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Jazzzeitung

2011/05 ::: seite 22

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Inhalt 2011/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Michel Petrucciani no chaser: Feuilleton!

TITEL - Musik am Rand?
Zum 12. Darmstädter Jazzforum

DOSSIER - The Best Die Young
Ungelebte Lebensläufe · Von Hans-Jürgen Schaal

Berichte
Leipziger Jazztage // „Jazz auf Reisen“-Jubiläum mit Dusko Goykovich im Neuburger Birdland // Jazzfestival Saalfelden 2011 // Jazz Festival Viersen 2011 // Willisau Jazz Festival 2011

Portraits
Eddie „Lockjaw“ Davis // Pianist Stefano Battaglia // Quartett Fattigfolket // Sängerin Yara Linss // Nürnbergs Jazz-Szene // Matthias Winckelmann // Walter Bittners Zakedy Music

Jazz heute und Education
Die neue Hochschule für Kunst, Design und Populäre Musik in Freiburg // Der BMW Welt Jazz Award im dritten Jahr // Unter der Lupe: das Bayerische Jazzinstitut in Regensburg // Abgehört: Im Zick-Zack aus der Stadt
John Scofields Solo über „Out Of The City“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

 

Basies beste Mitstreiter

Vor 25 Jahren verstarb Eddie „Lockjaw“ Davis (1)

„Basie-ites“ nennt man bisweilen in der angloamerikanischen Fachpresse jene Musiker, die man mit dem Orchester und der Klangwelt Count Basies assoziiert. In unregelmäßiger Reihenfolge stellt Marcus A. Woelfle einige dieser Größen in der JazzZeitung vor.

Vielleicht kennen Sie das Phänomen: Man hört ein Album von Count Basie aus den 50er-Jahren oder lauscht einer Jam Session, die Norman Granz in den 70er-Jahren organisiert hat. Die Musik swingt angenehm plätschernd dahin. Doch dann setzt plötzlich Eddie „Lockjaw“ Davis’ mächtiges, siedend hottes Tenorsaxophon ein. Das ist meist ein magischer, elektisierender Moment, in dem gleichsam der Energiepegel der Aufnahme deutlich angehoben scheint. Aus Hunderten von Saxophonisten ist er herauszuhören, und das schon nach ein, zwei, drei Tönen! Eine kurze, imposante Einstiegs-Phrase „Lockjaws“, und man hat den Eindruck, mit einem Schlag werden die Batterien der Mitspieler (und der Hörer) aufgeladen – und dies auch, wenn die übrigen Musiker die eigentlichen Stars der Aufnahme sind, ja selbst, wenn „Lockjaw“ nicht einmal in Hochform ist.

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Besonders frappierend sind diese imposanten Einstiege gerade in den Blues-Aufnahmen „Lockjaws“. Gibt es ein Genre, in dem mehr Klischees herrschen als bei unserem altehrwürdigen Freund, dem Zwölftakter? Und doch: Mit die unerwartetsten Blues-Einstiegsphrasen stammen von „Lockjaw“, etwa auf Basies Aufnahme „After Supper“ (1957).

„Lockjaws“ Phantasie war von unerschöpflichem Reichtum. Der am 3. November 1986 gestorbene Musiker war sicherlich nicht nur einer der hottesten Saxophonisten aller Zeiten, sondern auch einer der originellsten. Man wird ihm daher nicht gerecht, wenn man versucht, ihn fein säuberlich in eine stilistische Schublade einzuordnen. Meist wird er in einer gewissen Hilflosigkeit dem Mainstream zugeordnet – ein Begriff, der zwar seine Zwischenstellung zwischen Swing und Bop erfasst, nicht aber seine außerordentliche Eigenständigkeit. Als seine Lieblingssaxophonisten und Lehrmeister gelten Coleman Hawkins, Herschel Evans und vor allem Ben Webster. („They used to call me ‚Little Ben’ when I first started out, which made me feel very hip.”) Affinitäten zur geschmeidigeren Tenorschule à la Don Byas zum einen (Ornamentik, Legato-Phrasierung), den rabiaten Texas Tenors zum anderen (Virilität, Volumen) sind hörbar, ebenso eine gewisse Nähe zu den Honkern des Rhythm und Blues. (Einige Aufnahmen der frühen Jahre, etwa Leapin’ On Lennox von 1947, das den vielleicht lautesten Tenorsound der Jazzgeschichte dokumentiert, sind auch noch ausgesprochener R&B). Verweist Davis’ expressiver, vibratoreicher Sound zwar auf die großen Swing-Tenoristen, so setzt seine Phrasierung doch den Bebop voraus. Man hat aber kein gutes Gefühl dabei, wenn man „Lockjaws“ Individualstil partout auf Einflüsse und Einflüsschen zurückzuführen trachtet, denn der Eigencharakter seiner Musik deklassiert solche Vergleiche zu lediglichen Anhaltspunkten. Das kann jeder nachprüfen, der „Lockjaw“ an der Seite anderer stilbildender Saxophonisten hört, etwa an der Seite des Stammvaters Hawkins (in Night Hawk von 1960).

Ist es auch leicht Swing-, Bop- und R&B-Elemente in Davis’ Spielweise auszumachen, so muss doch – gerade wenn man am Begriff „Mainstream“ mangels eines besseren festhält – auf die Modernität seiner Tonsprache hingewiesen werden: Die Soli des Autodidakten offenbaren (eher unterschwellig als offensichtlich) kühnes harmonisches Denken, unkonventionelle Rhythmik und ein Bestreben, die Ausdrucksmöglichkeiten des Saxophons zu erweitern. Beschränken wir uns hier auf Dynamik und Klangfarbe: Nur wenige Tenoristen hatten innerhalb eines Solos so unterschiedliche dynamische und timbrische Schattierungen auf Lager wie „Lockjaw“:. Darin war er wirklich „Frogs“ Blutsbruder. War ein Ton ein zartes Wispern, konnte der nächste schon gebrüllt sein. Vor allem am Ende einer Phrase klingen die Töne oft wie herausgebrüllt, was einen etwas cholerischen Eindruck vermittelt, auf jeden Fall aber schon die Spannung bis zur nächsten Phrase aufrechterhält.

Vor allem hatte aber kaum ein Saxophonist vor oder nach „Lockjaw“ einen so machtvollen Sound. Eddie „Lockjaw“ Davis klang oft rau und barsch: Er spielte Uptempo-Stücke mit anfallhafter Wucht und Blues mit dem Selbstbewusstsein eines Löwen. (Das tat er schon in der Bebop-Ära. „Hollerin’ & Screamin’“, 1946 mit Fats Navarro eingespielt, belegt dies schon im Titel. Und welch Humor steckt in seinem „Oh Susanna“–Zitat, mit dem er sein Solo eröffnet.) Und doch ist seine Sensibilität immer fast mit Händen zu greifen. Wenn er etwa in Balladen auf seinem Horn Geschichten erzählt, hört man, dass er es tat wie jemand, der es muss, und nicht, weil man das aus Gewohnheit eben auch tut. Dabei hielt er sich an die Essenz der Ballade, die nie ein Vorwand zu instrumentaler Geläufigkeit wurde. „Most young musicians can’t play ballads“, erklärte er um 1960 „All the emphasis now is on speed, on how fast you can play. Even when they’re supposed to be playing ballads, they want to prove they can play fast.” Dabei war ihm die Wirkung auf einen breiteren Hörerkreis nicht unwesentlich. 1966 schreibt er: „If you take a ballad or a beautiful melody and add a little rhythm, but don’t get too involved, you may end up with something that can have quite a wide appeal. The approach is different, but the tune can still be there for those who wish to hum or whistle with it.” Solch eine Philosophie, die er selbst nicht immer befolgte, konnte er sich erlauben, denn er hätte nicht kitschig oder trivial klingen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Warum man, schon Jahre vor dem Aufkommen des Free Jazz Saxophone als „axe“ bezeichnete, wird klar, wenn man ihn hört und sieht.

Die Beziehung zu seinem Saxophon war etwas Besonderes. Der Künstler selbst bekannte: „I deliberately handle the horn the way I do, to show I’m its master! I’ve always noticed how delicately so many tenor players handle it, as though it commanded them. I try to show that I have command at all times, whether I’m playing or just holding it. You take charge, it’s yours, and I want the audience to feel I’m in complete command. Otherwise you can give the impression the horn is too big for you, whether you play it or not.”

Was „Lockjaw” unter Verantwortung für sein Instrument verstand, belegt eine Anekdote, die mir der Tenorist Roman Schwaller mitgeteilt hat, der wie „Lockjaw“ selbst jahrelang mit dem Tenoristen Johnny Griffin musiziert hat. Der junge Kollege erlebte 1983 Davis als „Supertyp mit ziemlich harter Schale“. Schwaller war damals sein Instrument, eine Super Balanced Action, in Paris im X-Ray Automaten stecken geblieben und war dabei völlig verbogen. Er brachte es dann zu einem Münchner Instrumentenbauer und fuhr anschließend nach Hause in die Schweiz. „Zwei Tage später war ich in Zürich, weil da der Klaus Weiss und der Isla Eckinger mit dem Lockjaw in der Widder Bar gespielt haben. Ich hatte die Ehre, mit den Herrschaften zu essen, und dann habe ich dem Lockjaw die Geschichte von meinem Horn erzählt. Der war wie von der Tarantel gestochen. Was mir wohl einfallen würde, hier ganz relaxed mit ihnen zu essen und mich nicht um mein Horn zu kümmern.“ Dabei fiel der Satz „Your horn is your woman!” Es war „Lockjaws” Meinung, dass man sich „in erster Linie” um sein Horn zu kümmern habe. Er erklärte dem Schweizer Kollegen, dass es ein Unsinn sei „mit einem normalen Instrumentenbauer, dass man nicht auf dem Horn rumhämmern darf und nur Selmer in Paris könnte das machen, undsoweiterundsofort. Mir ist das Schnitzel im Hals steckengeblieben und ich habe am nächsten Tag sofort nach München angerufen, er soll das Horn nicht anfassen. Danach habe ich einen Deal mit Selmer (über Johnny Griffin) ausgemacht und bin mit dem kaputten Horn nach Paris geflogen.“

Sein lautes Organ ließ Eddie Davis erstmals am 2. März 1922 im kalifornischen Culver City erschallen. Lexika, die von Leonard Feather abgeschrieben haben, nennen als Geburtsjahr 1921. Kaum hatte er sich in den späten 30er-Jahren ein Secondhand-Tenor und ein Lehrbuch gekauft, stand der Autodidakt acht Monate später schon auf der Bühne. Seine erste Sporen verdiente er sich in der Band von mittlerweile Jimmy Gorme, der in Philadelphia arbeitete und wohl nie Platten machte. Schon in dieser Zeit soll der Saxophonist, der sich zunächst an Hawkins, Ben Webster und Herschel Evans orientierte, seinen machtvollen Sound besessen haben. Nachdem er Gorme verlassen hatte, ging er nach New York und arbeitete in Clark Monroe’s Uptown House, neben Minton’s Playhouse die wichtigste Experimentierstätte des Bebop. Eddie Davis gehörte wie Charlie Parker zu jener letzten Musiker-Generation, die noch als Selbstverständlichkeit die Schule der Swing-Bigbands durchlief. Er wirkte 1942 bis 1944 beim Ex-Ellington und Ex-Goodman-Trompeter Cootie Williams und saß dort direkt neben R&B–Urgestein Sam „The Man“ Taylor. Mit Williams betrat er auch 1944 erstmals ein Aufnahmestudio. Weitere Erfahrungen sammelte er 1944 beim soliden Lucky Millinder, 1945 / 1946 bei Andy Kirk, einem Großmeister des Kansas City Swing, und schließlich 1946 in der letzten Bigband Louis Armstrongs. Damals begann auch schon das Bigband-Sterben.

In den Jahren 1945 bis 1952 leitete Davis eine eigene Combo, die überwiegend in Minton’s Playhouse als Hausband auftrat.

Ab 1946 legte er auch Platten unter eigenem Namen vor. In seinem Frühwerk hat er mit Beboppern wie Fats Navarro, Al Haig und Sadik Hakim zusammengearbeitet. Ein Aufnahmeserie von 1946 überrascht durch medizinische Titel wie Fracture und Calling Dr. Jazz oder Lockjaw, was Mundsperre oder Kinnbackenkrampf heißt. Das Stück wurde ein Hit, dem er seinen Spitznamen verdankte, der später oft zu „Lock“ oder „Jaws“ abgekürzt und auch auf sein ausgeprägtes Kinn bezogen wurde sowie auf seine Art, sein Instrument im Mund zu halten, die von Alun Morgan folgendermaßen beschrieben wird: „His embouchure is unorthodox, the mouth champed around the horn, head thrown back as if he is trying to peer at the audience from over the top of the saxophone.“ Übrigens blieb „Jaws“ beim Spielen selbst heißester Passagen ganz cool. Manchmal strich er sich nach einem wilden Solo über die Haare und erklärte den Hörern: „No sweat!“ „The Fox“ ist ein weiterer Spitzname des Tenoristen, der 1947 ein Stück namens Foxy aufnahm.

Von 1952 bis 1953 (sowie 1957 für eine Europa-Tournee und 1964 bis 1973) gehörte „Lockjaw“ fest zum Orchester Count Basies, einem der wenigen Bandleader, dem es vergönnt war, nach dem Bigband-Sterben wieder Fuß zu fassen. Für Eddie „Lockjaw“ Davis bedeutete das Jahr bei Basie den Durchbruch. Das von Ernie Wilkins arrangierte Jaws war eines der Feature-Stücke bei Basie. Die Affinität zwischen „Lockjaw“ und Count Basie ist leicht zu erklären. Der Count war ein großer Meister der Einfachheit, der mit einem Minimum von Tönen ein Maximum an Gehalt und Spannung erzeugte. Vor dem relaxten Hintergrund der Rhythmusgruppe Basies nimmt sich Davis’ Solistik noch dramatischer aus. Der Count liebte es, in seiner Band Tenoristen mit kontrastierender Spielweise zu beherbergen, seit die von 1937 und 1939 währende Partnerschaft zwischen dem hotten Herschel Evans und Lester Young, dem Urbild aller coolen Saxophonisten, so erfolgreich verlaufen war. Noch extremer wirkte im ersten Jahr seiner Bandzugehörigkeit der Kontrast zwischen Davis und dem Young-Jünger Paul Quinichette. 1957, als „Lockjaw“ am berühmten Album „Atomic Basie“ sowie an Live-Aufnahmen mitwirkte, die später als „Autumn In Paris“ herauskamen, stieß er auf ein bereits bestehendes Tenor-Tandem: Frank Wess und Frank Foster. Die beiden waren beileibe keine coolen Saxophonisten, aber hörte man sie vor oder nach „Lockjaw“, kam man nicht umhin, sie als seinen „coolen“ Konterpart zu empfinden.

(Fortsetzung folgt)

Marcus A. Woelfle

Rundfunk-Tipp:

Donnerstag, 3. November 2011, BR Klassik, 23.05–24.00
All that Jazz: „Lockjaw“ anno 1960 – Zum 25. Todestag des Tenoristen Eddie Davis, mit Marcus A. Woelfle

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