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Jazzzeitung

2012/01  ::: seite 23

farewell

 

Inhalt 2012/01

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig no chaser: Totenkult Farewell: Frank Foster Paul Motian

TITELSTORY: Töne, Schweiß und Ohrenkitzel
Warum der Jazz wieder Kritiker braucht, die über Augenblicke schreiben

GESCHICHTE - Basies Weggefährten (2)
Am 2. März wäre Eddie „Lockjaw“ Davis 90 Jahre alt geworden...

Berichte
20 Jahre ACT // Zum Deutschen Jazzfestival Frankfurt 2011 // Martin Schmitt startet mit „Aufbassn“ neu durch // 10 Jahre Unerhört Festival – die aktuelle Musik in Zürich

Portraits
Eva Cottin // Jutta Hipp // Alexandra Lehmler // Lizzy Loeb // Jens Thomas

Jazz heute und Education
Hans Lüdemann – ein Jahr Unterricht an einem US-College und die Folgeng // Nachrichten // Fortbildungskalender 2012 (pdf) // Abgehört: Fusion goes Bebop: Larry Coryells Gitarrensolo auf „Tadd‘s Delight“ von Tadd Dameron

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Wie kann man es anders machen?

In Memoriam Paul Motian

Spricht man seinen Namen wie gewohnt aus, entgeht einem etwas Wesentliches. Der Schlagzeuger Paul Motian hatte armenische Eltern. Deshalb müsste man seinen Namen eigentlich Mo-ti-an aussprechen. Er hat gern darauf hingewiesen, dass die türkische und arabische Musik, die er in seiner Kindheit und Jugend im Elternhaus hörte, ihn nachhaltig beeindruckt hat. Manchmal kann man es seinen oft bisweilen recht mysteriösen Kompositionen anhören, die ein bisschen aus jenen Gegenden zu stammen schienen, in denen auch die besten Becken hergestellt werden. Um seinen Mitmenschen das Leben nicht schwer zu machen, nannte er sich Motion, wie das englische Wort für Bewegung. Wie er von diesem Instrument aus seine Kollegen in Bewegung hielt, war höchst originell, doch man erkennt rückblickend kaum mehr das Eigentümliche an seiner Spielweise, denn so allgegenwärtig sind seine Neuerungen im modernen Drumming.

Foto: Ssirus W. Pakzad

Bild vergrößernFoto: Ssirus W. Pakzad

Paul Motian war der einflussreiche Urheber einer klangsinnlichen Schlagzeugästhetik, die sich deutlich vom traditionellen Timekeeping unterscheidet. Wie wenige andere Musiker hat Motian unsere Vorstellung von den Aufgaben eines Schlagzeugers geändert. Er skandierte nicht den Takt, er verklanglichte nicht das Metrum – jedenfalls nicht immer, nicht grundsätzlich, nicht so zwangsläufig, wie man es von Drummern früherer Generationen, seien es Oldtimer wie Baby Dodds, Swinger wie Chick Webb, oder Bopper wie Art Blakey, einfach erwartete.

Die time, das wusste Motian, haben die Musiker ohnehin im Kopf, und er unterschätzte sicherlich nicht die kognitiven Fähigkeiten der Jazzhörer, wenn er annahm, dass auch sie sehr wohl wussten oder zumindest zu erkennen trachteten, wo die time eigentlich lag. Und wie die großen Bläser vor oder nach dem Beat spielten, in ihrem Solo dazu spannungsvoll kontrastierten, so tat dies Motian eben auch, statt ihn zu betonen. Das gleichmäßige „tsch tsch-tsch tsch tsch-tsch“ sucht man auf vielen seiner Aufnahmen vergebens – es verschwindet wie die Linien in den Gemälden französischer Impressionisten hinter Farbtupfern. Ist man ein Freund der Abstraktion, wird man sagen, er befreite das Schlagzeug von unnötigem Beiwerk, von der Knechtschaft des Immergleichen. Ist man konservativ, wird man argumentieren, er entledigte den Schlagzeuger der einzigen Aufgabe, der nachzukommen seine unabweisbare Pflicht sei.

Doch man braucht nicht „altmodisch“ zu sein, wenn man nicht „versteht“, warum einer die time pulsierend kommentiert statt sie, sei es swingend oder nicht, zu markieren. Gerade der überwiegende Teil der meistgehörten Musik der letzten 50 Jahre, vom Rock’n’Roll über Techno bis zu den gerade bestplazierten Pop-Songs folgen einer gegenläufigen Tendenz: Klar vernehmbare Schläge haben als Bestandteile einer aufs Grundgerüst simplifizierten Rhythmik, oft sturgetaktet und laut gehämmert, allenthalben die Elastizität, Verfeinerung, Vielschichtigkeit und Freiheit abgelöst, die das Trommeln im Jazz bereits hatte, als er noch die Popmusik war. Die Schere zwischen den beiden Welten öffnete sich in den 60er- Jahren, als Größen wie der Polyrhythmiker Elvin Jones und der Klangmagier Paul Motian Neuland erkundeten und immer mehr Perkussionisten mit oft exotischen Gerätschaften die Jazzbands bereicherten: Gerade als die Neuerer im Jazz vitalisierend einen ungekannten Reichtum in die Rhythmusgruppen brachten, begannen Eltern sich über das immer stereotypere „Bum bum bum“ in der Rock- und Popmusik zu ärgern. Offensichtlich besteht eben seit Menschengedenken auch das Bedürfnis, die Wechselschläge der Trommeln in mehr oder minder metronomischer Klarheit zu hören. Aber ebenso tief sitzt im Menschen die eher poetische Faszination am Klang an sich: das Rauschen des Windes, das Tröpfeln des Regens, das Klappern, Klopfen, Zischeln und Rascheln aller Wesen und Gegenstände, die sich dabei nicht auf einen 4/4-Takt beschränken. Der Sound an und sich, in allen Schattierungen, die man aus einem Schlagzeug herausholen kann, rückte bei Paul Motian in den Vordergrund. „The sound of surprise“ hat Whitney Balliett einmal der den Jazz genannt. In der Trommelkunst Motians, der am 22. November 2011 in New York seine Besen und Stöcke für immer aus der Hand gelegt hat, war es wirklich so.

Kannte man ihn in den letzten 30 Jahren vor allem als Bandleader, so hat Paul Motian, der am 25. März 1931 in Philadelphia geboren wurde, seine wichtigen Beiträge zur Emanzipation des Schlagzeugs als Sideman geleistet – den einflussreichsten an der Seite des Pianisten Bill Evans. In den Jahren 1959 bis 1961 gehörte Motian mit dem frühverstorbenen Bassisten Scott LaFaro zum klassischen Bill Evans Trio. Bassisten und Schlagzeuger waren in früheren Trios – trotz gelegentlicher Soli – eher Begleiter als allumfassende Mitspieler. Mit Motian und LaFaro wurden sie mit jazzgeschichtlich wegweisenden Folgen gleichberechtigte Partner des Pianisten, wobei der Dialog, ja Triolog der Instrumente an Stelle von Solo und Begleitung tritt. (Näheres in „I Remember Bill“ in der Jazzzeitung 2010/04). Hervorzuheben ist Motians Zusammenarbeit mit zwei Pianisten, die an Bill Evans Innovationen anknüpften. Zunächst musizierte er Mitte der 60er- Jahre mit Paul Bley, dann kam es ab 1967 bis 1976 zur Zusammenarbeit mit Keith Jarrett, zunächst im Trio, dann im sogenannten amerikanischen Quartett mit dem Bassisten Charlie Haden und dem Tenoristen Dewey Redman. Haden blieb fortan ein treuer Weggefährte Motians. In den 70er-Jahren nahm er auch seine ersten eigenen Alben auf, und zwar für das Münchner Label ECM, für das er auch in allerletzter Zeit CDs aufnahm.

Erst in den 80er-Jahren trat Paul Motian verstärkt als Bandleader und Komponist hervor, was auch auf zahlreichen Alben für ECM und JMT dokumentiert ist. Zunächst ist es ein Quintett um Bill Frisell und Joe Lovano. Bald sind Paul Motian, Bill Frisell und Joe Lovano ein Trio, man könnte sagen ein Klassiker unter den Trios der Gegenwart, das auch einen Kern für andere Besetzungen bildet. Eines ihrer Meisterstücke ist „Monk In Motian“ von 1988 (JMT). Alle JMT-Alben von Paul Motian finden sich heute auf seinem späteren Label Winter & Winter, das auch Motians Alben des „Trio 2000“ und des Trios „Tethered Moon“ mit dem Pianisten Masabumi Kikuchi veröffentlichte.

So vieles, was Paul Motian in seiner über 60-jährigen Laufbahn geschaffen hat, klingt wie eine Beantwortung der Frage: Wie kann man es anders machen? Das geht schon bei der Besetzung seiner Gruppen los. Seine „Electric Bebop Band“ war zum Beispiel nicht wie eine Bebop-Band besetzt, sondern eher wie eine Fusion-Gruppe. Das erste Interesse Motians galt der Gitarre – eine Vorliebe, die wohl nachklang, als er in späten Jahren gerne Gitarristen in seine Band holte. Zeitweise spielten sogar drei Gitarristen in seiner Band! Sein Schlagzeugspiel schließlich war wie eine immerwährende Demonstration dessen, wie man es anders machen kann. Sein Kollege Jack DeJohnette hat Motians Stil einmal sogar als un-drumistic beschrieben. Das ist kein Tadel! Paul Motians Schlagzeugspiel war so unschlagzeugerisch wie Thelonious Monks Klavierspiel unpianistisch war – und gerade daher eine so wesentliche Bereicherung des bisherigen Spektrums. Doch Motian war, so wie Monk, so wie jeder Neuerer an Traditionen anknüpft, auch ein Bewahrer. Immer wieder kam er auf Bebop-Stücke und auf mehreren Alben unter dem Motto „Motian on Broadway“ auf das Great American Songbook zurück. Und gerade bei Standards sein Individualismus besonders deutlich hervor. Eines der Alben trägt den bezeichnenden Titel „The Paradox Of Continuity“. Zu diesen Paradoxen wird man nun auch zählen, dass seine Spielweise in jedem zweiten Drummer fortleben wird, mag er sich nun als Bewahrer oder als Neuerer begreifen.

Marcus A. Woelfle

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