Samtene Revolution: “Velvet Revolution” auf der münsterländischen Burg Vischering

Die Livekonzertsaison beginnt wieder – und alles fühlt sich neu und ursprünglich an. Vor allem, wenn mit dem Trio Velvet Revolution eine der herausragenden Bands im europäischen Jazz den alten Rittersaal in der münsterländischen Burg Vischering in poetische Klangfarben tauchte. Schon im letzten Jahr hatte die von Christine Sörries kuratierte Sommerkonzertreihe auf westfälischen Burgen und Wasserschlössern starke Eindrücke hinterlassen.

Angesagte Jazzlocation: Burg Vischering im Münsterland. Foto: Stefan Pieper

Über 100 Menschen zeigen beim langen, dem Ausnahmezustand in der Pandemie geschuldeten Einlass-Procedere, was sie wollen:  Live-Musik. Menschen auf einer Bühne. Im Backstageraum reden Daniel Erdmann, Saxofon, Theo Ceccaldi, Violine sowie Jim Hart über denselben Wunsch, welcher Publikum und Musiker eint: “Wenn dort keine Leute sitzen, gibt es unglaublich viel zu kompensieren“ beschreibt Daniel Erdmann, wie die Energieströme ohne Publikum doch gestört sind.

Kurz danach hat das echte Leben wieder begonnen. Von der farbenfroh ausgeleuchteten Bühne flutet echter, physischer, haptischer Klang. Gerade das Titelstück der aktuellen Platte “Won`t put my flags on me” gibt mit seiner minimalistischen Struktur genug Futter dafür, einen Sound zu entfalten, der jeder guten progressiven Rockband zur Ehre gereichen würde. Aber der hier – im Gegensatz dazu – keine Lautstärke und Kraftmeierei braucht, der subtil und leichtfüßig daherkommt, durch seine eigenwillig-feinsinnigen Harmoniewechsel eine zerbrechtliche Emotion ausbreitet und in diesem mittelalterlichen Ambiente mit den Farben der Lichtshow synästetisch zusammenfließt.

Theo Ceccaldis Violine ist in diesem Trio das Epizentrum. Bzw. es ist nicht das Instrument, sondern vor allem dieser ausdrucksstarke französische Musiker mit korsischen und nordafrikanischen Wurzeln, dessen Werkzeuge zufällig Violine und manchmal auch Viola sind. Und die er in einer so aufregenden stilistischen Bandbreite beherrscht, dass jede Lobeshymne von “einem der besten internationalen Jazzgeiger der Gegenwart” in diesem Moment wohl von jedem unterschrieben wird. Oft wird das kleine Streichinstrument zum perkussiven Motor, ja, ersetzt sogar phasenweise den Bass…

“Velvet Revolution“ ist eine Anspielung auf die „samtene Revolution“ in der Tschechoslowakei im Jahr 1968. Revolutionär wirkt in der westfälischen Wasserburg, wie sich hier Klangsinnlichkeit, Lyrik und improvisatorische Versenung bis zum Äußersten vereinen. Hypnotische ostinate Linien bahnen den Melodien, die sich nie verzetteln, den Weg. Zusammen Fokussiert- und Zentriertsein ist der gemeinsame Nenner. Daniel Erdmanns Sound ist unverkennbar und immer mit einer Prise Melancholie durchsetzt. Solche Qualitäten haben ihm soeben den Neuen Deutschen Jazzpreis beschert. Ob diese eigenartige Mischung daher kommt, dass sich Daniel Erdmann gerne von Filmen mit einem Hang zu ambivalenter Emotion inspirieren lässt? Die Tragikomödien von Aki Kaurismäki und vor allem Lars von Triers Endzeit-Parabel „Melancholia“ standen als Inspirationsquelle für einige neue Stücke Pate.

Der dritte im Bunde ist der britische, heute im Elsass lebende Vibrafonist Jim Hart. Er steckt farbenreich mäandernde Klangräume auf seinem Vibraphon ab und reitet – auch wenn endlos viele Töne frei werden – unerschütterlich die gemeinsame emotionale Welle. Vieles kommt aus der zeitgenössischen europäischen Kunstmusik. Noch mehr fließen afrikanische Balafon-Stilistiken ein. Aber die Haupt-Inspirationsquelle bleibt bei allen dreien die eigene Fantasie. Am Ende waren Daniel Erdmann, Saxofon, Theo Ceccaldi, Violine sowie Jim Hart am Vibrafon genauso überwältigt wir ihr Publikum.

Text und Fotos: Stefan Pieper

 

 

 

 

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