Eines der ungewöhnlichsten Jazz-Festivals Europas findet im österreichischen Schwaz statt, 30 Kilometer vor Innsbruck und gerade einmal 118 Autokilometer von München entfernt. Hat doch das „Outreach Festival“ wie kaum ein anderes die Vision, „Musik und alle anderen bildenden und darstellenden Künste zu verwenden, um Grenzen aufzubrechen und Synergien zu schaffen“, wie sein Gründer und Leiter, der Trompeter Franz Hackl sagt.
Hackl gründete das Outreach vor über 30 Jahren sozusagen von New York aus, wo er mit seiner amerikanischen Frau Rose seinen Hauptwohnsitz hat. Doch schon über die Trompetenmanufaktur, die er hier mit seinem Vater betreibt, hat er die Verbindung zu seiner Tiroler Heimatstadt immer gehalten, zur 13000 Einwohner zählenden „Silberstadt“, die im 15. Jahrhundert mit über 200000 Bewohnern die zweitgrößte des Habsburgerreichs und neben Augsburg Hauptsitz der Fugger war. Unter diesem Leitgedanken des Verbindenden führt Hackl es – seit einigen Jahren gemeinsam mit dem Bassisten Clemens Rofner – interdisziplinär, genreübergreifend, ganzheitlich und experimentell.
Diese Brückenschläge haben seit der Pandemie beim Festival-Schwerpunkt, den drei Konzertabenden im Silbersaal des „SZentrums“ überm Inn ausgangs der Altstadt noch einmal neue, ganz konkrete Züge angenommen. Die Corona-Ausgabe 2021 konnten Hackl und seine Mitstreiter nur unter strengen Auflagen durchführen. Eine davon besagte, dass es pro Abend nur ein zusammenhängendes Konzert geben dürfe statt wie bis dahin vier hintereinander abrollende Sets mit Umbaupausen. Also lagerte Hackl einen Auftritt in den Showroom seiner genau gegenüber auf der anderen Innseite gelegenen Trompetenmanifaktur aus. Und die anderen drei Bands standen gemeinsam auf der zum Glück riesigen Bühne des Silbersaals und spielten abwechselnd jeweils drei 20-Minuten-Sets ohne Pause.
Kluge Programmierung
Ein perfektes Beispiel, wie Hackl immer schon aus der Not eine Tugend zu machen verstand – auch etwas, was man in der toughen New Yorker Szene wohl auch am besten lernt. Schon bei der Premiere dieses Formats war es verblüffend, welche musikalischen Bögen man plötzlich miterleben konnte. Und auch diesmal ergaben sich dank der klugen Programmierung drei überzeugende Abende. Jeweils waren die drei Bands sehr kontrastreich, ohne gar nicht mehr miteinander in Bezug zueinander zu stehen.
Abstrakt, feurig und sinnlich – so konnte man die Begegnungen des ersten Abends zusammenfassen. Das mitunter etwas kopflastige, aber vielversprechende österreichische Quartett River des Saxophonisten Robert Unterköfler und der E-Bassistin Nina Feldgrill – die gerade das ORF1-Jazzstipendium gewonnen hat – traf mit seiner eher unterkühlten Fusion auf SoundLib, ein von Hackl angeführtes amerikanisch-österreichisches All-Star-Septett, in dem insbesondere die Weltklasse-Geigerin Lara St. John und als Gast die Sängerin Chanda Rule für spannende Farben sorgten.
Female
Und auf das neue Projekt Female der Münchner Sängerin Stefanie Boltz. Ihre Hommage an die großen Frauen der Musikgeschichte von Hildegard von Bingen über Bessie Smith bis zu Nina Simone – deren Persönlichkeiten sie auch zwischendurch in halb gesprochenen, halb gesungenen persönlichen Grußbotschaften überzeugend näherbrachte – wurde hier nicht nur wie auf dem demnächst erscheinenden Album von Christian Wegscheider begleitet, ihrem angestammten Gefährten, der dem Bösendorfer-Flügel eine Bluesfärbung entlockte, die seinesgleichen sucht. Sondern auch von der Wiener Saxofonistin Yvonne Moriel, die zu den großen Talenten der österreichischen Jazzszene gehört und ihr Talent hier schon dadurch bewies, dass sie sich feinfühlig auf die Begleiterrolle konzentrierte.
Ähnlich spannungsreich und doch Zusammenhänge herstellend der zweite Abend. Das wilde Noise-Trio Kry mit der Klarinettistin Mona Matbou Riahi, dem Bassisten Philipp Kienbreger und dem Schlagzeuger Alexander Yannilos – klarerweise polarisierend und von manchen für einen Festivalhöhepunkt gehalten, während andere den Saal verließen – war zum einen eingebettet in die Solo-Eskapaden des Pianisten Kai Schumacher. Bekannt auch als „Bad Boy der Klassik“ faszinierte er mal mit seriellen Meditationen, mal mit fast elektronisch klingenden Soundscapes am präparierten Instrument, mal mit wuchtigen „Walls of Sound“.
Franz Hackls Outreach Orchestra
Dritte im Bunde war dann Franz Hackls Outreach Orchestra, das traditionell seit der Festivalgründung mit dabei ist. Eine wahrlich beachtliche Bigband, in der neben alten und jungen Meistern der österreichischen und deutschen Szene auch die 80-jährigen Legenden John Clark am Waldhorn und Dave Taylor an der Bassposaune sowie der Grammy-Gewinner Leo Genovese am Klavier sitzen. Dirigiert vom New Yorker Gitarristen und Publikumsliebling Gene Pritsker und diesmal mit der ebenfalls in New York lebenden Gastsängerin Amira B., die als Singer/Songwriterin zwischen Pop und Jazz auch schon ein Tiny Desk-Konzert in ihrer Biografie stehen hat. Selten klang das Outreach Orchestra besser und bunter, was auch an den stilistisch weit aufgefächerten Kompositionsbeiträgen (herausragend Thomas Kugis „Battle“ zwischen Trompetern und Saxofonisten) von so vielen Bandmitgliedern wie nie lag.
Der letzte Abend begann mit dem hochgelobten österreichischen Quartett Synesthetic 4, das freilich trotz seiner All-Star-Besetzung mit Vincent Pogracz an der Klarinette, Peter Rom an der Gitarre, Manu Mayr am Bass und Andreas Lettner am Schlagzeug eher das schwächste Glied in der Kette war. Einmal, weil der angestrebte Witz (schon von Pongracz‘ Perücke und Ansagen vor sich hergetragen) selten zündete, dann, weil dem Funk-Elektronic-Jazz mutwillig und weitgehend jeder Swing und Groove ausgetrieben war. Umso größer freilich war der Kontrast zum aktuellen Projekt des Holzbläsers und amerikanisch-schweizer Flötisten Daniel Schnyder, der mit dem Archos Streichquartett wieder einmal seine unvergleichlichen Grenzgänge zwischen Klassik und Jazz zelebrierte – wenngleich man das mit anderen Formationen von ihm schon einmal spannender gehört hat.
Vor allem aber trat in dieser Konstellation die besondere Qualität des AVA Trios zutage, das in jedem Fall die ungewöhnlichste, überraschendste Musik des Festivals präsentierten. Schon wegen der einzigartigen Töne, die Pino Basile seinen Rahmentrommeln und dem von ihm erfundenen, von traditioneller süditalienischen Reibestab-Instrumenten inspirierten Cupaphon entlockte. Mit ihrem Mix aus ihren bisherigen Projekten brachten sie die Klangkultur des Mittelmeerraums von der spanisch-arabischen über die italienische bis zur griechischen Volksmusik auf einen avantgardistischen Nenner.
Natürlich gibt es bei einem so ungewöhnlichen Konzert-Format Pros und Contras. Dass sie zwischen ihren ungewöhnlich kurzen Sets anderen Bands zuhören müssen, kann manche Musiker inspirieren, andere anstrengen. Dass das Publikum sich zwischendurch Pausen nimmt, ist ohnehin klar. Insgesamt überwiegen aber – auch dank des Verzichts auf die in den vergangenen Jahren zusätzlich eingebauten, eher nervenden Wort- oder Performance-Überleitungen – die Vorteile. Auf wundersame Weise erfüllen sich dadurch Hackls zumeist eher überkandidelt klingenden Festival-Mottos. So auch das „Imagine All The Optimists: Critical Mass Of Positivity“ heuer. Nicht zuletzt enden die ohnehin langen Abende deutlich früher als einst, wo oft noch um halb zwei Uhr nachts das Programm vor lerrem Saal abgearbeitet wurde. A propos leerer Saal: Nach wie vor ist die Besucherzahl angesichts des fantastischen Angebots allzu bescheiden. Was auch an den fehlenden Marketing-Kapazitäten der allesamt nebenbei und ehrenamtlich am Festival Arbeitenden liegen dürfte.
Trotzdem ist die Strahlkraft gewaltig. Denn die drei Konzertblöcke im Silbersaal sind ja nur– nur ein Teil des Festivals. Bei den Schaufensterkonzerten- das Publikum schaut von draußen zu – in Hackls nun „Surheim Stage“ genannter Werkstatt präsentierten zum Teil herausragende Talente der heimischen Szene vor durchaus beachtlicher Kulisse. Und wie immer war das Heranführen von Nachwuchs und Interessierten durch die schon am 25. Juli startende „Outreach Academy“ mit Workshops, Masterclasses und Konzerten integraler Bestandteil. Dazu kommt der für das jeweils neue Artwork des Festivals zuständige „artist in residence“ aus der bildenden Kunst, diesmal der prominente amerikanische Künstler und Kunstkritiker Walter Robinson, der allerdings nicht selbst kommen konnte. Eine Tanzvorstellung, eine Panel Diskussion – zur Rolle der Frauen in der Musik – und auch noch sieben „kleine“ Konzerte im Mathoi-Haus und -Garten runden alles ab.
Das Outreach ist und bleibt eine Reise wert und gehört zu Recht zu den wenigen österreichischen Festivals, die komplett vom ORF mitgeschnitten werden.
Text und Fotos: Oliver Hochkeppel (Beitragsbild: Amira)