Audience Development (2) – Ist weniger mehr?

audience-614x409Nun schreibe ich einen Blog über das Publikum und fange doch wieder bei den Musikern an. In Bezug auf Zuhörer und Zuschauer kann die Titelfrage getrost mit „nein“ beantwortet werden, auf Musikerseite hingegen drängt sich diese Frage gleich in zwei Gebieten auf:

Haben wir zu viele Jazzmusiker in Deutschland?

Inzwischen bieten fast 20 Musikhochschulen hierzulande Jazz-Studiengänge an. Etliche davon sind erst in den letzten 10-20 Jahren entstanden, die Zahl der Studierenden ist seither deutlich gestiegen. Während sich zumindest in den Städten mit Musikhochschulumfeld ein vergleichbarer Anstieg auch bei der Zahl der Spielstätten beobachten lässt (siehe unten), sind zwei existentiell wichtige Faktoren leider nicht mitgewachsen: die Publikumszahl und die finanziellen Rahmenbedingungen.
Daraus den Schluss zu ziehen, eine Verknappung der Ausbildungsplätze könne helfen, liegt nahe, erscheint mir jedoch zumindest fragwürdig. Zum einen freue ich mich als Musiker über die wachsende Zahl an inspirierenden Kollegen, die mit der ihnen eigenen Kreativität den Jazz lebendig halten. Zum anderen bieten die Hochschulen mehr Arbeitsplätze für Jazzmusiker, was angesichts der wirtschaftlich prekären Lage punktuell wohltuend wirkt. Und drittens entwickeln sich in den Jazz-Studiengängen des Landes eben nicht nur die zukünftigen Jazzmusiker, sondern auch die kommenden Hochschul-, Musikschul- und Privatlehrer, Veranstalter und Lobbyisten, die ihr Wissen und ihre Liebe zu dieser Musik künftigen Generationen vermitteln können und wollen.

Werden zu viele Jazzkonzerte in Deutschland veranstaltet?

An jedem Tag der Woche hätte ich mindestens eine Gelegenheit, in Köln ein Jazzkonzert zu sehen; donnerstags müsste ich zwischen sieben, sonntags gar zwischen neun möglichen Konzerten entscheiden. Nach der neuesten Zählung (danke für Deine Mühe, Patrik Becker!) werden an rund 40 Orten in Köln regelmäßig Konzerte veranstaltet, hinzu kommen fünf Sessions und 13 Festivals. Dieses massiv gewachsene Angebot geht größtenteils auf die Initiative junger Jazzmusiker zurück, die auf der Suche nach Spielmöglichkeiten eigene Konzertreihen an neuen Orten aufziehen.
Da aber das Publikum nicht automatisch mitwächst, sind die wenigsten Veranstalter bereit, das wirtschaftliche Risiko dieser Veranstaltungen zu tragen – was zu einer drastischen Zunahme von schlecht bis gar nicht bezahlten Konzerten führt.

Jeder Musiker möchte spielen, und gerade für Studenten ist es wichtig, möglichst umfangreiche Live-Erfahrungen zu sammeln. Grundlegender Anspruch jedes auch nur angehenden Berufsmusikers sollte jedoch die angemessene Entlohnung seiner Darbietung sein. Für den Wunsch, überhaupt irgendwo spielen zu dürfen, muss niemand studieren.
Wie Reiner Michalke richtig bemerkt, halten die Musiker das System Jazz durch ihren Gagenverzicht am Laufen. Folglich liegt es auch an uns, den Musikern, daran etwas zu ändern!

Daher eine dringende Bitte, liebe Kollegen: überlegt euch gut, ob ihr wirklich noch mehr Eintritt-frei-und-Gage-auf-Spendenbasis-Konzerte ermöglichen wollt! Wir senden damit gefährliche Signale (Kultur gibt es immer häufiger für umsonst / Jazzmusik scheint keinen Eintritt wert zu sein), treiben uns körperlich und wirtschaftlich in den Ruin und verwässern nebenbei auch die Qualität dessen, was wir anbieten. Für ein Konzert ohne Gage wird (verständlicherweise) so wenig Probezeit wie möglich angesetzt, was im schlimmsten Fall zur Aufführung nicht aufführungsreifer Musik führt, was wiederum einen schlechteren Eindruck beim Publikum hinterlässt und zu weniger Publikum führt.

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6 Kommentare

  1. Lieber Benjamin,

    vielleicht sehe ich es zu einfach, aber ich denke: Musik wird dann gehört, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie sie betrifft. Ist das nicht (mehr) der Fall, dann ist etwas geschehen, das diese Gleichgültigkeit ausgelöst, gefördert hat.

    Dagegen hilft meiner Meinung nach vor allem spielen, vor Ort gehen, überzeugen, mitreißen, durch die Praxis und durch unmittelbares Erleben. An zweiter Stelle auch berichten, kritisches, aber emphatisches beurteilen. Junge, neue Jazzhörer wollen an der Hand genommen werden, sie wollen wissen, spüren, erleben, warum sie angesichts der Pluralität des Angebots sich ausgerechnet von dieser Musik bewegen lassen sollen und wollen.

    Das ist Arbeit, wahrscheinlich lustvolle, aber in jedem Fall zeitaufwändige. Eine Investition. Lamenti helfen gar nichts.

    Beste Grüße, Ralf

  2. Lieber Herr Schaefer,

    es scheint mir so, als sei Ihnen das Thema ein wenig verloren gegangen. Wenn ich die Absicht ihres neuen Blogs richtig verstanden habe, sollte darin das Publikum einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Stattdessen lese ich Bemerkungen über die Selbstvermarktungschancen von Jazz-Musikern. Als „Publikum“ ist es mir herzlich egal, ob es in Deutschland zu viele davon gibt. Und zu viele Konzerte kann es für mich – wohlgemerkt als zahlender Konzertbesucher – auch nicht geben. Die Qual der Wahl ist ja nicht wirklich eine…

    Trotzdem möchte ich ein paar Bemerkungen zum zweiten Teil Ihres Blogs machen, zunächst zur Frage nach „zu viel“ Jazz-Musikern. Prinzipiell bin ich der Auffassung, dass jeder, der sich zu dieser Profession hingezogen fühlt, seine Chance bekommen sollte. Das ändert nichts daran, dass es nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage definitiv „zu viele“ Jazz-Musiker bei uns gibt. Sie geben die Antwort ja selbst: In den vergangenen Jahren wurden es immer mehr, „die Publikumszahl und die finanziellen Rahmenbedingungen“ sind aber nicht mitgewachsen. Die Verdienstmöglichkeiten der meisten Künstler des Genres sind prekär. Der personelle Überhang auf Angebotsseite springt einem ja geradezu ins Auge.
    Auch Ihre hoffnungsvollen Schilderungen von verbesserten Verdienstmöglichkeiten in der Musik-Lehre scheinen mir eher eine Sackgasse zu beschreiben. Je mehr „Lehrer“ ihre Fähigkeiten weitergeben, desto mehr „Schüler“ drängen auf den Konzert-Markt. Die Absolventen einer der erwähnten Musikhochschulen sind ja nicht allein auf der Welt. Daneben gibt es ja auch noch die Vielzahl von spielbereiten Amateuren, es gibt „die Amerikaner“ und es gibt die Quereinsteiger aus anderen musikalischen Bereichen. Und alle konkurrieren miteinander.
    Eine letzte Bemerkung dazu: Ich kenne keine „Veranstalter und Lobbyisten“, die nach einem Jazz-Studiengang auf diese Tätigkeitsfelder umgeschwenkt wären und nun einigermaßen erträglich davon leben könnten.

    Zur Frage nach zu vielen Jazz-Konzerten: Sie beschreiben die Kölner Szene ja recht genau, erwähnen auch die Praxis des weitgehenden Gagenverzichtes. Sie berichten von bis zu neun Jazz-Konzerten an einem Abend. Nehmen wir einmal als Durchschnittsgröße einer Band das Quartett an und setzen die von der Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) als Eingangshonorar für Berufsanfänger empfohlene Gage von 250 Euro pro Kopf ¬– die ich befürworte – als gegeben voraus, dann müssten bei 20 Euro Eintrittsentgelt 450 Zuschauer zu jedem der neun Konzerte erscheinen. Das ist ja wohl nicht einmal in Köln zu schaffen; ganz davon abgesehen, dass dann Nebenkosten wie Gema, KSK, Betriebskosten etc. noch nicht in die Rechnung eingegangen wären.
    Zudem: Die Vielfalt der Kölner Szene markiert die Spitze einer kulturellen Lage, die sich andernorts gänzlich anders darstellt. Wie erwähnt, kuratiere ich eine Konzertreihe in Rüsselsheim, mitten im Rhein-Main-Gebiet (www.jazzfabrik.de). Rund um Frankfurt sieht die Situation gänzlich anders aus. Hier vergehen bisweilen Wochen zwischen den Konzerten einer bestimmten Geschmackslage. Es herrscht bisweilen das andere Extrem: Spielen die Musiker in Köln zu oft für zu wenig, so gibt es hier zu Lande kaum noch ein Publikum, das bereit wäre, sich dem großen Unbekannten, dem Jazz, zu stellen. Ich glaube, dass dies sehr viel eher die deutsche Jazz-Wirklichkeit beschreibt, als das blühende Kölner Biotop.

    Somit wäre es nun endlich in unsere Debatte hineingerutscht: das Publikum. Und hier gebe ich Ralf Dombrowski, der als erster Ihren Blog kommentiert hat, sehr Recht: „Musik wird dann gehört, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie sie betrifft.“ Aus diesem Grund plädiere ich für den Diskurs, für die gesellschaftliche Teilhabe der Künstler und für die Entwicklung einer jazzspezifischen Relevanz. In anderen Kultur-Bereichen hat das erst einmal überhaupt nichts mit künstlerischen Erwägungen zu tun. Lady Gaga geht mit ihrem Fleisch-Kostüm auf die Bühne, Herbert Grönemeyer äußert sich in Dresden zu Pegida, die „Rolling Stones“ haben mehrere Generationen mit ihrem Lebensstil geprägt. Die Menschen haben das Gefühl, es mit Künstlern zu tun zu haben, die mit ihnen in einem vitalen Kontakt stehen, die sie betreffende Themen verhandeln. Im Jazz kann ich derartiges nicht erkennen. Er steht im Abseits.
    Herr Dombrowski schreibt ganz richtig: „Lamenti helfen gar nichts.“ Genau. Wichtiger ist ein weithin hörbares Einmischen, ausgehend vom Lebensentwurf „Jazz“. Vorher kommt allerdings noch ein klares Benennen der Situation ohne Schönfärberei und falsche Rücksichten.

    Ich freue mich schon auf den nächsten Teil Ihres Blogs, Herr Schaefer, und wünsche mir bis dorthin noch ein paar wunderbar inspirierende Diskussionsbeiträge. Allein, dass es diesen Blog gibt, hilft der Sache schon weiter!

    Stephan A. Dudek

  3. Nachtrag: Entweder hat die Sprache oder das Rechenvermögen versagt. Natürlich müssten bei meiner Köln-Besucher-Kalkulation 450 Besucher zu allen neun Konzerten kommen, also 50 pro Veranstaltung. Sorry – aber das ändert nichts an der Sache

  4. Lieber Ralf,

    „Musik wird dann gehört, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie sie betrifft“ – das stimmt! Aber das ist nicht das Problem,das der Jazz hat, wenn es auch viele dorthin verschieben möchten.

    Das Problem ist, daß das Publikum gar nichts von seiner Existenz ahnt.

    Musik kann einen nur „betreffen“, wenn man sie hört – und wo kann man heute schon Jazz hören, wenn man nicht schon betroffen wurde?

    Meine Erfahrung in den letzten 25 Jahren als aktiver Musiker sagt mir, daß ich sehr selten erlebt hatte (selbst oder aus Erzählungen), daß sich Leute vom Jazz ‚abwenden‘, wenn sie mal die Chance auf eine zufällige Berührung hatten.

    Regelmäßig jedoch bin ich auf Leute gestoßen, die durch einen glückliche Zufall auf diese Musik gestoßen sind und a) völlig begeistert waren und b) regelrecht verwundert waren, daß es sich um Jazz handelt.

    1. Festivals wie ELBJAZZ in Hamburg oder das von Montreux, zu denen auch Tausende von Besuchern kommen, die sonst nicht zu Jazzkonzerten gehen, bestätigen die Erfahrung – bis zum „Das war FREEjazz?“ Funktioniert aber nur live…

  5. Daraus ergibt sich aber eine andere Frage: Warum gehen die, „die sonst nicht zu Jazzkonzerten gehen“ nicht weiterhin zu Jazzkonzerten, wenn sie von Montreux oder Elbjazz doch so begeistert waren? Vielleicht, weil es doch NICHT die Musik war, die ihnen gefallen hat. Vielleicht waren es ja doch die Bratwürste, der Rausch der Masse, das touristische Drumherum. Und vielleicht hat es ihnen in Montreux und Hamburg ja auch einfach keiner gesagt, dass die Begleitmusik ihres tollen Abend Jazz gewesen sein soll. Kurzum: Vielleicht sollten die Liebhaber des Jazz einfach ein bisschen mehr über die Sache reden!

    Positive Betroffenheit entsteht erst dann, wenn man sich eine Sache zu eigen macht. Und das geschieht nicht durch Konsum, sondern durch Verständnis.

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