Wir müssen draußen bleiben. Jazz ohne Echo. Foto: Hufner

Konzertierte Verantwortungslosigkeit: Der NDR und der ECHO Jazz 2017

Die Kontroverse um die Titelauswahl für den Auftritt Anna-Lena Schnabels bei Echo Jazz 2017 nimmt immer mehr Züge der Absurdität an. Dabei sind die Dinge, die man weiß und die Dinge, die man nicht weiß mehr oder weniger bekannt. Im Konflikt sind Aussagen von Anna-Lena Schnabel, dem NDR, dem Bundesverband Musikindustrie, dem Medienmagazin ZAPP des NDR, den Labelchefs von ENJA, der Produktionsfirma Kimmig und denen des ZEIT-Autoren Ulrich Stock. Und alles nur, weil Anna-Lena Schnabel bei der Preisverleihung zum ECHO Jazz 2017 kein eigenes Stück spielen sollte.

Vor einer Woche kündigte in bei Zeit-Online der Autor Ulrich Stock einen Film von Jan Bäumer über Anna-Lena Schnabel und die Echo Jazz-Preisverleihung an. Darin zitiert er aus dem Film, dass die Musikerin unglücklich darüber sei, kein eigenes Stück zu spielen, sondern eines von Horace Silver mit dem Titel „Peace“. Die Musikerin sprach wörtlich von „Wirtschaftszensur“.

Der NDR wollte das nicht auf sich sitzen lassen und schrieb: „Immerhin kam der Vorschlag für den in der Gala aufgeführten Titel ‚Peace‘ aus der prämierten Schnabel-CD von ihrer Seite; Frau Schnabel hat schriftlich ihr OK gegeben.“ [Quelle: NDR] Präziser heißt es später, dass man (die NDR-Redaktion, aber welche?) mit ihrem ersten Vorschlag nicht glücklich war. „Der Vorschlag für diesen und zwei alternative Titel war vom Tour-Management von Frau Schnabel gekommen.“ [Quelle: NDR]

Das Medienmagazin ZAPP (der NDR) hat zufälligerweise dann eigene Recherchen unternommen und beim NDR Unterhaltungschef Thomas Schreiber nachgefragt. Das Interviewvideo kann man dort nachhören. Dort allerdings stellt sich die Sache etwas anders dar: Thomas Schreiber sagt im Interview: „Anna-Lena Schnabel hatte ein erstes Stück von ihrer CD, die prämiert wurde, vorgestellt oder vorgeschlagen. Das Stück heißt ‚Plop‘. Das hat die Redaktion gehört und daraufhin die Frage gestellt: ‚Gibt es vielleicht Alternativen‘? Daraufhin wurde drei weitere Vorschläge gemacht und die Redaktion hat sich, nach Absprache mit dem Bundesverband Musikindustrie, der den Preis veranstaltet, und der Produktionsfirma Kimmich, die das umsetzen sollte, für ein Stück entschieden. Und Frau Schnabel hat sich bedankt, dass sie auftreten kann und hat gesagt: ‚Das machen wir gerne, wir freuen uns, dass wir beim ECHO Jazz spielen dürfen.‘“ [Quelle: Video-Interview]

Peace für Plop

In der NDR-Aussage oben kommen wir auf drei Vorschläge, hier sind es vier, die Anna-Lena-Schnabel gemacht haben so. Und entschieden haben das jetzt BVMI, NDR und Kimmich zusammen. Wie man sich das vorstellen soll? Telefonkonferenz, gemeinsames Abhören vor den Boxen oder per Mailvoting? Für den einen ist die Differenz zwischen drei oder vier vorgeschlagenen Stücken marginal, vielleicht Erbsenzählerei. Mag sein. Aber es zeigt an, dass auch im NDR die Sache offenbar längst nicht so eindeutig und klar ist wie man sie jetzt nach außen trägt. Auch das gehört zur Transparenz?

Schaut man sich mal die Stücke genauer an, kann einen der Verdacht beschleichen, dass überhaupt niemand irgendetwas wirklich gehört hat: Außer zu Beginn einmal „Plop“. „Plop“ ist auf der CD sogar eher rockig-groovy. Trotzdem kann man es nicht mögen wollen. Aber „Peace“ von Horace Silver in der Version von Anna-Lena Schnabel und ihren Mitstreitern ist nur wirklich eher eine abtörnende Nummer: eine Klangstudie, in der die Töne modelliert und durchgeknetet werden. Nicht so das „Original“ oder die „Originale“ von alten Silver-Aufnahmen. Ich fürchte aber, die könnten die Beteiligten im Ohr gehabt haben. Beweisen kann man es nicht. Jedenfalls ist „Peace“ von Anna-Lena Schnabel mit ihrem Quartett gespielt alles andere als brav, einschaltquotensteigernd.

Warum dann aber die Aufregung. Thomas Schreiber sagt, Schnabel hätte während der Probe doch noch umdisponieren können, das wäre vollkommen normal. Das machen alles so. Tatsächlich?  Sagt es der alte Fuchs, der Fernsehen seit einigen Jahren macht? Ob das tatsächlich gegangen wäre, das behauptet wieder der NDR für sich. Hätten dann nicht wieder BVMI und Produktionsfirma mitreden müssen. Hätte man also jeden eigenen Ton zugelassen? Das zumindest suggeriert der BVMI in seiner Stellungnahme vom 23.10.2017 nicht – es geht ja um den richtigen Mix!

„In der Regel gibt es im Vorfeld Vorschläge von verschiedenen Seiten, aus denen ausgewählt wird, auch von Seiten der Labels, Managements und Künstler/innen. Hier den richtigen Mix zusammen zu stellen, ist immer eine besondere Herausforderung; es gilt, die verschiedenen Tempi und Stimmungen der jeweiligen Live-Stücke zusammenzubringen, die Künstler/innen vorzustellen und dem Zuschauer das Genre Jazz nahezubringen. Die Künstler sind in diesen Vorgang jedoch stets einbezogen.“ [Quelle: BVMI]

Auch das kann man kommentieren. Denn so eindeutig ist die Aussage gar nicht wie sie scheint. „In der Regel“ heißt längst nicht „immer“. „In der Regel“ heißt auch: „Im konkreten Fall wissen wir es leider nichts Genaues, sonst hätten wir es gesagt.“

Verantwortungspflicht der NDR

Wäre es nicht vielmehr Aufgabe des NDR und der anderen Beteiligten gewesen, sich auch ein bisschen um die Künstlerin zu kümmern, sie zu betreuen? Als Rundfunkregisseur jedenfalls habe ich das immer gemacht. Man hat zusammen mit den Künstlern gearbeitet, Kommunikation betrieben. Man will ja das beste und schönste Ergebnis. Das ist Arbeit, das erledigt sich nicht von selbst.

Dazu gehört auch in die Betrachtung miteinzubeziehen, dass zum Beispiel mit dem Spielen eines eigenen Stücks weitere finanzielle Folgen verbunden sind. GEMA-Abgaben zum Beispiel, die entweder den Erben von Horace Silver zufließen oder Anna-Lena Schnabel. Schon aus diesem Grund hätte vieles für den Einsatz eines Stückes von ihr sprechen können. Nutzungsrechte gehen über den NDR, Gagen über den BVMI (Phono-Akademie), Dramaturgie über ein Konglomerat von NDR, Produktionsfirma, BVMI (Phono-Akademie), Hotel- und Reisekosten über das Label, Eintrittskarten über BVMI (Phono-Akademie).

Schwarzer Peter wird weitergereicht

Ansonsten schiebt er die Vorwürfe gerne an den BVMI weiter. Die seien für Gagen zuständig … Mal entscheidet der eine, mal der andere, mal beide, dann wieder mal die Künstler. Schwierig die Sache. Auch wie man dann Winkelmann und Aldinger als Labelchefs von enja aufeinander losgehen lässt, nur um sich selbst im besten Licht stehen zu lassen – Verantwortung zu zeigen, das wäre es mal gewesen. Der eine bei enja weiß, was der andere nicht wahrhaben möchte. Der aber ist sogar in der Jury des ECHO Jazz, genauso wie ein Rundfunkredakteur des NDR, der aber hier wieder gar nicht zu Wort kommt. Ein Geflecht aus Unsicherheiten, Blindheiten, Taubheiten, wo dann alles und gar nichts zusammenzuhängen scheint. Ein wirklich trauriges Bild und ZAPP gibt eins drauf mit dem Zwischentitel „Künstlerin geht auf Tauchstation“. Prima. Dann hat sie bestimmt was zu verbergen, oder? Der schwarze Peter wird herumgereicht auch wenn man keine Information hat. Und übrigens: Niemand hat die Pflicht, ZAPP zur Verfügung zu stehen. Es gibt genügend Gründe, dies nicht zu tun.

Oder die NDR-Aussage: „Dass man – auch als Preisträgerin – lediglich eine Begleitkarte bekommt, ist nicht unüblich.“ „Nicht unüblich“ heißt aber nicht „ist üblich“ – wo bleibt da jenseits formaler „nicht unüblicher“ Regelungen ein bisschen ein Gespür für die Sache selbst. Auch wenn dies der NDR nicht zu entscheiden hatte, hätte man sich dazu verhalten können – und sei es höchstpersönlich. Keine Gage, kein eigenes Stück – auch das ist eben „nicht unüblich“, oder? Nein, das ist tieftraurig, zumal wenn ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk mit von der Partie ist! Fehlt nur die Aussage, man mache das alles gar nicht freiwillig, sondern nur aus Mitleid mit dem ECHO Jazz.

Der „gute“ NDR!

Nein, der NDR macht keine gute Figur beim Entwertungsversuch der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er zerbricht noch mehr Porzellan als nötig. Darin hat man ja auch Erfahrung. Vor über zehn Jahren beim Umgang mit Kritik gegen die Entwertung des Musikprogramms oder 2009, als die Programmleiterin von NDR Kultur, Barbara Mirow, meckerte, „NDR Kultur vergibt keine Praktika“. Das hatte ich ja auch gar nicht gesagt, nur, dass dort Praktikanten eingesetzt werden. Unvorstellbar, dass der NDR keine Praktika vergibt. Da könnte ZAPP auch mal nachforschen. Die großen Aufklärer!

Opfer NDR?

Statt in die Sache zu gehen, stellt man die Vorwürfe von Stock in eine Reihe mit gerade massiven Angriffen bestimmter Zeitungsverleger auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Nein wirklich? Kritik darf nur noch ZAPP machen? Jetzt ist der NDR auch total Opfer. Hat mit gar nichts was zu tun. Nein, er beißt sich nur selbst in die Waden. Beispiel: 2004 sagte der Hörfunkdirektor des NDR, Gernot Romann: „Und wenn Herr Clostermann [der Initiator der Initiative „Das GANZE Werk“] drei Millionen Unterschriften sammelt, werden wir auf unsere Programmautonomie nicht verzichten.“ Und im gleichen Zuge vor der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“: „bei uns werden die Entscheidungen, welche Musik wo läuft, nicht vom Musikchef, nicht vom Redakteur, nicht einmal vom Intendanten getroffen, sondern wir orientieren uns an den Hörern.“ [Quelle: Das GANZE Werk] Es wird argumentiert, so wie es einem gerade zu passen scheint. Come on!

NDR! Gebt eurem Herzen einen Stoß. Zeigt wahre Größe, nutzt Eure Machtgröße nicht aus gegenüber einer im Vergleich zu Euch vollkommen unterlegenen Künstlerin. Außerdem wissen wird nicht alles und alles, was wir wissen, macht die Causa nicht einmal übersichtlicher.

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Ein Kommentar

  1. Während der Probe umdisponieren? Sehr interessant….Die Stücke werden doch vorher von den Bands auf eine Länge geprobt, nach Vorgabe der Sender. Das kann man spontan nicht mehr ändern, das ist fest in den TVSendungs-Ablauf eingeplant. Was für ein Stuss…..

Kommentare sind geschlossen.