Runter vom Sockel, Richard !

Das Online-Release „Mythos“ von Max Andrzejewski dekonstruiert Wagners „Ring des Nibelungen“. Bitte mehr davon!

Von Sophie Emilie Beha

Wenn das Werk von Richard Wagner nicht auf den Scheiterhaufen gehört, dann zumindest in einen Steinbruch. So oder so ähnlich muss sich das der Schlagzeuger und Komponist Max Andrzejewski gedacht haben, als er sich vergangenes Jahr an „Mythos“ gewagt hat. Das Projekt packt Richard Wagner und dessen mythengetränktem Zyklus „Ring des Nibelungen“ an die Riesen-Eier. Beauftragt vom deutschen Theaterregisseur Ersan Mondtag komponierte Andrzejewski vier neue Ouvertüren für „wagner – der ring des nibelungen (a piece like fresh chopped wood)“. In der Ring-Adaption von Thomas Köck am Berliner Ensemble wird viereinhalb Stunden Wagner zerhackt – zwischendrin erklingen die neuen Ouvertüren.

25 Jahre beschäftigte sich Richard Wagner mit dem „Ring des Nibelungen“, seinem Hauptwerk, dem die Nibelungensaga zu Grunde liegt. Er eignete sich den urdeutschen Mythos an und erschuf im Zusammenklang mit der Komposition ein zu seiner Zeit inhaltlich wie musikalisch revolutionäres Werk. Zentrales Thema des Mythos – schon bei Wagner – ist der Raubbau an der Natur durch den Menschen. Der Raub des Goldes durch den Nibelungen Alberich aus dem Rhein, der am Anfang des Ringes steht, läutet die Götterdämmerung und damit den Untergang der Welt ein. Wovon Wagners Werk neben all den Mythengestalten allerdings auch voll ist: Misogynie und Antisemitismus. Alberich ist nämlich auch eine Personifizierung zahlreicher antisemitischer Stereotype. Wie gut, dass Andrzejewski deshalb für seine neuen Ouvertüren nicht mit dem bestehenden Filz hantiert, sondern ihn auftrennt und nochmal neustrickt. Die Originalwerke dienen nicht für eine Bearbeitung, sondern bestenfalls für eine Sprengung. Aus den vielen Brocken hat sich Andrzejewski dann einige wenige ausgesucht, die er dann weiterbearbeitet, eingeschmolzen, verfestigt und verformt hat, bis hin zur Unkenntlichkeit. Selbst wenn Sie glühendster Wagner-Fanatikerin sind, erkennen Sie in seinen Mythos-Ouvertüren die Originale nicht wieder, nicht mal ein Leitmotiv!

Für seine eigene Rheingold-Ouvertüre, bei Andrzejewski „Mythos I“, hat er nämlich das vierminütige Original auf eine schlappe Sekunde eingedampft, das Ganze noch elektronisch extrem verzerrt und das dann als Ausgangspunkt für seine Komposition hergenommen. Heraus kommt ein penetranter elektronischer Schwellkörper, der nach einigem Pulsieren von hellen Holzbläsern und Streichern abgelöst wird. Genau wie Wagner wiederholt auch Andrzejewski bestimmte Motive, Akkordabfolgen oder Klangfarben. Für „Mythos III“, die neue Siegfried-Ouvertüre, hat er sich mit dem Ausgangswerk auf Kopfhörern in sein Studio gesetzt, auf einem erweiterten Drum-Set dazu improvisiert und das Ganze aufgenommen, um es als Ausgangspunkt für seine Komposition zu nutzen.

Ein My Wagner steckt in jeder Ouvertüre. Andrzejewski zitiert in den eigenen Vorspielen zu „Walküre“ und „Götterdämmerung“ sogar das Original. In „Mythos II“ (dem Äquivalent zur Walküren-Ouvertüre) ist es ein Bratschenmotiv – allerdings rhythmisch komplett anders zusammengesetzt und verteilt auf mehrere Instrumente. Hier müssen sich die Musiker*innen außerdem nicht an die festgelegte Notation halten: Sie können die Stelle mit selbstgewählter Artikulation und im Tempo ihrer Wahl spielen. Dadurch entstehen Unschärfen, lebendige Abweichungen und Kontrollverlust. Richard Wagner würde sich mal wieder im Grab umdrehen.

Max Andrzejewski vereint auf „Mythos“ zwei seiner Grundinteressen: Freie Improvisation und Komposition. Nicht nur als Komponist, sondern auch am Schlagzeug. Gemeinsam erzeugen die 12 Musiker*innen lichte, verträumte Atmosphären. Durch die Besetzung entsteht eine Durchsichtigkeit – das Gegenteil von Wagners schwerromantischen Orchesterapparaten. Der große Richard Wagner ist bei Andrzejewski wirklich ein Steinbruch. Er baut dort einzelne Motive oder Elemente ab, um sie in seinen eigenen Ouvertüren anders weiterzuspinnen. Gerade diese Distanz zu Wagner macht die Qualität dieser Einspielung aus: Sie überzeugt mit schillernden Klangfarben, mäandernden Motiven und Bombastlosigkeit.

Ähnlich und anders macht das übrigens auch das Ring Orchestra, ein achtköpfiges Kollektiv, das sich für eine Ring-Adaption am Schauspielhaus Zürich zusammengefunden hat. In seinem Anfang März auf Bandcamp veröffentlichten Album nimmt es in 18 Kompositionen mit Einflüssen aus Ambient, Pop, Reggaeton und einer Vielzahl nicht-westlicher Musiktraditionen Wagners Opus Magnum auseinander. Ebenso wie Max Andrzejewski durch Dekonstruieren und Aufbrechen. Dessen vier Kompositionen sind Gegenentwürfe zu Wagners Ouvertüren. Sie sind nicht auf CD erschienen, sondern ausschließlich online.

Der tägliche
JazzZeitung.de-Newsletter!

Tragen Sie sich ein, um täglich per Mail über Neuigkeiten von JazzZeitung.de informiert zu sein.

DSGVO-Abfrage *

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.