Auch die Sonne ließ sich anstecken: Das 50. Moers-Festival gab alles und weckt Hoffnung

Kultur fällt nicht einfach vom Himmel, wenn man nur lange genug auf sie verzichtet. Stattdessen zogen in Moers zahllose Musikerinnen und Musiker aus etlichen Nationen und dahinter ein hochmotiviertes Veranstalterteam sämtliche Register der Improvisation. Als der legendäre John Scofield alleine mit seiner Gitarre vor fast 500 Musikbegeisterten einen sanften Blues spielte und auch jeder Avantgarde-Ambition in wärmender Entspanntheit entsagte, war die Moerser Festivalgeschichte um einen Moment reicher, der vielleicht in 20 oder gar 50 Jahren weiter erzählt wird… 

Sozusagen in allerletzter Minute hatten sich Lichtblicke aufgetan. Die neuen Pandemie-Verordnungen erlaubten zwar kein Publikumsfestival, wohl aber Freiluftkonzerte. Also wurden mit Unterstützung der Stadt Moers kurzfristig vier unabhängige Sonderkonzerte auf die Beine gestellt. Der „letzte Versuch der Unterwanderung der abenteuerlichen Regelungen.“ (so Tim Isfort) ist damit geglückt, um „Moers“ auch wieder auf der analogen Ebene fühlbar zu machen. Hinzu kam, dass ein Großteil des geplanten Line-ups kurzfristig noch gerettet werden konnte, da das Bundeskulturministerium für zügige Einreise-Bewilligungen gesorgt hatte.

Es braucht erstmal eine gewisse Anlaufzeit, damit sich Musik und Publikum näher kamen: Regendicht eingepackt halten bis zu 500 Musikbegeisterte auch am extrem feuchten Pfingstsamstag durch.  Melancholisch flutet das Saxofon von Hans Gratkowski von der Band „The Resonators“ und auch die Gitarre stimmt in Klagegesänge ein. Eine leiser Kommentar zu den Menschen und ihrer Kultur, der es seit 14 Monaten gar nicht gut geht? Der Videostream dazwischen versuchte zumindest, etwas Frohsinn zu verbreiten, wie er per Greenscreen die Tristesse mit einer bunten Männchenschar und virtuellem Blumenregen aufheiterte.

Spätestens beim erregenden Auftritt der ugandischen Afro-Elektronik-Formation „Nihiloxica“ ist der Schalter definitiv umgelegt. Das wiederum taugte als beste Basis für das wohl kostbarste Gastspiel bei der 50. Festival-Ausgabe – einem Konzert der äthiopischen Band Fendika: Das ostafrikanische Land, welches Tim Isfort gerne in diesem Jahr noch viel umfassender in Moers präsentiert hatte, ist gleich in mehrerer Hinsicht eine Wiege der menschlichen Kultur – hat es doch mit seiner pentatonisch-repetetiven Musik den archaischen Prototypen für alle Rockmusik geliefert. So treibend und intensiv zelebriert dies Fendika, dass sich das niederländische Schlagzeug-Urgestein Haan Bennink mit ganzer Spiellust einklinkt. Bennink hatte schon fünfzig Festivals früher, nämlich im Jahr 1972 an diesem Ort getrommelt. Dies nur auf dem Bildschirm zu verfolgen und nicht physisch einzutauchen, tut ganz besonders weh. Denn das „ist“ Moers!

Diskussionen über „Höhepunkte“ laufen hier ins Leere, denn das Alleinstellungsmerkmal ist jene unvorhersehbare Vielschichtigkeit, in der jeder „sein“ eigenes Moers-Festival findet. Die 50. Ausgabe glänzte überdies mit bestechendem künstlerischen Niveau als übergreifendem Nenner sämtlicher Beiträge. Für manche mögen die zupackend-energetischen Interaktionen des Sylvie-Courvoisier-Klaviertrios das Highlight sein, allein weil gerade Sylvier Courvoisier und ein strahlend euphorischer  Joey Baron am Schlagzeug sich von der Energie mit „echtem“ Live-Publikum hörbar anstecken ließen. Andere hatten ihre Sternstunde in den vielen exquisiten Klang-Offenbarungen in der Festivalhalle – etwa bei der faszinierenden Minimal Music eines Julius Eastman –  oder in der spektakulär verfeinerten „Musique Concrete“ seitens des großbesetzten „Orchestra of New Musical Creations and Experimentations“ aus Frankreich. Mit welcher Sinnlichkeit Jazz auch in sinfonische Streicherapparate eindringen kann, zeigte das serbische Orchester Schime und Muzikon. Auch auf dem Balken sprüht die Gegenwarts-Musikkultur – gerade in den Randbereiche von Jazz. Wer lange genug selbst in Moers sozialisiert wurde, taucht selbstverständlich in all dies ein – und damit erfüllt Moers nun schon über fünf Jahrzehnte einen großen Bildungsauftrag.

Das Kernanliegen bleibt die aufrührerische, kreative Gegenwart – so wie es im Jahr 1972 Peter Brötzmann im Schlosshof auf seinem Sax proklamierte. Junge Menschen aus vielen Subkulturen der Avantgarde setzen dem heute ihre neuen, eigenen Spielarten entgegen: Die brachialen, auch elektronisch manipulierten Stimmattacken der Britin Elvin Brandhi versetzt wohl so manchen Spaziergänger außerhalb dese Freiluft-Konzertgeländes in Angst und Schrecken – aber ihr improvisierter Dialog mit dem Bassisten Joel Grip verzaubert trotz aller Dissonanz mit sehr viel menschlicher Unmittelbarkeit.

So etwas wird gebraucht – gerade in Tagen, wo sich eine bedrohte Kultur viel zu leise verhält. So sieht das auch der Festivalleiter Tim Isfort, der mit der programmatischen Leitidee vom „Kampf um die Zukunft“ auf Ray Bradburys Roman „Fahrenheit 451“ anspielt. Man erinnere sich: Es geht in diesem Klassiker um eine nicht so ferne Zukunft, in der die Welt „sicher“ geworden ist. So sicher, dass die Feuerwehr in ihrem bisherigen Tätigkeitsfeld arbeitslos geworden ist und nun ausrückt, um Bücher zu verbrennen. Denn der zwischen zwei Buchdeckeln konservierte freie Geist bedroht nun einmal die „Sicherheit.“ Die daraus abgeleiteten Einspielungen und Anspielungen in Gestalt vieler szenischer Elemente und surrealer Videoeinspielungen im Livestream hätten durchaus etwas weniger vage ausfallen können –  aber sie verdichteten die Musikerlebnisse, unterstrichen, dass all dies, was hier gerade in Moers passiert, zum Kämpfen ermutigen und Hoffnungen wecken soll. Eben so wie das Festivalplakat mit seiner zärtlichen Umarmung – einem Zufalls-Schnappschuss irgendwann aus den frühen 1970ern. In Zeiten von Pandemie und Abstandsgeboten ist dies wie eine Botschaft aus einer fernen Galaxis.

Das Genormte und Weichgespülte ist etwas für Menschen, die mit aufblühender Fantasie nichts anfangen können. Und Viervierteltakt und Durtonleitern eben für jene, über die noch nicht die schrille Extrem-Performance des französische Progrock-Avantgarde-Oktetts „Sbam“ herein gebrochen ist.  Anarchisch und kunstvoll wirkte deren Strudel aus bizarren Metren und Tonskalen, exaltierten Gesangsparts in einer nicht existenten Fantasiesprache und auch hier stand ein dystopischer Roman Pate für das aktuelle Projekt. Das alles gemahnt irgendwie auch an das legendäre französische Underground-Kollektiv „Magma“ – welches auch dringend mal nach Moers gehört, sofern diese Truppe noch bestehen sollte. Von den Ideen-Explosionen von „Sbam“ ließ sich sogar die Sonne anstecken, die in diesem Moment alles gab. Und irgendwie hat „Sbam“ auch dem eigentlichen Finale, der routiniert-kultivierten Gitarren-Noise-Begegnung von Fred Frith, Ava Mendzoa und Orem Ambarchi reichlich die Show gestohlen.

„Im nächsten Jahr wird es wieder wie 1972!“ hatte Jan Klare, Kurator der Moers-Sessions seinem Publikum zugerufen. Mit dem neun Freiluftareal im Park als hervorragende Ergänzung zur Festivalhalle steht schon mal eine hervorragende Infrastruktur für einen „echten“ Neubeginn der Zukunft in Moers bereit.

Stefan Pieper

Beitragsbild : Brad Mehldau (Foto: Stefan Pieper)

 

 

Der tägliche
JazzZeitung.de-Newsletter!

Tragen Sie sich ein, um täglich per Mail über Neuigkeiten von JazzZeitung.de informiert zu sein.

DSGVO-Abfrage *

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.