Jazzfest Berlin 2025: Kleine Fluchten, große Momente

„Where Will You Run When the World’s on Fire?“ lautete das Motto der diesjährigen 62. Ausgabe des Jazzfests Berlin, die vom 30. Oktober bis zum 2. November im Haus der Berliner Festspiele,  in den Clubs A-Trane und Quasimodo sowie in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche stattfand. Und obwohl die Antwort darauf ja eigentlich auf der Hand liegen sollte – „Nirgendwohin, denn irgendjemand muss ja beim Löschen helfen“ – kamen die Festivalmachenden im Lauf der vier Tage gern darauf zurück. Überzeugender als das, was dazu in Interviews, Artist Talks und bei sonstigen Gelegenheiten zu hören war, war aber in vielen Fällen: die Musik.

Denn gute Musik ist im Idealfall ja immer auch ein Ausdruck der Zeit, in der sie entsteht. Eindrücklich belegt wurde das zum Beispiel durch das Eröffnungskonzert  am Donnerstag auf der Großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele, bei dem die Altsaxofonistin Angelika Niescier mit der Cellistin Tomeka Reid und der Schlagzeugerin Eliza Salem ihr im Jahr 2023 erschienenes Album „Beyond Dragens“ präsentierte. In ihren Ansagen machte sie angenehm unverkrampft deutlich, wie einige der Stücke auf diesem Album gemeint sind – „Oscillating Madness“ etwa als Replik der aktuellen weltpolitischen Verhältnisse oder „Risse“ als Rückschau auf die überstandene Pandemie, die sie anfangs noch als Chance empfunden habe, mit der die Menschen zu einem neuen Miteinander finden (und vielleicht sogar den Kapitalismus überwinden) könnten … Viel mehr musste sie gar nicht mehr sagen – die atemberaubend virtuose, faszinierend ineinander verzahnte Musik ihres grandios improvisierenden Trios war auch so ein beeindruckender Ausdruck vielschichtigster Gefühlslagen.

Frauen in der Überzahl

Dass dieser Festivalauftakt von drei herausragenden Musikerinnen gestaltet wurde, steht für  einen erfreulichen Trend in der aktuellen Szene, in der der Anteil an Frauen prozentual deutlich höher ist als etwa in den Vorstandetagen der deutschen Industrie. Bei den 27 Konzerten des viertägigen, von insgesamt rund 6000 Musikfans besuchten Festivals waren Frauen auf der Bühne sogar in der Überzahl, und man glaubt es den Verantwortlichen sofort, dass dieses positive Verhältnis keinem feministischen Antrieb geschuldet ist, sondern schlicht das Ergebnis einer Auswahl nach qualitativen Kriterien.

 

Think big – große Formationen für großartige Musik

Ein weiterer, auf dem Festival sich manifestierender Trend scheint der zum größeren Ensemble zu sein: Vom Sextett und Septett bis hin zur Orchesterstärke – immer anspruchsvoller werden die Kompositionen und Arrangements in der gegenwärtigen Szene der (prinzipiell frei) improvisierenden Musik. Immer größer wird aber auch das Reservoir bestens ausgebildeter Instrumentalistinnen und Instrumentalisten, welche die damit verbundenen Notenberge bewältigen können. So brachte der Bassist Felix Henkelhausen ein an allen Positionen exzellent besetztes Septett auf die Bühne im Festspielhaus, um sein „Deranged Particles“ benanntes Programm aufzuführen, mit dem er die auch durch reichlich ungerade Metren „verwirrten Teilchen“ in eine Art geordnetes Chaos zu überführen versteht: So faszinierend das zugrunde liegende polyrhythmische Konzept, so begeisternd auch Henkelhausens eigenes, in ein ausführliches Solo mündendes Spiel. Und so beeindruckend schließlich das bei aller Theorie angenehm organisch-fließend klingende Ganze.

Weitere Beispiele für gelungene größere Ensembles waren Mary Halvorson’s Amaryllis Sextet und das in seiner virtuosen Spielfreude noch ein bisschen mitreißendere Patricia Brennan Septet, die beide einen großen Anteil daran hatten, dass der Samstag zum besten Tag des Festivals wurde. Auch Amalie Dahls für Berlin eigens auf zwölf Musikerinnen und Musiker erweiterte Version ihres Ensembles Dafenie als Auftakt zum letzten Tag des Festivals konnte überzeugen.

Mut zum Experiment hatte schon am zweiten Tag das Septett der Altsaxofonistin und Komponistin Signe Emmeluth bewiesen – aber zum Wesen eines hier mit überfallartigen Urschreigesängen noch unausgegoren wirkenden Experiments gehört eben auch, dass es misslingen kann.

Die beiden ambitioniertesten Großprojekte waren Barry Guys 18-köpfiges London Jazz Composers Orchestra am Festivalsamstag und Mats Gustafssons in gleicher Teamstärke am abschließenden Sonntag auftretendes Fire! Orchestra, jeweils auf der großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Beide Ensembles haben mit traditionellem Bigbandjazz nur noch wenig, mit  orchestral aufgefasster Vielfalt umso mehr zu tun und ließen mit ihren Konzerten den Gedanken aufkommen, dass es doch eigentlich Aufgabe einer zeitgemäßen öffentlichen Kunst- und Kulturförderung wäre, sich neben den etablierten sinfonischen Orchestern jeweils auch ein Jazzorchester zu leisten. Zumal die in Berlin als Uraufführung zu erlebende Komposition „Double Trouble III“ – die überarbeitete dritte Version eines ursprünglich 1989 entstandenen Werks des Bassisten Barry Guy – durchaus E-Musik-Charakter hat: Schicht um Schicht türmt sich hier ein mächtiges, rund 45-minütiges tonales Gebirge auf, in das der Komponist einzelne Klanginseln eingefügt hat, die das musikalische Geschehen verschlanken und in denen dann etwa das Altsaxofon von Mette Rasmussen (s)eine besonders anrührende Stimme erheben kann.

Mette Rasmussen spielte auch eine prominente Rolle im Fire! Orchestra des Saxofonisten Mats Gustafsson: Als Weltpremiere angekündigt, klang in Gustafssons u.a. mit Spoken-Word-Elementen, Turntables und Elektronik angereicherten, über vergleichsweise simpel rockig groovenden Rhythmen oriental anmutende Arabesken aufscheinen lassenden Programm „Words“ nicht zuletzt das lustvoll Anarchische der Punk-Vergangenheit des Musikers an. Gerne glauben würde man auch die zum Ende hin mantrahaft wiederholten Worte „Change is coming, whether you like it or not. The real power belongs to the people.“ Gefeiert wurden beide Jazzorchester des Festivals, zurecht, mit Standing Ovations.

 

Ehre, wem Ehre gebührt

Gefeiert – und gepriesen – wurden Marilyn Crispell mit dem eigentlich für ein Lebenswerk, hier aber ausnahmsweise ganz konkret für ein Solokonzert der Pianistin auf dem letztjährigen Jazzfest Berlin verliehenen Instant Award for Improvised Music 2025. Die Sängerin Lauren Newton erhielt den Albert-Mangelsdorff-Preis 2025 und wusste die Preisverleihung in einem Duokonzert mit der (ihrerseits fantastischen) Kontrabassistin Joëlle Léandre angemessen zu zelebrieren.

Highs and Lows

Gab es auch künstlerische Ausfälle auf dem insgesamt klug und stimmig kuratierten Festival?

Der wenig inspirierte und noch weniger inspirierende Soloauftritt des Pianisten Pat Thomas am letzten Festivaltag fiele einem ein. Und warum man am selben Tag auf den Auftritt der wunderbar solierenden Saxofonistin Sakina Abdou in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ausgerechnet das bereits nach wenigen Takten überlang zu werden drohende (und leider auch gewordene) Konzert des Trios The Handover um den Oud-Spieler Aly Eissa folgen ließ, wird wohl ein Geheimnis der Veranstalter bleiben. Genauso wie die rätselhafte Entscheidung, nicht den leicht bekömmlich-clubtauglichen Fusionmix des Schlagzeugers Makaya McCraven am Ende des Festivals im Quasimodo zu platzieren, sondern den Saxofonisten James Brandon Lewis. Dessen Quartett mit Aruán Ortiz am Klavier, Brad Jones am Kontrabass und Chad Taylor am Schlagzeug hätte in jedem Fall auf die Hauptbühne im Haus der Festspiele gehört und einen schönen inhaltlichen Bogen zu dem schon am zweiten Festivaltag auftretenden David Murray ziehen können: Hier der souverän überzeugende Altmeister Murray als Tenorsaxofonist, Komponist und Bandleader eines exzellenten, die Tradition wahrenden und zugleich erneuernden Quartetts, dort James Brandon Lewis in den gleichen Rollen als vergleichsweise junger Löwe und instrumentaler Gipfelstürmer.

Ärgerlich auch, aber bei einem Festival mit mehreren zeitgleich an unterschiedlichen Orten stattfindenden Konzerten wohl unvermeidlich, dass man sich wahlweise zu entscheiden hatte und dabei auch solche Acts versäumte, die man noch gern gesehen hätte: das Marta Sánchez Trio etwa im A-Trane, Tim Berne’s Capatosta und Marc Ribot im Quasimodo oder wiederum im A-Trane das Trio Sanchez / Guy / Lopez.

 

Where Will You Run?

Blicken wir zuletzt noch einmal auf das eingangs zitierte Festivalmotto. Die Frage „Where Will You Run …“ sollte in einem am zweiten Tag stattfindenden Artist Talk mit dem Bassisten Ingebrigt Håker Flaten, dem Perkussionisten Stefan González und dem Bassisten Luke Stewart ganz konkret auf die aktuelle politische Lage in den USA bezogen werden – darauf, wie diese und die zunehmende Polarisierung der Öffentlichkeit den Prozess des Musikmachens beeinflusst und welche Rolle sie in den künstlerischen Communities spielt. Dass Luke Stewart diese Frage erst einmal mit der ins Publikum gerufenen Losung „Free Palestine“ beantworten wollte, mag überraschen – er selbst zeigte sich von der ausbleibenden Reaktion darauf offenbar seinerseits überrascht, weshalb er fast ein bisschen enttäuscht anmerkte, im letzten Jahr hätte er das „an dieser Stelle noch nicht sagen“ dürfen. Was folgte, war eine etwas längliche Suada, in der Stewart sinngemäß die gesamte westliche Hemisphäre auf dem falschen Weg sah und sich zur dann doch etwas steilen These verstieg, das Geschehen in Gaza bilde die Blaupause für das, was uns anderenorts noch bevorstehe. Seine Mitdiskutanten äußerten sich zurückhaltender – und differenzierter.

Der in diesem Dezember 84 Jahre alt werdende Trompeter Wadada Leo Smith, der am ersten Festivaltag auf der großen Bühne im Duo mit dem Pianisten Vijay Iyer für fast magisch anmutende Momente gesorgt hatte, meinte an anderer Stelle auf die Frage, was sich für Musiker wie ihn in der aktuellen politischen Lage in den USA geändert habe: „Nichts.“ Die schwarze Community in den USA sei schon immer vielfältigstem Druck ausgesetzt gewesen, und sie habe immer Mittel und Wege gefunden, diesem zu widerstehen. Die Pianistin Angelica Sanchez, die u.a. mit ihrer Tastenkollegin Marilyn Crispell in Barry Guys London Jazz Composers Orchestra gefeatured wurde, meinte, was ihr Hoffnung gebe, seien die Schülerinnen und Schüler, denen sie als Unterrichtende begegne und denen sie eine Form von weltoffener Empathie und grenzübergreifendem Verständnis für, ja Neugier auf „das Andere“ und „den Anderen“ zu vermitteln suche. Dieses Verständnis ist nach ihrem Eindruck aber ohnehin maßgeblich für die  global vernetzte freie improvisatorische Szene, deren bloße Existenz also schon für sich in diesen unfriedlichen Zeiten ein Akt des Widerstands sei.

Text und Fotos: Robert Fischer

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