Das New Colours Festival als Signal der Hoffnung

(Text und Fotos: Stefan Pieper) Zwölf Konzerte, vier Tage, zehn außergewöhnliche Spielstätten – und die Gewissheit, dass Jazz auch im vierten Jahr seines Bestehens weit mehr ist als nur Musik: Das New Colours Festival in Gelsenkirchen hat sich als kulturpolitisches Statement etabliert. Susanne Pohlen und Bernd Zimmermann haben sich von widrigen Gegebenheiten nicht unterkriegen lassen. Mit vielfältiger Unterstützung, nicht zuletzt aus der lokalen Wirtschaft, demonstrierten sie, was entsteht, wenn kuratorische Sensibilität auf organisatorische Meisterschaft trifft: Klänge mit Substanz, die in verschiedenen ästhetischen Idiomen zu ihrem Publikum finden.

Klangräume gegen Kulturkahlschlag

Dass es überhaupt stattfinden konnte, grenzte dabei an ein kleines Wunder. Wenige Wochen vor Festivalbeginn drohte das Aus, als das Land NRW seine Förderung zurückzog. Erst das entschlossene Engagement einer regionalen Stiftung rettete die Veranstaltung in letzter Minute – ein Glücksfall, der beim emotionalen Eröffnungskonzert für Tränen der Erleichterung bei den Veranstaltern und überschwängliche Begeisterung beim Publikum sorgte.

Die österreichische Jazz Bigband Graz erwies sich in einer reduzierten Besetzung als perfekter „Heart Opener“ für das gesamte Festival. Mit ihrer warmherzigen, mitreißenden Energie brachte die Besetzung um den Saxofonisten Heinrich von Kalnein eine Atmosphäre der Verbundenheit in den Raum, die das Publikum von der ersten Note an verzauberte. Musik als emotionaler Katalysator, der nicht nur die Anspannung der vergangenen Wochen löste, sondern das ganze Festival auf eine positive Umlaufbahn brachte – eine Stimmung, die sich durch alle folgenden Konzerte ziehen sollte.

Genius Loci als ästhetisches Programm

Die Entscheidung, Konzerte an Orte mit starker eigener Geschichte zu bringen, erwies sich als zentrale ästhetische Setzung auch dieser vierten Festivalausgabe. Vor allem jene Besucher, die zum ersten Mal dabei waren, äußerten sich überrascht und begeistert von der atmosphärischen Energie, die von diesen Spielstätten ausgeht, wenn sie mit Klängen aus der reichen Gegenwart bespielt werden. Auf dem Nordsternturm, vermutlich der höchsten Konzertbühne im Ruhrgebiet, entfaltete das französische Trio The Litany Of The Peaks seine Erkundungen zwischen archaischer Folklore und zeitgenössischer Improvisation, während die Sonne hinter den Industriesilhouetten versank, um ein meditatives Gesamtkunstwerk zu komplettieren.

Es war nicht geplant, aber ergab sich umso eindrücklicher wie von selbst, dass diese Festivalausgabe einen kleinen „Frankreich-Schwerpunkt“ bekam. Teil zwei davon: Vincent Peiranis Trioband „Jokers“ rockte das Schloss Horst und bewies dabei, dass das Akkordeon doch viel mehr kann, als einfach nur virtuos-folkloristische Klischees zu bedienen, die auch im Jazz weit verbreitet sind. Und statt eines eitlen Solotrips setzte „Jokers“ auf eine unmissverständliche Band-Chemie. Gemeinsam mit Federico Casagrande an der Gitarre und Ziv Ravitz am Schlagzeug nahm eine untergründige Klangwelt ihren energetischen Lauf, um vor dem staunenden Publikum alle Grenzen zu sprengen.

Die Gitarre rockte und sägte, Ravitz feuerte Beats ab, die bis in die Knochen durchdrangen – nennen wir das, was dabei herauskam, Jazz, Rock, Dubstep oder was auch immer. Peirani agierte wie ein Besessener mit Harmonien, die schmerzten, aber auf angenehme Weise – und auch dies verband sich mit den wechselnden Farbprojektionen auf die jahrhundertealte Schlossfassade.

Intimität als Übertragungsmedium

Die kuratorische Leistung des New Colours Festivals verdient auch deswegen Respekt, weil sie in unterschiedlichsten Genres den Aspekt von Zugänglichkeit nicht als Kompromiss, sondern als Kunst begreift. Da konnte man auch mal eines Besseren belehrt werden und Vorurteile ganz schnell abstreifen: Das slowakische Duo Lash & Grey hat sich einem Singer-Songwriter-Repertoire und Vocal Jazz mit etablierten Attributen verschrieben. Die Antithese zu allen damit verbundenen Stereotypen ergab sich aus dem „Wie“, mit dem das Duo etwas Neues, Eigenes an sein Publikum im Schloss Horst weitergab. Sängerin Kristina Mihalova verfügt über Gefühl und Technik, vor allem aber über unerschöpfliche, auch kokette Darstellungslust. Der geniale Gitarrist Jakub Sedivy agierte derweil wie eine ganze Band und spielte Akkorde, als wären fünf Interpreten am Werk. Etwas Altes nehmen, aber dies ganz neu beleben und damit als konsequente Durchlauferhitzer für Zeitloses agieren – dieses Duo macht vor, wie so etwas geht.

In ähnlicher Weise begeisterten die Brüder Roman und Julian Wasserfuhr, erweitert um den Cellisten Jörg Brinkmann, durch ihre hohe Kultiviertheit und melodiöse lyrische Sprache. Als Höhepunkt ihrer Darbietung erwies sich eine tiefempfundene Hommage an Sting mit „Englishman in New York“.

Spirituelle Verdichtung in sakralen Räumen

Schon viel wurde über den postindustriellen Strukturwandel im Ruhrgebiet gesagt und geschrieben. Ein anderer gesellschaftlicher Strukturwandel ist ebenso Realität – und wurde bei der aktuellen Festivalausgabe engagiert genutzt: Noch nie waren so viele Kirchen zu Festivalspielorten geworden, was so manches historische Kleinod in den Fokus rückte. Zum Beispiel die Bleckkirche, vor deren Altar aus dem 15. Jahrhundert das Trio Honey Bizarre Aufstellung nahm. Die Thereminspielerin Gilda Razani, Hanzō Wanning an den Keyboards und der Perkussionist Fetih Ak schufen mit ihrem faszinierenden Spannungsfeld aus elektronischen Soundscapes und orientalischen Rhythmusstrukturen ein definitiv nicht religiöses, aber dennoch tief spirituelles Gemeinschaftserlebnis.

„Frankreich-Schwerpunkt“ Teil drei: Als großen Moment in der jungen Geschichte des Festivals darf man das Solorecital des katalanischen Kontrabassisten Renaud Garcia-Fons bezeichnen, dem man ohne Weiteres Augenhöhe mit dem Solorezital von Joachim Kühn bei der Debütausgabe attestieren darf. Welch weltoffener Geist geht bei diesem genialen Musiker mit seinen beispiellos beseelt agierenden Händen einher!

Sein Fingerpicking lässt fast jeden Gitarristen alt aussehen. Wenn er sich im gestrichenen Spiel bis in höchste Lagen schraubt, dürfte selbst den meisten Geigenvirtuosen schwindelig werden – doch das war in der Matthäuskirche so viel anderes als eine eitle Technik-Demonstration. Jedem Ton in seinem multistilistisch geprägten Repertoire wohnt humanistische Neugier, Weltoffenheit, Demut vor den unermesslichen kulturellen Reichtümern inne. Ob er bei iranischen Stücken in orientalische Tonalität eintaucht oder ein Blatt Papier unter die Saiten schiebt, um traditionelle Instrumente aus Burundi nachzuempfinden – stets lud er zum empfindsamen Mitreisen ein, was eben auch eine hohe weltverbundene, humanistische Botschaft bei diesem Festival fühlbar machte.

Die Freude, dass während der zwölf Konzerte an vier Tagen in zehn Locations alles so rund lief, war grenzenlos.  Ein Festival wie New Colours zeigt auf, was möglich ist, wenn Kultur nicht als Kostenfaktor, sondern als gesellschaftliche Notwendigkeit begriffen wird. Gelsenkirchen demonstrierte vier Tage lang, dass das Ruhrgebiet längst mehr ist als verblasste Industriekultur und Fußballbesessenheit. Es kann auch Kunst – wenn man es lässt.

 

 

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