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Jazzzeitung

2011/05  ::: seite 10-11

The Best Die Young

 

Inhalt 2011/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Michel Petrucciani no chaser: Feuilleton!

TITEL - Musik am Rand?
Zum 12. Darmstädter Jazzforum

DOSSIER - The Best Die Young
Ungelebte Lebensläufe · Von Hans-Jürgen Schaal

Berichte
Leipziger Jazztage // „Jazz auf Reisen“-Jubiläum mit Dusko Goykovich im Neuburger Birdland // Jazzfestival Saalfelden 2011 // Jazz Festival Viersen 2011 // Willisau Jazz Festival 2011

Portraits
Eddie „Lockjaw“ Davis // Pianist Stefano Battaglia // Quartett Fattigfolket // Sängerin Yara Linss // Nürnbergs Jazz-Szene // Matthias Winckelmann // Walter Bittners Zakedy Music

Jazz heute und Education
Die neue Hochschule für Kunst, Design und Populäre Musik in Freiburg // Der BMW Welt Jazz Award im dritten Jahr // Unter der Lupe: das Bayerische Jazzinstitut in Regensburg // Abgehört: Im Zick-Zack aus der Stadt
John Scofields Solo über „Out Of The City“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

 

The Best Die Young

Ungelebte Lebensläufe · Von Hans-Jürgen Schaal

Bix Beiderbecke, Charlie Christian, Clifford Brown: Wir kennen diese Musiker und kennen sie doch nicht. Denn sie und viele andere starben, bevor sie auch nur 30 Jahre alt wurden. Sie hätten viele Jahre vor sich gehabt, ungelebtes Leben, unbekannte Entwicklungen, vielleicht: Sternstunden des Jazz.

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Wäre Miles Davis keine 30 Jahre alt geworden, gäbe es weder „Kind Of Blue“ noch „Sketches Of Spain“ oder „Bitches Brew“. Eigentlich hätten wir keine Ahnung, was für ein Musiker Miles war. John Coltrane war mit 30 noch nicht einmal Bandleader, weit entfernt von „Giant Steps“ und „My Favorite Things“, geschweige denn „A Love Supreme“ und „Ascension“. Auch Thelonious Monk, Charles Mingus, Eric Dolphy hatten mit 30 Jahren noch keine Aufnahmen unter eigener Regie gemacht. Selbst Art Blakey war bereits 35, als es mit den Jazz Messengers erst richtig losging, Ornette Coleman 31, als die Platte „Free Jazz“ entstand. Wären sie in jungen Jahren gestorben, läsen sich die Jazzbücher heute völlig anders.

Viele Jazzmusiker wurden keine 30 Jahre alt. Sie hatten nicht die Möglichkeit, zu fertigen Künstlern und erfahrenen Bandleadern zu reifen. Wie hätte ihre spätere Musik geklungen? Was hätten sie erlebt? Wie hätten sie den Jazz verändert? Wir wissen es nicht. Aber manchmal können wir ein bisschen davon träumen. Zehn fantastische Versuche.

Gin: Bix Beiderbecke

Hätte Bix Beiderbecke zum Beispiel den Gin nicht fässerweise getrunken, dann hätte er vielleicht nicht mit 28 Jahren schon den Löffel abgeben müssen. Stattdessen wäre der legendäre Kornettist in der Depressionszeit mit dem Schiff nach Europa gefahren, man hätte ihn in England und Frankreich gefeiert, und er hätte in Mecklenburg das Geburtshaus seines Großvaters besucht. „Ick bin särr moved“, soll er, vor der Hausfassade stehend, gesagt haben, sogar der Berliner Lokal-Anzeiger berichtete davon. Daraufhin erfasste eine unglaubliche Jazz-Begeisterung ganz Deutschland, die Auswirkungen auf die Kulturpolitik des heraufdämmernden Nationalsozialismus’ waren enorm: „Vaterland der Jazzmusik“, „Deutschlands Jazz über alles“, Schlagzeilen dieser Art. Rechtzeitig zur Swing-Ära kehrte Beiderbecke aber zurück nach Amerika: George Gershwin bot ihm nämlich an, etwas für ihn zu komponieren, eine kleine Kornett-Rhapsodie, inspiriert von Bix’ Klavierstücken. Doch Beiderbecke lehnte am Ende ab, das Notenlesen ging bei ihm immer noch nicht flott genug. Also machte Gershwin nur Klavierstücke daraus und nannte sie seine „Three Preludes“. Dafür spielte Beiderbecke 1938 kurzzeitig Kammerswing im schlagzeuglosen Benny Goodman Quartet neben Goodman, Lionel Hampton und Teddy Wilson – ein Meilenstein der Jazz-Geschichte! Während des Weltkriegs sah man ihn gelegentlich in der 52. Straße auf Jamsessions, aber es war ihm da oft zu laut. Über die aufgeregten Noten-Kaskaden eines Dizzy Gillespie soll er nur den Kopf geschüttelt haben. Lieber blieb er zu Hause: Auf der Upper Westside hatte er eine kleine Wohnung im 13. Stock, eine kleine Freundin italienischer Abstammung und ein kleines, aber akzeptables Klavier. Gleich nach dem Krieg – er war erst Anfang 40 – ließ Beiderbecke dann aber erstaunlich gewagte Trompetenklänge hören, mäandernde Linien zu impressionistischer Harmonik. Mit jungen Musikern wie Kai Winding, Zoot Sims und Jimmy Raney startete er damals ein kontrapunktisch agierendes Oktett und wurde kurzzeitig zum Headliner der europäischen Cool-Jazz-Festivals. Leider hatten die jungen Leute, mit denen er sich umgab, keinen guten Einfluss auf ihn. Was Alkohol und Marihuana nicht geschafft hatten, erledigte das Heroin. Immerhin wurde er 48.

Heroin

Dem Heroin fielen in den Fünfzigerjahren eine Menge Jazzmusiker zum Opfer, auch der Pianist Carl Perkins. Anderenfalls wäre er vielleicht genauso bekannt geworden wie sein vier Jahre jüngerer Namensvetter, der Rockabilly-Gitarrist Carl Perkins (1932–1998). Schließlich galt Klavierspieler Perkins als „the baddest tickler“ von Kalifornien und war eine echte Konkurrenz für Horace Silver im Osten, jedenfalls was das Soul-Funk-Hardbop-Piano angeht. Perkins hatte zwar ein Handicap – sein linker Arm war nach einer Kinderlähmung steif geblieben –, aber er machte das Beste daraus: Solche Elefanten-Bässe, wie Perkins sie mit Ellbogen und Unterarm schlug, beherrschte sonst keiner. Die Rhythm-and-Blues-Leute rissen sich daher um dieses Piano-Tier, Kollege Cecil Taylor entwickelte das Ellbogenspiel sogar zum Free-Jazz-Konzept weiter. Das war nicht ganz Perkins’ Sache, aber sicherlich hätte ihn seine Behinderung – wenn er die Überdosis von 1958 überlebt hätte – noch zu Großem inspiriert. Für Jackie McLeans grell-wüste Ausflüge in den Freebop wäre er genau der richtige Begleiter gewesen. Auch auf E-Piano oder Hammondorgel hätte er gewiss Originelles hervorgebracht: Man kann ihn sich gut im Mittelpunkt einer deftigen Blues-Funk-Jam oder einer esoterischen Psycho-Jazz-Séance vorstellen. In den Siebzigerjahren grub sich Perkins dann seine eigene kleine Höhle zwischen elektrischen Sounds und Worldmusic-Rhythmen, vorgestrige Kritiker sprachen von „Cluster-Rock“. Nicht zuletzt aufgrund seines Handicaps wurde er dabei zu einer kleinen Kultfigur, für deren Auftritte man in Europa und Japan bald gewaltige Gagen bezahlte. Seine wenigen Interviews wurden wie Offenbarungen diskutiert. 1982 gründete er in Malibu
Beach das AMCHP (Africa Music Center for Handicapped People), aus dem von da an jedes Jahr ein neu entdecktes „Genie der Musikwelt“ gemeldet wurde. Man sah Perkins auf Fotos zuletzt nur noch in weißen Glitzergewändern. Er starb 2008 im Kreis seiner Jünger. Es hieß, er habe sich selbst in einen höheren Zustand „transferiert“.

Herzschwäche

Eine der berühmtesten Jamsessions der Jazzgeschichte fand 1934 in Kansas City statt, und zwar in einem Club namens Cherry Blossom. Das Fletcher Henderson Orchestra gastierte in der Stadt, der Tenor-König Coleman Hawkins war da, die Musiker von K.C. fühlten sich wie elektrisiert: Alle Tenorsaxophonisten strömten ins Cherry Blossom zur Jam-Schlacht mit dem Tenor-König. Zwei von Hawkins’ Herausforderern haben sich später tief in die Jazzgeschichte eingegraben: Lester Young und Ben Webster. Andere waren weniger glücklich: Herman Walder kam zeitlebens nicht groß über Kansas City hinaus, Dick Wilson starb schon 1941. Der Begabteste der Herausforderer war vielleicht Herschel Evans, bald danach Saxophon-Star bei Count Basie, wo er sich regelmäßig mit Lester Young duellierte. Diese Duelle waren aber Gift für ihn, denn Evans litt an einer Herzschwäche und erlag ihr mit 29 Jahren. „Tex“ lautete sein Spitzname, weil er aus Texas stammte, und er hatte diesen lauten, aggressiven Sound der „Texas Tenors“, der später dank Buddy Tate und Arnett Cobb legendär wurde. Hätte „Tex“ Evans das Saxophon rechtzeitig gegen ein anderes hübsches Instrument ersetzt, ein Klavier zum Beispiel, hätte sein Herz vielleicht länger mitgemacht. Zwar wäre er ums Notenlesen-Lernen nicht herumgekommen, aber vom Klavierstuhl aus hätte er mit seiner Band einen beispiellosen Orkan entfesselt. Denn wie man Saxophone nach vorne bringt, wusste keiner besser als er. Um gegen diese Saxophonfront zu bestehen, hätten sich auch seine Trompeter zur Höchstform gesteigert. Basie wären die Musiker davongelaufen, das Tex Evans Orchestra hätte die Ballsäle gerockt, kein Mensch wollte da in den Vierzigern noch Glenn Miller hören. Als der Jazz kühler und intellektueller wurde, machte Brillenträger Evans aber ebenfalls eine gute Figur: Tex’ Three Tenors, ein Septett aus drei Tenorsaxophonen, Gitarre und Klaviertrio, brachte nach dem Krieg eine Art experimentellen Rhythm&Blues sogar in die klassischen Konzertsäle. „Ich bin kein Pianist, ich bin Tenortreiber“, sagte „Tex“ gelegentlich. Legendär wurde die Zusammenarbeit der Band mit Ray Charles: Die Plattenfirma Impulse nahm daraufhin lieber Evans als Charles unter Vertrag. Und bei Impulse entwickelte „Tex“ schließlich eine ganz eigene Spielart von Avantgarde: New Jazz für Leute, die New Jazz gar nicht mögen.

Zweiter Weltkrieg

Der Zweite Weltkrieg hat die Entwicklung des Jazz gehörig durcheinander gebracht. Manchem Musiker brachte er auch den Tod – nicht auf dem Schlachtfeld, aber durch miserable hygienische Bedingungen. Der von J.J. Johnson bewunderte Posaunist Fred Beckett diente noch bei der U.S. Army, als er an Tuberkulose erkrankte; er starb kurz nach dem Krieg mit 29 Jahren. Hätte er ein paar Monate länger durchgehalten, wäre er vielleicht dank der neuartigen Antibiotika gerettet worden – und hätte sich stattdessen unheilbar mit dem grassierenden Bebop-Virus infiziert. Berühmt wäre heute seine dreitägige Bebop-Session von 1948 für das Label Savoy – mit Charlie Parker und Fats Navarro und seinem früheren Chef Lionel Hampton (am Schlagzeug!). Kein anderer Bop-Bläser spielte damals so reiche Melodielinien wie der Posaunist Fred Beckett, keiner entwickelte seine Soli mit solch dramatischer, großformatiger Wucht. Jazzkritiker, die Beckett noch nicht live gesehen hatten, vermuteten regelmäßig, er müsse eine Ventilposaune spielen. „Cindy Bop“, ein schneller Blues von 1951 mit markanten Septim-Sprüngen, wurde sein bekanntestes Stück und bald ein gefeierter Jazz-Standard. Von 1953 bis 1956 und noch einmal zu Beginn der Sechzigerjahre war Beckett allerdings von der Bildfläche verschwunden, um seine Alkohol- und Drogensucht auszukurieren. 1964 ging er nach Paris und siedelte später nach Kopenhagen über. Beckett jobbte jahrelang in europäischen Radio-Orchestern und wurde oft zu Fes-tivals in Berlin, London, Stockholm und anderen Städten eingeladen, um nostalgisch gemeinte Bebop-Allstar-Sessions zu leiten. Fast unbemerkt verfeinerte er dabei aber den Bop zu einer hochkomplexen, polyphonen Kunstform: Vor allem seine multilinearen Ausdeutungen von Charlie-Parker-Stücken eröffneten ganz neue Klang- und Ausdruckswelten. Eine Reihe von Parker-Tribut-Alben, die er ab 1972 aufnahm, leiteten die True-Bop-Bewegung ein und machten Beckett als „True Bird“ oder „Bone Bird“ weltbekannt. Als er mit 55 Jahren eine Professorenstelle in Stockholm annahm und sogar der junge König Carl XVI. Gustaf bei ihm studieren wollte, wurde die schwedische Hauptstadt schnell zur „Bop Capital of the World“. Becketts Denkmal steht am Strandvägen auf der Insel Östermalm.

Tuberkulose

Auch Charlie Christian starb an der Tuberkulose – und das schon mit 25 Jahren. Hätte ihn der Impresario John Hammond ein wenig früher entdeckt, wären ihm die ärmlichen Lebensumstände, in denen er sich die Infektionskrankheit zuzog, wohl erspart geblieben. Schon als Kind beherrschte Christian alle möglichen Instrumente, kaprizierte sich dann aber auf die Gitarre, die er gar nicht hatte: Ihn faszinierte es nämlich, selbst eine zu bauen. Später erforschte er in führenden Swing- und Bop-Combos verschiedene neue Spieltechniken und experimentierte als einer der Ersten mit der elektrischen Verstärkung des Instruments. Als Ende der Vierzigerjahre aber alle Gitarristen elektrisch spielten, verlor er schnell wieder das Interesse an der Gitarre, versuchte sich stattdessen am Vibraphon und dann am Fender-Bass und stürzte sich 1962 aufs elektrische Wurlitzer-Piano. Daneben betrieb er ein kleines Techniklabor, stellte Berechnungen zur Konzertakustik an, entwickelte eine neue Tonskala nach logarithmischen Prinzipien und war dreimal verheiratet. 1968 stellte er den von ihm selbst entwickelten CC-Modulator vor, der in der Fusion-Musik einige Jahre lang mit dem Moog-Synthesizer konkurrierte und schließlich von der Firma ARP weiterentwickelt wurde. Jan Hammer featurete den CC-Modulator auf dem Album „For CC“ von 1975. Charlie Christians Forscherdrang schien indessen unersättlich und beschränkte sich keineswegs auf das Gebiet der Technik: Auch als Tiefseetaucher und Alpinist hat er sich versucht, bestieg zwei Achttausender und leitete noch als 55-Jähriger (1971) sechs Monate lang eine Expedition durchs Amazonasgebiet. Inzwischen recht vermögend, beschränkte Christian seit dieser Zeit seine Basteleien auf den eigenen Hobbykeller, fing dafür aber das Schreiben an. Seine Memoiren „Jazz and the War“ erhielten den Pulitzer-Preis und sind bis heute eine unverzichtbare Quelle der Jazzhistoriker. Die humorvollen Bücher über seine Extremreisen wurden fast alle zu Bestsellern.

Sonny Berman

Weitgehend vergessen ist heute Sonny Berman, der wohl talentierteste weiße Trompeter des Bebop. Schon als Teen-ager – während des Kriegs – glänzte der Junge aus New Haven in den führenden Bigbands. Als Benny Goodman ihn aus seiner Band hinausekelte, weil er auf Dauer die Konkurrenz des jungen Solisten fürchtete, fand der Trompeter bei Woody Herman einen neuen Job, aber auch die Heroinnadel und bald – mit nur 21 Jahren – den Tod. Hätte er bei Goodman etwas weniger angsteinflößend geglänzt, hätte ihm der King of Swing vielleicht eines Tages sogar die Leitung seiner Band anvertraut: Sonny Berman hätte das Orchester unbeschadet durch die Krisenjahre der Bigbands gebracht und mit ihm schließlich ein neues Zeitalter des großformatigen Jazz eingeläutet. Dann, in den späten Fünfzigerjahren, wäre Berman scheinbar mühelos der orchestrale Brückenschlag gelungen – zwischen Swing, Cool, Third Stream, Westcoast, Pre-Free und Hollywood. Das Berman-Orchester triumphierte gleichermaßen in Tanglewood wie in Newport, gastierte mit einer Jazzoper von Aaron Copland in der Met, sorgte mit einer modernistischen Benny-Goodman-Retrospektive für Aufsehen und schuf unvergessliche Soundtracks für mehrere Marlon-Brando-Filme. Zu den Haus-Arrangeuren des Orchesters gehörten damals Leonard Bernstein, Gunther Schuller und Burt Bacharach. Auch Bermans Trompetenduette mit seinem Satzführer Shorty Rogers waren legendär. In den Sechzigern öffnete sich Berman zunehmend auch den Einflüssen von Easy Listening und Bossa Nova, holte aber zugleich Avantgarde-Bläser wie John Coltrane, Grachan Moncur III und Archie Shepp in die Band und verwandelte so die Trends der Zeit in gewaltige künstlerische Statements, die die Musikwelt erschütterten. Karlheinz Stockhausen nannte Berman 1971 sein „unerreichbares Ideal“. Drei Jahre später wurde die Berman-Band sogar als Welt-Botschafter der Vereinten Nationen verpflichtet und reiste fortan elf Monate im Jahr um den Globus. Dabei entstand 1976 das legendäre Album mit Fred Beckett in Stockholm: „True Bop goes Berman“.

Die „Piano Gang“

Die „Piano Gang“ hätte eine der populärsten Jazzformationen der Sechzigerjahre werden können. Wären sie nicht alle vor ihrem 30. Geburtstag gestorben, hätten sich drei Bop-Pianisten in ihr zu einem ganz ungewöhnlichen Bandformat zusammengefunden. In der Regel spielte die „Gang“ einfach als Duo an zwei Klavieren – in wechselnder Besetzung. Die kultigen Höhepunkte aber bildeten natürlich das artistische „Roundabout“-Trio an zwei Flügeln oder das Fun-Trio an einem einzigen Instrument. Zuweilen formte man auch ein Pianisten-Quartett an zwei Klavieren, wobei der „Senior“-Gastpianist meist der in Berlin aufgewachsene Nat Jaffe war, der mit Louis Armstrong und Billie Holiday gespielt hatte: In dieser Vierer-Konstellation ging es dann vorwiegend traditionell und gut gelaunt zur Sache. Waren die drei der „Piano Gang“ aber unter sich – Wade Legge, Richie Powell und Dick Twardzik –, gab es keinerlei stilistischen Grenzen. Ob Erroll-Garner-Parodie oder Charlie-Parker-Paraphrase, ob Free-Jazz-Caprice oder Monk-Hommage, ob Cool-Jazz-Bach oder Fünfvierteltakt-Etüde: Die drei Bop-Pianisten konnten Jazzhörer jeglicher Couleur für sich gewinnen und auch Jazz-Unkundige äußerst kurzweilig unterhalten. Mehrere Fernsehauftritte bei ABC und NBC, Engagements in Broadway-Theatern und regelmäßige Tourneen durch Europa und Japan sprechen für sich. Die Idee zu dem Projekt kam ursprünglich von Nesuhi Ertegun, dem Produzenten bei Atlantic, der mit der „Gang“ einige Jahre lang jedes Jahr ein neues Album aufnahm. Selbst ein Albert Ayler, Don Cherry oder Jimi Hendrix outeten sich damals als Fans der kurzweiligen „Gang“-Alben. 1970, als die Rockmusik lauter wurde und der Jazz elektrisch, fand die Band bei MPS eine neue Label-Heimat: „Nie klangen wir besser als im Black Forest“, sagte Wade Legge einmal. Irgendwann löste sich die „Gang“ dennoch auf, aber ganz zu Ende ging es nie: Immer wieder fanden sich die drei zu Revivals und Reunions zusammen. „Gut, dass ich damals vom Heroin wegkam“, sagte der 51-jährige Dick Twardzik 1982. „Ich hätte sonst eine Menge Spaß verpasst.“

Autounfälle

Zu den häufigsten Todesursachen bei jungen Jazzmusikern gehörten früher die Autounfälle. Da kam vieles zusammen: überlange Tourneereisen, fahrerischer Leichtsinn, unausgereifte Fahrzeugsicherheit. Eines der frühen Opfer – schon 1932 – war der Klarinettist Frank Te-schemacher aus der legendären „Austin High School Gang“ von Chicago. Wäre er nicht mit 25 Jahren gegen einen Baum geschleudert worden, hätte er das Zeug gehabt, sich auch in der Nachkriegszeit noch zu behaupten. Wahrscheinlich wäre es ihm gelungen, seinen eigenwilligen, sprunghaften Stil den neuen Herausforderungen anzupassen und als einer von wenigen Klarinettisten den Mainstream-Jazz der Fünfzigerjahre zu erobern. Zunächst hätte ihn Norman Granz natürlich für die frühen Konzerte von „Jazz at the Philharmonic“ wiederentdeckt. Da jammte Teschemacher dann nicht nur mit anderen „Oldies“ wie Coleman Hawkins und Buck Clayton, sondern auch mit Newcomern wie Charlie Parker und Illinois Jacquet. Sein Feature-Stück bei „JATP“ war „Tesche’s Treat“ auf der Basis des „Bugle Call Rag“: eine Nummer, in der der Klarinettist seinem Instrument regelmäßig die verrücktesten Sounds entlockte und das Publikum damit von den Sitzen riss. Zu seinen bekanntesten „JATP“-Auftritten gehört außerdem eine Blues-Jam von 1952 mit dem Bebop-Trompeter Howard McGhee: Beim Hören fragt man sich heute noch, welcher der beiden eigentlich die gewagteren harmonischen Übergänge bläst. Vom Dixieland-Jazz hielt sich Teschemacher dagegen fern und nannte ihn „Musik für ältliche Knaben“. 1961 – mit 55 Jahren – schockierte Teschemacher sogar viele Jazzfans, als er in Washington einen kleinen Benefiz-Auftritt zusammen mit dem Neutöner Ornette Coleman absolvierte. Ohrenzeugen berichten, die beiden hätten einen Blues von Teschemacher gespielt, der geklungen habe wie ein Free-Jazz-Stück von Ornette.

eschemacher wurde in den Achtzigerjahren als eine der gro-ßen, alten Jazzlegenden gefeiert, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und starb hochbetagt im Jahr 1994. Auch Ornette Coleman kam zu seiner Beerdigung.

Bob Gordon

Der Baritonsaxophonist Bob Gordon starb ebenfalls durch einen Autounfall – mit 27 Jahren. Er war eine der großen Hoffnungen des Cool Jazz und hätte Gerry Mulligan womöglich noch das Fürchten gelehrt. Ende der Fünfzigerjahre wäre er in den Musikerkreis des Labels Verve aufgenommen worden, hätte Ella Fitzgerald auf mehreren Alben begleitet und einige Sessions mit Oscar Peterson und Herb Ellis gemacht. Während Free Jazz und Bossa Nova in den Sechzigerjahren um die Wette eiferten, entdeckte Bob Gordon dann eher zufällig ganz andere Klänge: alte Stammestänze der Missouri-Indianer in Oklahoma. Als er zum ersten Mal einen traditionellen Kriegstanz verjazzt darbot (1966), erntete er nur vorsichtiges Interesse und viel Unverständnis. Dagegen wurde sein Album „Niuachi“ von 1968, das überwiegend auf Regen- und Totembeschwörungen der Missouri beruht, bereits als „neue Spielart des Free Jazz“ gefeiert. Heute gilt es als eines der Pionierwerke des World-Jazz, in seiner Bedeutung allenfalls vergleichbar mit Don Cherrys „Mu“. Gordon entwickelte sich in der Folgezeit zum leidenschaftlichen Musikethnologen, wobei sein Hauptinteresse immer den Indianervölkern in Nord-, Mittel- und Südamerika galt, außerdem den Inuit von Alaska und den Polynesiern auf Hawaii. Neben dem Baritonsaxophon, dem er zuweilen seltsame Obertonspektren entlockte, spielte er auch verschiedene andere Saxophon- und Klarinettengrößen sowie traditionelle Indianerflöten und archaische Trommeln, Rasseln und Lockpfeifen. In den Siebzigerjahren schloss er sich vorübergehend einer alternativen Lebensgruppe im Reservat Osage an und lebte später auch einige Jahre in Mexiko. Viel Beachtung fand seine Zusammenarbeit mit einem traditionellen japanischen Musikensemble, die beim Musikfest in Donaueschingen 1982 ihren Anfang nahm. Wenige Jahre später zog sich Gordon aber ganz aus der Musikszene zurück und gründete den Souvenirversand „Natives“. Seit einigen Jahren lebt er in einem Seniorenheim in Florida.

Clifford Brown

Als einer der größten Verluste des Jazz gilt der frühe Unfalltod des Trompeters Clifford Brown im Jahr 1956. Brown war nicht nur ein absoluter Ausnahmemusiker, sondern zudem ein ganz besonders netter Kerl, den alle mochten. Schon in jungen Jahren schien er künstlerisch „vollendet“ zu sein und seinem Vorbild Fats Navarro (der auch nur 26 wurde) mehr als nur gewachsen. Tatsächlich ist schwer vorstellbar, wie „Brownie“ seine Spieltechnik und seine Stilistik noch hätte weiterentwickeln können. Vielleicht wäre er mit dem Status quo ganz einfach zufrieden gewesen, mit der Bewunderung seiner Kollegen und der Geborgenheit in seiner jungen Familie. Ein zweites Kind wäre gekommen, ein drittes, am Ende waren es acht in dichter Folge. „Brownie“, der schon als Jugendlicher für die Schulband arrangiert hatte und mehrere Instrumente beherrschte, sorgte dafür, dass alle seine Kinder gute Musiker wurden, und trainierte sie als Familienband. Sie spielten neue, bodenständige Arrangements seiner bewährten Stücke wie „Joy Spring“ und „Sandu“ – und Vater Brown konnte es jedes Mal kaum erwarten, von seinen Tourneen wieder nach Hause zu kommen, um mit den Kindern zu üben. Das begabteste von ihnen war Lariya, die zweite Tochter: Sie wurde später die erste virtuose Euphonium-Solistin der Jazzgeschichte. Ihr Talent erklärte sie so: „Von meinem Vater habe ich die ideale Lippenmuskulatur, von meiner Mutter die Kraft: Sie hat immerhin acht Kinder geboren und großgezogen. Mein Trick aber ist: Ich hebe das Euphonium nicht, sondern befestige es zum Spielen an einer Aufhängung. Dann bläst es sich so leicht wie eine Blockflöte.“

Die Clifford Brown Family Band tourte bis in die Siebzigerjahre hinein quer durch die Staaten, spielte in Colleges und Kaufhäusern, bei Stadtfesten und Wohltätigkeitsbasaren. Dann erlebte Familienmensch Brownie mit Mitte 40 seine zweite Karriere als der eigentliche Star des Bebop-Revivals. Er spielte wieder seine bewährten Stücke „Joy Spring“ und „Sandu“ und nahm sie für SteepleChase und Red Records noch einmal auf. Die Presse schrieb: „Er ist so gut, wie er immer schon war.“

Hans-Jürgen Schaal

 

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