Was bleiben wird: „Inntöne“ und „Outreach“ – zwei österreichische Jazzfestivals demonstrieren, dass in der Corona-Krise auch Chancen liegen

„3000 Besucher feiern das Leben“ überschrieb die Passauer Neue Presse ihren Bericht von den diesjährigen „Inntönen“. In der Tat war der „Jazz auf dem Bauernhof“, wie Paul Zauner sein Festival auf dem elterlichen Hof in Diersbach nahe Schärding seit jeher treffend untertitelt, eine beglückende Erfahrung. Was im vergangenen Jahr aus der Corona-Not geboren wurde, hat Zauner heuer konsequent optimiert und weiterentwickelt: Statt an Pfingsten laufen die Inntöne am letzten Juli-Wochenende, statt im Stadel – wo nun der ganz junge Musikernachwuchs in den Umbaupausen seinen Auftritt bekommt – wird open air auf der großen Wiese davor musiziert, jetzt mit einer richtig großen Bühne. Selbst der Zeitplan ist entzerrt und wurde heuer vielleicht das erste Mal überhaupt präzise eingehalten.

All dies will Zauner beibehalten, kommt es doch der Zuschauerzahl wie der Stimmung zugute. Und das wiederum kann dem Programm weiterhelfen, selbst wenn es schon heuer zum besten der busher stattfindenden Festivals gehörte. Große Namen waren wieder da, schon zum heiteren, „imaginär weltmusikalisch“ unterlegten Einstieg mit Michel Portal und Lionel Louke und beim allerdings von einem Gewitter unterbrochenen Tagesfinale mit dem Bill Frisell Trio. Mit Yamandu Costa wartete der in der Gitarrenszene legendäre, in der Jazzwelt noch nicht so bekannte „brasilianische Django“ Yamandu Costa mit seiner oft furiosen, mal auch zum Dahinschmelzen schönen Hochakrobatik auf. Der Kölner Saxofon-Altmeister Gerd Dudek brannte sich ins Gedächtnis ein. Die Belmondo Brüder zelebrierten ihre frankophon gefärbte Meisterschaft im klassischen schwarzen US- Jazz. Und eine Celine Bonacina unterstrich mit ihren Klangideen ihren einmaligen Rang fürs Baritonsaxofon.

Doch wie immer bei den Inntönen waren die amtierenden Stars das eine, die kommenden oder verkappten das andere, fast wichtigere. Heuer konnte man unter anderem die junge polnische Pianistin und Sängerin Hania Rani mit ihrem durchaus faszinierenden, wenn auch auf Dauer ein wenig gleichförmigen, auf Sounds konzentrierten Minimalismus der Nils-Frahm-Schule entdecken. Und den in Großbritannien schon ordentlich Staub aufwirbelnden schottischen Sänger Luca Manning, ein androgyn elegisches Songwriter-Unikum. Statt mit dem Quintett konnte er wegen der Corona-Reise-Querelen freilich nur im Duo anreisen, und auch das nur mit einer Bescheinigung, dass dies „im Interesse des österreichischen Staates“ geschieht. Bei seinem schottischen Piano-Kollegen Fergus McCreadie klappte das nicht, so durfte man zum Abschluss das blutjunge österreichische Klaviertalent Jakob Zimmermann im Duo mit Schlagzeuger Daniel Ismaili erleben.

Auch Premieren hatten die Inntöne wieder zu bieten: Gar eine Weltpremiere war das Duo des wuchtigen Vorarlberger Piano-Stars David Helbock mit der französischen Vokalisen-Zauberin Camille Bertault. Und unglaublicherweise ihren ersten Auftritt in Österreich absolvierte die 72-jährige Paulette McWilliams, obwohl sie sich doch in den USA als Begleiterin von Aretha Franklin, Marvin Gaye,  Michael Jackson und vor allem Luther Vandross einen Namen wie Donnerhall erworben hat. Zu ihrem perfekten Soul-Jazz- Entertainment trug als Gast auch Kollegin Chanda Rule, vor allem aber der grandiose, in der Konzentration auf das Wichtige unerreichte Pianist und Arrangeur Nat Adderley jr. bei.

„Viele klagen, bei uns wird’s immer noch besser“, konnte Paul Zauner hinterher ein fast euphorisches Fazit ziehen. Und in dieser aktuell ungewohnten positiven Tonlage bewegte sich eine Woche später auch Zauners alter Freund, der Trompeter Franz Hackl, als er über sein „Outreach Festival“ in Schwaz sprach. Auch hier wurden aus der Not Tugenden gemacht. Kein Wunder, hat das Outreach doch seit jeher – auch dank Hackls breitem künstlerisch-gesellschaftlichen Horizont, seinem missionarischen Ansatz der umrahmenden „Academy“ für alle Lernwilligen und seinen Connections nach New York, wo er seinen Hauptwohnsitz hat  – einen experimentelleren und politischeren Charakter als die meisten anderen Festivals . Zu diesen gelungenen Experimenten gehören die  „Schaufensterkonzerte“ in seiner Instrumentenwerkstatt, bei denen sich als Opener vor den großen Konzerten im mächtigen Saal des „SZentrums“ vor allem die junge Tiroler Szene in ungewöhnlichem Ambiente präsentieren darf. Und der im vergangenen Jahre erzwungene, heuer freiwillige Dreh, die restlichen drei Konzerte jedes Abends gewissermaßen „zusammenzulegen“: Alle Bands stehen gemeinsam auf der Bühne, jede spielt abwechselnd drei Sets a 20 Minuten.

Was für manche Musiker gewöhnungsbedürftig ist – sie sitzen dreieinhalb Stunden auf der Bühne, müssen anderen Musikern zuhören und werden, zugegeben, aus ihrer gewohnten Set-Choreografie herausgerissen -, hat sich vor allem fürs Publikum als bereicherndes neues Konzertformat erwiesen, das sich auch nach Corona in bestimmten Konstellationen sinnvoll ist. In völlig neuen Bögen hört man die Musik des Abends; unweigerlich reagieren die Bands auf die anderen, schaukeln sich im besten Fall auf; der Zuschauer kann sich eine Pause nehmen, ohne gleich eine Band komplett zu verpassen; und auch hier ist der Zeitplan plötzlich nicht mehr nur Makulatur.

Kam auch hier dazu, dass sich das unter dem Motto „Music to My Ears – Silence Is Devastating“ aufgereihte Programm als ein Spitzenjahrgang erwies. Angefangen mit „Nway Oo Meit Sway“, einem vom New Yorker Guru Gene Pritsker (logischerweise als einziger Beitrag am Stück gespielten) arrangierten audio-visuellen Projekt mit Musikern aus Myanmar und Österreich sowie einen eigens dafür gedrehten Kurzfilm. Für solche multimedialen, obendrein politisch aufgeladenen Geschichten ist Outreach so bekannt wie mitunter gefürchtet. Aber wer nichts wagt, der nicht gewinnt: Diese Solidaritätsadresse an einen demokratischen Widerstand entfaltete große Kraft. Genau wie die ebenfalls audio-visuelle Alternative-Jazz-Show „CLERQ“ des Bassisten und Outreach-Co-Direktors Clemens Rofner oder das mit Streichorchester verstärkte Quartett des Pianisten Rob Soelkner.

Gleich ins am zweiten Tag spielende, von Hackl jedes Jahr eisernund höchstkarätig aufgestellte Outreach Orchestra stiegen die Bossa-Meister Mafalda Minnozzi und Paul Ricci ein. Für einen grandiosen Kontrast sorgte das Bruno Heinen Trio mit seinen bezwingenden Verarbeitungen von Bela Bartoks ungarischen Volksmelodien der Improvisation op. 8 – sicher einer der Höhepunkte des Festivals. Aber auch am dritten Abend brachte das gemeinsame Setting eine besondere Dynamik ins Spiel. Zwischen den luziden, eher reduzierten Kompositionen des Guido Spannocchi Trios (in dem die Wiener Bassistin Gina Schwarz herausragte), den nachtblau ruhig beginnenden, dann immer wilder als nächtlicher Alp aufbrausenden Stücken des austro-italienischen Quartetts „Animali Notturni“ und der Bigband „Makanda Project“. Die rief mit Chico Freeman als Stargast das eher unbekannte Erbe des 2001 verstorbenen Jazz-Masterminds Makanda Ken McIntyre ins Bewusstsein – ebenfalls mit ihrem ersten Auftritt in Österreich.

Wenn es bei Inntönen und Outreach, aber hoffentlich auch andernorts künstlerisch wie organisatorisch so überzeugend, experimentell wie kreativ so gelungen weitergeht, dann wird Corona eine Fußnote der Musik- und Jazzgeschichte bleiben.

Von Oliver Hochkeppel

Beitragsbild: Rudy Royston (© Ralf Dombrowski)

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