Jazz-Juwelen: Stan Getzʼ Schwanengesang

Von Stefan Barme. Stan Getz ist einer der besten Jazz-Saxophonisten aller Zeiten und überhaupt einer der größten Jazz-Musiker weißer Hautfarbe, wobei seine musikalische Genialität möglicherweise in einem Zusammenhang mit den seelischen Leiden steht, die seit seiner Jugendzeit ein Teil von ihm waren. Dass Menschen mit künstlerisch-kreativen Ausnahmebegabungen oftmals zu Depressionen neigen und mitunter Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische Störungen zeigen, ist hinlänglich bekannt. Man denke etwa an Hölderlin, Mozart, Schumann und Nietzsche.

Stan Getz, der 1927 in Philadelphia als Sohn ukrainisch-jüdischer Immigranten geboren wurde und seine Kindheit in der New Yorker Bronx verbrachte, nahm schon mit 16 Jahren, als er zum ersten Mal Mitglied einer Band war, jeden Abend so große Mengen an Alkohol zu sich, dass er sich an der Grenze zur Bewusstlosigkeit befand, im Alter von 18 kam dann Heroin dazu, das er neun Jahre lang exzessiv konsumierte, danach kehrte er wieder zum Alkohol zurück; die Drogen brauchte er, um seine Angst vor dem Publikum und dem eigenen Versagen zu besiegen oder doch zumindest erheblich zu verringern (Getz hatte einen starken Hang zum Perfektionismus und war übermäßig selbstkritisch).

Die dunkle Seite

Unter dem Einfluss der Rauschmittel kommen jedoch auch Getzʼ dunkle Seiten zum Vorschein: Er zeigt Anflüge von Schizophrenie, begeht Selbstmordversuche, beschimpft bei Aufnahmen Musikerkollegen, ist häufig gewalttätig gegen seine zweite Ehefrau Monica, prügelt sich wiederholt mit seinem Schwager, wird im volltrunkenen Zustand gegen seinen Sohn Nicky handgreiflich, als dieser nach einem Unfall an Krücken gehen muss, zerschlägt im Haus Fenster und Lampen … Doch während all dieser Jahre des Suchtelends und der Gewaltexzesse brilliert er auf der Bühne und im Studio als feinfühliger, inspirierter Künstler und entlockt seinem Tenorsaxophon diese wunderbar weichen, lyrischen Töne, für die er so berühmt ist und die ihm den Beinamen „the Sound“ eingebracht haben.

Samba und Cool Jazz

Seinen größten kommerziellen Erfolg hatte Getz mit dem Jazz-Bossa-Nova-Album Getz/Gilberto (1964), das er gemeinsam mit den beiden Begründern und Lichtgestalten der brasilianischen Bossa Nova, Tom Jobim und João Gilberto, einspielte; das Album wurde mit drei Grammys ausgezeichnet und erhielt als erste Jazz-Aufnahme den Grammy für das Album des Jahres. Zur Bossa Nova, die Stan Getz 1961 durch den Gitarristen Charlie Byrd kennengelernt hatte, zeigte er eine besondere Affinität, was sicherlich nicht zuletzt auch darin begründet liegt, dass dieser brasilianische Musikstil seine Wurzeln sowohl im Samba als auch im Cool Jazz hat, zu dessen prominenten Vertretern Getz gehörte.

Schwanengesang

Erst 1986, fünf Jahre vor seinem Tod, schaffte er es, dem Alkohol zu entsagen. Nur ein Jahr später wurde er jedoch mit einer schrecklichen Diagnose konfrontiert: Man hatte hinter seinem Herz einen Tumor in der Größe einer Grapefruit gefunden. Trotzdem gab er weiter Konzerte und brach im gleichen Jahr (1987) sogar zu einer Europa-Tournee auf, wobei er unter anderem im Café Montmartre in Kopenhagen spielte, das Ende der 1950er Jahre eröffnet worden war und in dem Getz, der in jener Zeit in der dänischen Hauptstadt lebte, häufig aufgetreten war. Kurz nach seiner Rückkehr wurde der Tumor zwar entfernt, doch etwa ein Jahr später wurde bei ihm Leberkrebs festgestellt, und die Ärzte teilten ihm mit, dass er maximal noch ein Jahr zu leben habe. Doch Getz, der den Rat der Mediziner zu einer Operation mit zusätzlicher Strahlen- und Chemotherapie nicht befolgt, sondern stattdessen auf asiatische Behandlungsmethoden sowie makrobiotische Ernährung und Heilkräuter gesetzt hatte, war auch zwei Jahre später noch am Leben, spielte Studioalben ein und musizierte auch vor Publikum; Anfang 1991 flog er sogar noch einmal nach Europa und trat auch wieder in „seinem“ Café Montmartre auf, aber diesmal nicht wie 1987 als Teil eines Quartetts, sondern im Duett mit dem famosen Kenny Barron, Getzʼ Lieblingspartner am Piano, der auch schon zum 1987er Quartett gehörte (neben Rufus Reid am Kontrabass und Victor Lewis am Schlagzeug). Bei seinen letzten Auftritten in dem Kopenhagener Jazz-Club spielte er in dem Bewusstsein, dass es seine letzten überhaupt sein könnten, und er gestand: „In my fantasy, I was singing my musical swan song“. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht: Am 6. Juni 1991, nur wenige Monate nach seinen Kopenhagener Konzerten, starb Stan Getz im Alter von 64 Jahren in seinem Haus im kalifornischen Malibu an Leberkrebs.

Klingende Dokumente

Stan Getzʼ Kopenhagener Schwanengesang, bei dem es sich überwiegend um Jazz-Standards und Songs aus dem Great American Songbook handelt, ist auf insgesamt zwölf CDs (mit einigen Überlappungen) dokumentiert: Die beiden CDs Anniversary! (1989) und Serenity (1991) enthalten insgesamt 12 Stücke vom Konzert des Quartetts von 1987, die Doppel-CD People Time (1992) bietet 14 Nummern von den Duett-Auftritten mit Kenny Barron aus dem Jahr 1991, auf der 2002 erschienenen CD Café Montmartre findet sich eine Auswahl von neun Stücken aus diesen drei CDs, und im Jahre 2009 erschien die sieben CDs umfassende Box People Time: The complete recordings mit dem gesamten Material der Konzerte, die Getz und Barron an vier Abenden Anfang März 1991 in Kopenhagen gaben. Es ist schier unfassbar, welche Höchstform Getz, der sowohl einer der größten Melodiker als auch einer der begnadetsten Improvisatoren der Jazz-Geschichte ist, hier trotz seiner Krankheit erreicht. Die Saxophon-Legende und der ebenfalls höchst improvisationsbegabte Barron, den Getz einmal als „the other half of my musical heart“ bezeichnet hat, erschaffen in ihren Interpretationen der beiden Balladen Soul Eyes und First Song eine so zarte Schönheit, wie sie von künftigen Interpreten wohl nicht mehr zu erreichen sein wird; zu meinen Favoriten zählt daneben auch die melodiöse Quartett-Nummer Falling in Love (ausschließlich auf Serenity und Café Montmartre enthalten), die der Pianist Victor Feldmann, ein früherer Partner von Getz, eigens für diesen komponiert hat. Zwar bevorzugte der Meister der Ballade zeit seines Lebens langsame und Mid-Tempo-Stücke, die auch bei seinen letzten Kopenhagener Konzerten deutlich überwiegen, doch mit seinem außergewöhnlichen Talent verstand er es eben auch, bei Up-Tempo-Nummern zu exzellieren, wie etwa bei Voyage, I remember you und I love you auf der CD Serenity zu hören ist.

Als Getz von seinem „Schwanengesang“ sprach, hätte er gar kein passenderes Wort wählen können, denn dieser Ausdruck basiert auf einem alten griechischen Mythos, demzufolge Schwäne kurz vor ihrem Tod noch einmal mit trauriger, aber wunderschöner Stimme ein letztes Lied erklingen lassen.

CD-Tipps:

Anniversary!, EmArcy, 1989

Serenity, EmArcy, 1991

People Time (Doppel-CD), EmArcy/Gitanes Jazz Productions, 1992

Café Montmartre, Universal, 2002

People Time: The complete recordings (Box-Set, 7 CDs), Universal, 2009

 

Beitragsbild: „Jazz at the Philharmonica“ in the Concertgebouw, Amsterdam. Stan Getz, tenor saxophone & Lou Levy, piano. 11 April 1959, Foto: Wim van Rossem (ANEFO) / Wikimedia Commons

 

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