes Mittagessen leisten.“

Doch er sollte auch in den 50er-Jahren Geschichte machen: als anatomisches Wunder, als „Instrumentenerfinder“ und als Kulturbotschafter. Im Laufe der Jahre nahmen seine Backen, die er beim Spielen wie ein Frosch aufblähte, wahrhaft gigantische Ausmaße an. Meines Wissens wurde nie recht geklärt, wie dies möglich ist, noch dazu ohne Schmerz. Sein zweites Wahrzeichen, die nach oben gebogene Trompete, entstand als bei Komiker bei einer Party sein Instrument unabsichtlich beschädigte. Erstaunlicherweise sagte ihm der Klang der Trompete mit der geknickten Stürze nun so zu, dass er sich seine „Erfindung“ patentieren lassen wollte; doch da war ihm schon jemand im 19. Jahrhundert zuvorgekommen. Als er wieder eine eigene Big Band leitete, ließ er den ganzen Trompetensatz mit solchen Trompeten spielen und bis in unsere Tage verwenden Trompeter wie zum Beispiel der 2006 verstorbene Bumi Fian dieses Modell.

Gillespie war sein Leben lang auf Reisen. 1956 schickte das State Departement Dizzys neue Big Band als Kulturbotschafter durch Asien, Afrika und Osteuropa. Diese Tournee, die den Jazz in Länder brachte, die kaum je zuvor nähere Bekanntschaft mit Jazz, geschweige denn mit Bop gemachte hatten, wurde ein so großer Erfolg, dass bald darauf Kollegen wie Brubeck, Ellington, Rich, Armstrong und Goodman mit ähnlichen Aufgaben betreut wurden. Da Dizzys große Popularität ohnehin schon vom Staat politisch eingesetzt worden war, bewarb er sich 1964 um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten. Als Außenminister hatte er Duke Ellington vorgesehen; weitere Posten sollten unter anderem Max Roach (Verteidigung), Louis Armstrong (Landwirtschaft), Peggy Lee (Arbeit), Mary Lou Williams (Botschafterin im Vatikan) erhalten. Teils kandidierte Dizzy im Scherz, teils um auf die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung aufmerksam zu machen. Trotz seines Slogans „Ich kandidiere als Präsident, weil wir einen brauchen“, wurde er nicht gewählt.

Neue Religion

Schon in den 40er-Jahren waren viele Bopper zum Islam übergetreten, der als eine Religion ohne Rassismus erschien. Aus ähnlichen Erwägungen wandte sich Dizzy Gillespie 1968 der Bahá’í – Religion zu. Dieser Glaube, so Dizzy in seiner 1979 erschienen Autobiographie „To Be Or Not To Bop“, besagt, „dass eine organische Veränderung der Gesellschaftsstruktur kommen muss … Alle Arten von Vorurteilen, rassische und politische, werden automatisch verschwinden.“ Der Saxophonist und Flötist James Moody, sein langjähriger Weggefährte, wandte sich auch dieser Religion zu. Auch andere Jazzer, darunter z B,. die Sängerinnen Flora Purim und Tierney Sutton, haben sich diesen Glauben zugewandt.

Seit den 70er Jahren häuften sich Dizzys Ehrungen: Medaillen, Ehrendoktorhüte, Auftritte im weißen Haus, wo er etwa Jimmy Carter sinnigerweise sein „Salt Peanuts“ vorsang. Zur Ruhe gesetzt hat sich Dizzy trotz entsprechender Ankündigungen nie. Die letzten Jahre sahen ihn unter anderem mit seinem United Nations Orchestra; da war er weise genug, um Jüngere wie Arturo Sandoval oder Claudio Roditi zu featuren, ohne Neid, nicht mehr genauso so treffsicher rasante Läufe in höchsten Lagen hinlegen zu können.

„Der Erfinder der Trompete wusste, dass es Dinge gibt, die man auf diesem Instrument nicht realisieren konnte. Aber er vergaß, Dizzy darüber zu informieren. Dieser legte einfach los und machte sie.“ Das sagte Benny Carter, der, vergessen wir dies nicht, nebenbei ein sehr guter Trompeter war. Als Virtuose war Gillespie bis etwa 1953 unerreicht. Es sind die Jahre, in denen er den von ihm miterschaffenen neuen Dialekt in der Sprache des Jazz, Bebop, so mustergültig und gestochen scharf formulierte, dass jeder Trompeter, der diese Sprache lernt, erst einmal hier ansetzt. Und nicht nur Trompeter. Das von ihm so stark geprägte Idiom ist ja die Grammatikgrundlage des modernen Jazz. Als Dizzy alterte, drückten sich viele seiner musikalischen Kinder und Kindeskinder in dieser Sprache inzwischen klarer und deutlicher aus als der Meister persönlich. Das hat nur zum Teil etwas mit dem in den 80er-Jahren trüber und schwächer gewordenen Sound zu tun, bei der sich vielleicht die Art des Blasens mit voll aufgeblähten Backen rächte, bei der rein theoretisch ohnehin kein anderer einen Sound herausbekommen dürfte. Dizzys Spätwerk besitzt trotzdem einen eigentümlichen Reiz, selbst dort wo wir auf die alten Nummern mit den zu Klischees gewordenen Standardphrasen treffen. Nicht, wie bei Armstrong das routinierte, brillante Herausstellen der einmal gefundenen Licks. Nicht, wie bei Miles Davis, das – bei aller Neuerung – Sichverlassenkönnen auf die altbekannte Trademark seines einsamen Sounds. Der alternde Dizzy klang wie ein Experimentator, der mit seinen früheren Errungenschaften spielerisch umging. So manche typische Dizzyphrase klang nun seltsam verzerrt und verschoben. Er gab dem Hörer, was dieser erwartete und wiederum nicht. Manches klang so, als hätte er in den gewohnten Bebopsätzen die Reihenfolge der Wörter vertauscht, dies und jenes nuschelnd aussprechend, Aussagen in Fragen verwandelnd. Und daher blieb Gillespie bis zuletzt noch auf eine unspektakuläre Art spannend. Da fand er im Blues (und nicht nur dort) zu blue notes, die blauer waren als das Meer, schräger als der Turm von Pisa. Im Alter mischte sich in seine meist sein sonniges Gemüt widerspiegelnde Musik auch zunehmend ein schwermütiger Unterton. Aber es war nicht die coole Melancholie, die Miles Davis und Chet Baker im Jazz popularisierten – Trompeter, die ebenso auf Dizzys Errungenschaften aufbauten wie seine Schüler Fats Navarro und Clifford Brown. Diese hatten in den 40er- und frühen 50er-Jahren die lyrischen Möglichkeiten des Bop akzentuiert, den Dizzy Gillespie, der Mitschöpfer dieses Stils, zunächst als überwiegend vital, hitzig, dramatisch konzipiert hatte. Dizzy Gillespie hat all diese genialen Nachfolger und Weiterentwickler seiner Kunst überlebt, auch Lee Morgan, der als 18-jähriger in seiner Big Band gespielt hatte. Im Gegensatz zu so vielen Giganten der Jazztrompete schien er auch unsterblich.

Zahlreiche Glückwünsche zu seinem 75. Geburtstag im Oktober in Form von Artikeln, Sendungen, Tribute-Konzerte und Widmungs-CDs wandelten sich am 6. Januar 2003 unversehens zu Nachrufen. Als Bird starb, prangte an vielen Mauern die Losung „Bird Lives!“ Hören wir heutige Trompeter, können wir immer noch feststellen, wie lebendig Gillespies Einfluss, ob es den Trompetern nun bewusst ist oder nicht, geblieben ist. Dizzy lives!

  • Marcus A. Woelfle [aus der JazzZeitung 2012/05]

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