Marsalis im Trend

Moment: Haben wir Wynton Marsalis’ neues Buch richtig verstanden? Da predigt also einer die Vorbild-Tugenden des Jazz: Achtung, Respekt, Vertrauen, Flexibilität, Toleranz, Krisen-Management, Risikobereitschaft. Der Jazz, heißt es da, lehre uns, das Beste aus dem Augenblick zu machen, anderen nicht unseren Willen aufzuzwingen, Gemeinsamkeit vor Egoismus zu stellen. Brav!

So ähnlich wie bei Marsalis tönt es heute bei vielen Lobbyisten ganz verschiedener Couleur. Zum Beispiel bei den Management-Trainern, weshalb die sich ja die kollektive Improvisationsbereitschaft des Jazz inzwischen gerne zum Modell nehmen. Aber im Ernst: Wer glaubt denn wirklich, dass es im Firmen-Management tolerant, respektvoll und unegoistisch zugeht? In jeder Führungsriege finden bekanntlich Machtkämpfe statt, gefährden Intrigen den gemeinsamen Erfolg, wird mit dem eigenen Prestige gewuchert. Kenner der Materie sehen dort statt Vertrauen und Respekt vielmehr „maßloses Geltungsbedürfnis, nervenaufreibendes Statusgerangel und ‚politisches’ Positionen-Geschacher“. Die Münchner Management-Consulterin Anne M. Schüller schreibt: „ Leider werden auch heute noch in vielen Unternehmen Haudegen bevorzugt. Dort wird Durchsetzungskraft in ihrer negativen Ausprägung gefördert und gelebt. Erst kürzlich hat eine Online-Studie der australischen Bond University gezeigt: Je fieser der Vorgesetzte, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er Karriere macht.“

Im Jazz ist das natürlich ganz, ganz anders. Jazzmusiker sind lauter kleine Engel, selbstlos, respektvoll und tolerant. Das jahrzehntelange Gerangel um den Thron des Tenorsaxofon-Königs zum Beispiel hatte überhaupt nie nichts mit Geltungsbedürfnis und Missgunst zu tun. Coleman Hawkins haben sie damals im Cherry Blossom von Kansas City gemeinsam niedergeblasen, er verpasste den Bandbus und fuhr deshalb sein Auto zu Schrott. Aber Hawkins, der ehrgeizige „Boss Tenor“, hat sich in ähnlichen Situationen um kein Haar besser verhalten. Don Byas gab gerne scheinbar selbstlos seine Gigs an Jüngere ab, angeblich wegen anderer Verpflichtungen, erschien dann aber überraschend auf der Bühne, um den Newcomer in Grund und Boden zu blasen. Auch Blindheit schützt nicht vor Fiesigkeit: Roland Kirk wusste, wie man sich bei einem Kollegen das „Einsteigen“ erbettelt, und hörte dann einfach nicht mehr auf zu spielen – es war dann Kirks Gig.

Toleranz predigen, aber unterm Tisch kräftig austeilen: Das gibt es nicht nur im Management. Unser lieber Wynton Marsalis zum Beispiel schreibt über John Coltrane: „Als Teenager konnte er absolut nicht spielen. Man glaubt nicht [wenn man ihn hört], dass er es ist.“ In späten Jahren dagegen habe er einen „Bildteppich aus organisiertem Chaos“ abgeliefert: „Für mich fällt John Coltranes Spätwerk in die Kategorie ‚Was machst du denn da?’.“ Auch über Miles Davis gibt es manche Nettigkeit: „In den letzten 20 Jahren seines Lebens ging es um Ruhm und Geschäft. Er spielte eine Form von psychedelischem Rock, die er unmöglich verstehen konnte. Heraus kam abgestandener Elektrorock.“ Marsalis nennt Miles einen „schlechten Rockmusiker“, der „die eigenen Ideale“ verkaufte.

Und Marsalis’ Ideale? Wie war das noch: Achtung, Respekt, Vertrauen, Flexibilität, Toleranz?

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