(Text und Fotos von Stefan Pieper) 60 Meter über dem Moers-Festival in der Sponsor-Kran-Gondel: Spielzeughaft breitet sich funktionale Nüchternheit aus. Die schmucklose Festivalhalle, umgeben von anderen Gebäuden. Buden, Menschengewimmel, Fahrzeuge, kleine Konzertbühnen. Im Hintergrund verstreute Campingzelte im weitläufigen Park. Ruhrgebiets-Zechentürme und grüne Landschaft bis zum Horizont. Der von unten heraufwehende elektrische Gitarrensound erinnert an eine verwehte Jimi-Hendrix-Improvisation. So handzahm „erlebt“ man Caspar Brötzmann selten, der tief unten auf einer kleineren Kran-Bühne agiert. Tim Isfort hatte den Sohn des „Festival-Pioniers“ Peter Brötzmann zu Recht gebeten, an diesem Ort sanfter zu spielen. Es muss einen auch etwas auffangen aus dieser luftigen Höhe…
Renaissance-Kunst zwischen Mensch und Maschine
Der erste Tag dieser 54. Festivalausgabe pulverisierte die kulturellen Hierarchien, vor allem mit einer Premiere: Das Projekt „Multiple Voices“ führte Thomas Tallis‘ „Spem in Alium“ (1570) fünf Stunden lang auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) singen live, während Soundengineer Markus Wallner die Stimmen durch den Raum schichtet. Aus zwei werden vierzig Stimmen. Das Publikum – vom ergrauten Jazzveteranen bis zu hippen Zwanzigjährigen – wird Teil einer kollektiven Meditation. Den distinguierten Herren hinter den Notenpulten haftet eine Aura von „Heiligkeit“ an, wie sie auch von den Musikern von Kraftwerk ausgeht. Diese uralte Musik wurde durch ihre unkonventionelle Behandlung zum Dialog zwischen Mensch und Maschine erhoben.
Der von Tim Isfort gestaltete Raum in der Festivalhalle baut um Musiker und Publikum eine organische Architektur. Dazu gehören Kissen, um sich liegend der Musik hinzugeben. Diese Überwindung von Konventionen hat Früchte getragen: Ein altersmäßig und soziokulturell buntes Publikum gibt sich den Konzerten hin. Drinnen und draußen. Nein, früher im Park war nicht alles besser – zumindest herrschte damals noch Apartheid zwischen den zahlenden Musikspezialisten im eingezäunten Festivalzelt und den zahllosen jungen Leuten, denen freies Feiern ein ernsthaftes Anliegen ist. Heute vereint sich das, auch wenn Jazz im eigentlichen Sinne auf dem Programm steht.
Mit der China-Kooperation nährte eine neue Quelle das Programm: Tief ehrliche, manchmal rohe Musik auf der Höhe der Zeit und als vibrierende Antithese zu allen medialen Stereotypen, die sonst dem Reich der Mitte anhaften. Der Saxofonist Li Daiguo (bBb bBb) verdichtete sein Konzert zu einer Intensität, der selbst ein Coltrane kaum etwas hinzuzufügen gehabt hätte. Mamer aus der uigurischen Bevölkerung demonstrierte, dass sich die Sache in dieser globalen Region nicht in Folklore erschöpft, sondern der musikalische Underground brennt. Auf fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik sprengte ein mächtiger Stream of Consciousness alle Kategoriebegriffe, ob sie nun Noise, Doom oder Drone heißen.
Im Regen schweißgebadet sein hat auch mit Stille zu tun
Die neue Baumschatten-Bühne bei der Zeltwiese entwickelte ein subversives Festival-Flair, das an manches Bauernhof-Festival aus der Jugend erinnerte, wo einst der Absturz zelebriert wurde. Ein würdiger Ort, um mit Oldschool-Freejazz lustvoll die Gegenwart mit allen Gründungsmythen des Moers-Festivals kurzzuschließen.
Was herauskommt, wenn hungrige Gegenwarts-Artisten aus China mit der hiesigen Musikszene kollaborieren, verdichtete sich bei der Band „Das Ende der Liebe“ zusammen mit der chinesischen Performerin „su dance110″ zu einem hypnotischen und psychedelischen Sounddschungel mit mächtigen, treibenden Beats. Trotz kühler Temperaturen und Regen hinterher schweißgebadet sein. So muss das!
Das gewählte Motto „Stille“ blieb oft unverstanden – schließlich war es überall ziemlich laut in Moers – und die Gesamt-Einlösung des Programmkonzepts geriet eine Spur überreizt. Als intellektueller Leitfaden begleiteten zahllose Literaturzitate die Konzerte. Welche Stille ist gemeint? Vielleicht die Abwesenheit akustischer Alltagszumutungen, denen sich die Konsumenten-Masse bereitwillig unterordnet. Der allgegenwärtigen konditionierenden Zwangsbeschallung zu entfliehen, ist ein Akt der Stille und man muss den Kopfhörer öfter lauter drehen, um vor manipulativer Berieselung im Supermarkt oder anderswo zu entfliehen.
Die Uraufführung „Sei still!“ (DE/ISR/CA) von Maya Dunietz und William Northlich-Redmond gipfelte symbolträchtig in einem stummen Schrei wie in einem Bild von Edvard Munch als Parabel auf die individuelle Ohnmacht einer zu lauten Welt. Stille als intensivste Form der Präsenz.
Koshiro Hinos „Chronograffiti“ schöpfte am puristischsten aus der Stille. Das schloss fette Lautstärke-Level keineswegs aus, als drei Perkussionisten das dynamische und artikulatorische Spektrum ihrer Instrumente in Steve-Reich-artigen Crescendo-Patterns auf die Spitze trieben. Als Hino auf die Riesen-Taiko hämmerte, freuten sich vor allem jene über wohlige Zwerchfell-Massage, die auf ihren Liegekissen vorne ganz nah dran waren.
Es braucht rohe, ungezügelte Klangwelten
Das Kerngeschäft des Jazz durfte sich in Moers neu erfinden – vielleicht gerade deswegen so unmittelbar und authentisch, weil sich das Festival schon vor Jahrzehnten von einer Verengung auf die „Nische Jazz“ verabschiedet hat? Mette Rasmussen elektrisiert als wichtigste Stimme die europäische Impro-Szene. Die Dänin repräsentiert eine Generation, die das Free-Jazz-Erbe nicht konserviert, sondern radikal weiterentwickelt. Sie verkörpert die „Chronograffiti“-Ästhetik perfekt: Zeit besprühen, markieren, transformieren. Durch die rohen, ungezügelten Klangwelten ihrer akustisch-elektronischen Band, wie sie jetzt gebraucht werden. Auch Hayden Chisholm, Festival-Inventar seit Jahren, aktualisierte mit seiner „Kinetic Chain“ den Jazz-Anspruch des Festivals. Was zusammen mit Jonas Burgwinkel, Peter Eldh und Jonas Kaufmann auf ein entrücktes Nocturno hinauslief.
Eine spannende junge Wilde aus der amerikanischen Szene ist die Pianistin Angelica Sanchez, die aus Hörenden echte Teilnehmende werden ließ, welche sie und ihren Flügel auf dem Boden konzentriert hineinlauschend dicht umringten. Ausformulierte, treibend swingende Idiome stoßen in freie Klangflächen vor, dieser hypnotische Fluss vereint die Menschen intuitiv. Da gab es definitiv keinen Grund mehr, auf dem heimischen Sofa sitzen zu bleiben und sich einzubilden, dass nach dem „unerreichten“ Köln-Concert nichts mehr nachgekommen sei. Am Vormittag danach spielte Angelica Sanchez hoch oben auf einer Hubbühne über dem Festivalgelände, jetzt deutlich elektronischer und atmosphärischer. Solche Klänge hätte es bei den Darbietungen aus der Vogelperspektive noch mehr gebraucht, um Laufpublikum für die Mission des Festivals zu verführen.
Wadada Leo Smith und Vijay Iyer lieferten den definitiven Höhepunkt des diesjährigen Moers-Festivals, wenn es um Weltklasse-Exzellenz im zeitgenössischen Jazz geht. Aus tiefsten Basstönen vom Klavier wird der Raum weit gemacht, wie schwere Seufzer klingen die ersten Trompetentöne. Das Piano funkelt zunächst nur leise auf. Der Pianist schafft atmosphärischen Raum auch auf dem Synthesizer während Smiths ergreifender, spannungsbeladen phrasierender Erzählfluss nie abreißt. Zunehmend antwortete Vijay Iyer in messerscharfer Kalibrierung auf die weiten, im Innersten ergreifenden Narrative des genialen Trompeters, der 1979 zum ersten Mal in Moers spielte.
Mittendrin steht ein Mahnmal: Stelen mit erschreckend vielen Namen abgewickelter Festivals als direkter Verweis auf die kulturpolitische Realität. Das Bundesjazzorchester spielte Stücke, die in den 1930er-Jahren eine heile Welt vorgaukeln sollten, dazu wurden Texte aus NS-Entschädigungsakten rezitiert, welche diverse Einzelschicksale von Kulturschaffenden dokumentieren. Die Mahnung ist klar: Wehret repressiven Zeiten, die zuallererst die Kultur töten. Moers steht noch stabil da als wärmendes Kraftwerk für menschliche Emotionen. Noch. Das dynamische Ticketing hat mehr und durchmischteres Publikum hervorgebracht. Der Spendenhut geht trotzdem schon rum.
Ein großes Finale, aber kein Ende
Im Idealfall ist das letzte Konzert nicht nur ein Soundtrack zum Abbauen und Tschüss-Sagen, sondern bündelt nochmal alle Energie zwischen den Menschen. Diese Ausgabe darf sich historisch in die Top-Five der intensivsten Festival-Abschlüsse einreihen. Die „Bühne“, die in der Halle von Moers nichts Trennendes verkörpert, gehörte nochmal Caspar Brötzmann – diesmal mit seinem Massaker-Trio, das zusammen mit Eduardo Delgado Lopez und unter neuer Beteiligung der Fehlfarben-Schlagzeugerin Saskia von Klitzing in runderneuerter, extrem ausgeschlafener Weise den Moment zum Brennen brachte, meist betont prog-metal-lastig. Roh, intensiv, grell leuchtend! War es das jetzt schon? Nein, jetzt geht es erst richtig los…
Höhenflug über der lauten Stille | Bericht vom Moers-Festival 2025
60 Meter über dem Moers-Festival in der Sponsor-Kran-Gondel: Spielzeughaft breitet sich funktionale Nüchternheit aus. Die schmucklose Festivalhalle, umgeben von anderen Gebäuden. Viele Buden, Menschengewimmel, Fahrzeuge, kleine Konzertbühnen. Im Hintergrund verstreute Campingzelte im weitläufigen Park. Ruhrgebiets-Zechentürme und grüne Landschaft bis zum Horizont. Der von unten heraufwehende elektrische Gitarrensound erinnert an eine verwehte Jimi-Hendrix-Improvisation. So handzahm „erlebt“ man Caspar Brötzmann sonst selten, der tief unten auf einer kleineren Kran-Bühne agiert. Tim Isfort hatte den Sohn des amtlichen „Festival-Pioniers“ Peter Brötzmann zu Recht gebeten, an diesem Ort etwas sanfter zu spielen. Es muss einen ja auch etwas auffangen aus dieser luftigen Höhe…
Renaissance-Kunst zwischen Mensch und Maschine
Schon der Tag eins dieser 54. Festivalausgabe pulverisierte die kulturellen Hierarchien, vor allem mit einer Premiere, die es in der Festivalgeschichte so noch nicht gab: Das Projekt „Multiple Voices“ führte Thomas Tallis‘ „Spem in Alium“ (1570) fünf Stunden lang auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) singen live, während Soundengineer Markus Wallner die Stimmen durch den Raum schichtet. Aus zwei werden vierzig Stimmen. Das Publikum – vom ergrauten Jazzveteranen bis zu hippen Zwanzigjährigen – wird Teil einer kollektiven Meditation. Den distinguierten Herren hinter den Notenpulten haftete eine Aura von „Heiligkeit“ an, wie etwa auch von den Musikern von Kraftwerk ausgeht. Diese uralte Musik wurde durch ihre unkonventionelle Behandlung in Moers ja auch zum Dialog zwischen Mensch und Maschine erhoben.
Der von Tim Isfort kreativ wie konsequent gestaltete Raum in der Festivalhalle baut um Musiker und Publikum eine Art organische Architektur. Dazu gehören auch Kissen, um sich liegend der Musik hinzugeben. Diese Überwindung von Konventionen hat über die Jahre hinweg Früchte getragen: Ein altersmäßig und soziokulturell ausgesprochen buntes Publikum gibt sich den Konzerten hin. Drinnen und draußen. Nein, früher im Park war nicht alles besser – zumindest herrschte damals noch eine starke Apartheid zwischen den zahlenden Musikspezialisten im eingezäunten Festivalzelt und den zahllosen jungen Leuten, denen freies Feiern ein ernsthaftes Anliegen ist. Heute vereint sich vieles davon, auch und sogar wenn Jazz im eigentlichen Sinne auf dem Programm steht.
Mit der aktuellen China-Kooperation nährte in diesem Jahr eine neue, frische Quelle das Programm: Tief ehrliche, manchmal auch rohe Musik auf der Höhe der Zeit und als vibrierende Antithese zu allen medialen Stereotypen, die sonst dem unheimlich mächtigen Reich der Mitte anhaften. Der Saxofonist Li Daiguo (bBb bBb) verdichtete sein Konzert zu einer Intensität, der selbst ein Coltrane kaum noch etwas hinzuzufügen gehabt hätte. Mamer aus der uigurischen Bevölkerung demonstrierte, dass sich die Sache in dieser globalen Region nicht in Folklore erschöpft, sondern stattdessen auch hier der musikalische Underground brennt. Auf fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik sprengte ein mächtiger Stream of Consciousness alle Kategoriebegriffe, ob sie nun Noise, Doom oder Drone oder was auch immer heißen.
Im Regen schweißgebadet sein hat auch mit Stille zu tun
Die neue Baumschatten-Bühne direkt bei der Zeltwiese entwickelte ein subversives Festival-Flair, das an so manches Bauernhof-Festival aus der Jugend erinnerte, wo einst der Absturz zelebriert wurde. Ein würdiger Ort, um auch mal mit Oldschool-Freejazz lustvoll die Gegenwart mit allen Gründungsmythen des Moers-Festivals wieder kurz zu schließen.
Was herauskommt, wenn hungrige Gegenwarts-Artisten aus China mit der hiesigen Musikszene kollaborieren, das verdichtete sich bei der Band „Das Ende der Liebe“ zusammen mit der chinesischen Performerin „su dance110“ zu einem hypnotischen und psychedelischen Sounddschungel incluse mächtiger, treibender Beats. Trotz kühler Temperaturen und immer wieder Regen hinterher schweißgebadet sein. So muss das!
Das gewählte Motto „Stille“ blieb bei dieser Festivalausgabe oft unverstanden – schließlich war es überall ziemlich laut in Moers – und ja, man darf kritisch bemerken, dass die Gesamt-Einlösung des Programmkonzepts durchaus eine Spur zu überreizt geraten war. Als intellektueller Leitfaden begleiteten zahllose Literaturzitate die Konzerte. Welche Stille ist gemeint? Vielleicht die Abwesenheit akustischer Alltagszumutungen, denen sich die Konsumenten-Masse bereitwillig unterordnet. Der allgegenwärtig konditionierenden Zwangsbeschallung zu entfliehen, ist auf jeden Fall ein Akt der Stille und man muss ja auch den Kopfhörer öfter lauter drehen, um etwa vor einer manipulativen Berieselung im Supermarkt oder anderswo zu entfliehen.
Die Uraufführung „Sei still!“ (DE/ISR/CA) von Maya Dunietz und William Northlich-Redmond gipfelte symbolträchtig in einem stummen Schrei wie in einem Bild von Edvard Munch als Parabel auf die individuelle Ohnmacht einer zu lauten Welt. Stille als intensivste Form der Präsenz.
Koshiro Hinos „Chronograffiti“ schöpfte wohl am puristischsten aus der Stille. Auch das schloss fette Lautstärke-Level keineswegs aus, als drei Perkussionisten das dynamische und artikulatorische Spektrum ihrer Instrumente in Steve-Reich-artigen Crescendo-Patterns auf die Spitze trieben. Als Hino auf die Riesen-Taiko draufzimmerte, freuten sich vor allem jene über wohlige Zwerchfell-Massage, welche auf ihren Liegekissen vorne ganz nah dran waren.
Es braucht rohe, ungezügelte Klangwelten
Auch das Kerngeschäft des Jazz durfte sich in Moers wieder neu erfinden – vielleicht gerade deswegen so unmittelbar und authentisch, weil sich das Festival ja schon vor Jahrzehnten von einer Verengung auf die „Nische Jazz“ verabschiedet hat? Mette Rasmussen elektrisiert aktuell als wichtigste Stimme die europäischen Impro-Szene. Die Dänin repräsentiert eine Generation, die das Free-Jazz-Erbe nicht konserviert, sondern radikal weiterentwickelt. Sie verkörpert die „Chronograffiti“-Ästhetik perfekt: Zeit besprühen, markieren, transformieren. Durch die rohen, ungezügelten Klangwelten ihrer akustisch-elektronischen Band, wie sie jetzt gebraucht werden. Auch Hayden Chisholm, Festival-Inventar seit Jahren, aktualisierte mit seiner „Kinetic Chain“ den Jazz-Anspruch des Festivals. Was zuammen mit Jonas Burgwinkel, Peter Eldh und Jonas Kaufmann auf ein entrücktes Nocturno hinaus lief.
Eine spannende junge Wilde aus der amerikanischen Szene ist die Pianistin Angelica Sanchez, die aus Hörenden echte Teilnehmende werden ließ, welche sie und ihren Flügel auf dem Boden, konzentriert hinein lauschend, dicht umringten. Ausformulierte, treibend swingende Idiome stoßen in freie Klangflächen vor, dieser hypnotische Fluss vereint die Menschen intuitiv. Da gab es definitiv keinen Grund mehr, auf dem heimischen Sofa sitzen zu bleiben und sich einzubilden, dass nach dem „unerreichten“ Köln-Concert nichts mehr nachgekommen sei. Am Vormittag danach spielte Angelica Sanchez hoch oben auf einer Hubbühne über dem Festivalgelände, jetzt deutlich elektronischer und atmosphärischer. Solche Klänge hätte es bei den Darbietungen aus der Vogelperspektive heraus noch mehr gebraucht, um noch mehr Laufpublikum für die Mission dieses Festivals zu verführen.
Wadada Leo Smith und Vijay Iyer lieferten den definitiven Höhepunkt des diesjährigen Moers-Festivals, wenn es um Weltklasse-Exzellenz im zeitgenössischen Jazz geht. Aus tiefsten Basstönen vom Klavier wird der Raum weit gemacht, wie schwere Seufzer klingen die ersten Trompetentöne. Das Piano funkelt zunächst nur leise auf. Der Pianist schafft atmosphärischen Raum auch auf dem Synthesizer während Smiths ergreifender, spannungsbeladen phrasierender Erzählfluss nie abreißt. Zunehmend antwortete Vijay Iyer in messerscharfer Kalibrierung auf die weiten, im Innersten ergreifenden Narrative dieses genialen Trompeters, der 1979 zum ersten Mal in Moers spielte.
Mittendrin steht ein Mahnmal: Stelen mit erschreckend vielen Namen abgewickelter Festivals als direkter Verweis auf die kulturpolitische Realität. Das Bundesjazzorchester spielte Stücke, die in den 1930er-Jahren eine heile Welt vorgaukeln sollten, dazu wurden Texte aus NS-Entschädigungsakten rezitiert, welche diverse Einzelschicksalevon Kulturschaffenden. Die Mahnung ist klar: Wehret repressiven Zeiten, die zuallererst die Kultur töten. Moers steht noch stabil da als wärmendes Kraftwerk für menschliche Emotionen. Noch. Das dynamische Ticketing hat in diesem Jahr noch mehr und durchmischteres Publikum hervorgebracht. Der Spendenhut geht trotzdem auch hier schon rum.
Ein großes Finale, aber kein Ende
Im Idealfall ist das letzte Konzert eben nicht nur ein Soundtrack zum Abbauen und Tschüss-Sagen, sondern bündelt nochmal alle Energie zwischen den Menschen. Und ja: Diese Ausgabe darf sich auf jeden historisch in die Top-Five der intensivsten Festival-Abschlüsse einreihen. Die „Bühne“, die in der Halle von Moers eben nichts trennendes verkörpert, gehörte noch einmal mal Caspar Brötzmann – diesmal mit seinem Massaker-Trio, das zusammen mit Eduardo Delgado Lopez und unter neuer Beteiligung der Fehlfarben-Schlagzeugerin Saskia von Klitzing in runderneuerter, extrem ausgeschlafener Weise den Moment zum Brennen brachte, meist betont prog-metal-lastig. Roh, intensiv, grell leuchtend! War es das etwa jetzt schon? Nein, jetzt geht es erst richtig los…
Höhenflug über dem Niederrhein
Das Moers Festival 2025: Wenn Stille zum Manifest wird
60 Meter über dem Moers-Festival in der Sponsor-Kran-Gondel: Da unten breitet sich die Festivalhalle aus, umgeben von schmucklosen Nebengebäuden und Buden, Menschengewimmel, Fahrzeuge. Weiter hinten, etwas entrückt, die Campingzelte im weitläufigen Park. Im Osten die Ruhrgebiets-Zechentürmen, westlich nur noch grüne Landschaft bis zum Horizont. Der von unten heraufwehende elektrische Gitarrensound könnte an eine verwehte Jimi-Hendrix-Improvisation erinnern. So handzahm erlebt man Caspar Brötzmann selten, der auf einer anderen Kran-Bühne aus agierte. Tim Isfort hatte den Musiker zu Recht gebeten, an diesem Ort etwas sanfter zu spielen. Es muss einen ja auch etwas auffangen von hier oben, aus dieser luftigen Höhe….
Am Boden herrscht das übliche Gewusel, das durch die Festivalkonzeption dieses Jahres noch enger daher kam: Klänge scheppern durcheinander, Barrikaden durchschneide den Raum. Es dauert immer eine Weile, bis aus Beobachtern echte Teilnehmende werden. Das ist die allgemeine Formel für Festivals – und für Moers im Besondern!
Tag eins pulverisierte sogleich die kulturellen Hierarchien mit einer Premiere, die es so auch in einem halben Jahrhhundert Festivalgeschichte noch nicht gab: Das Projekt Multiple Voices führte Thomas Tallis‘ „Spem in Alium“ (1570) gleich fünf Stunden lang auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) singen live, während Soundengineer Markus Wallner ihre Stimmen durch den Raum schichtet. Aus zwei werden vierzig Stimmen, das Publikum – vom ergrauten Jazzveteraten bis zu hippen Zwanzigjährigen – wird Teil einer kollektiven Meditation. Den distinguierten Herren hinter den Notenpulten haftet fast so eine Heiligkeit an wie etwa den Musikern von Kraftwerk. Diese uralte Musik wird durch ihre unkonventionelle Behandlung ja auch zum Dialog zwischen Mensch und Maschine erhoben.
„Wir geben dem Bühnengeschehen einen Rahmen“, erklärte Tim Isfort. Die Bühnenarchitektur folgt keinen festen Regeln mehr – sie entwickelt um Musiker und Publikum eher eine Art organische Architektur, um die jeweilige Situation zu etwas Großen anwachsen zu lassen. Mal zentral, mal dezentral positioniert. Diese Überwindung der sonst üblichen latenten Steifheit bei den Konzerten trägt seit Jahren Früchte: Ein altersmäßig und soziokulturell ausgesprochen buntes Publikum bevölkert die Konzerte drinnen und draußen. Nein, früher im Park war nicht alles besser – zumindest herrscht damals noch eine starke Apartheid zwischen den zahlenden Musikspezialisten im eingezäunten Festivalzelt und den zahllosen jungen Leuten, denen freies Feiern ein ernsthaftes Anliegen ist.
Eine ganz neue, frischer Quelle tat sich mit der aktuellen China-Kooperation des Festivals auf, als lebendige, leidenschaftliche Antithise zu allen medialen Stereotype, die dem unheimich mächtigen Reich der Mitte normalerweise anhaften. Der Saxofonist (unter anderem) Li Daiguo (bBb bBb) verdichtete sein Konzert zu einem Pianisten-Duo: Coltrane hätte dem nichts hinzuzufügen gehabt. Mamer aus der uigurischen Bevölkerung demonstierte, dass auch in dieser gloalen Region der musikalische Untergruuund brennt – auf fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik sprengte ein mächtiger Stream of Consciousness alle Kategoriebegriffe, ob sie nun Noise, Doom oder Drone oder was auch immer heißen.
Die neue Baumschatten-Bühne direkt bei der Zeltwiese entwickelt ein subversives Festival-Flair, dass an so manche Bauernhof-Festivals, wo in der Jugend der absturz zelebriert wurde, erinnerte. Ein würdiger Ort, um auch mit einer sdatten Dröhnung Oldschool-Freejazz lustvollvoll die Gegenwart mit allen Grüdungsmyhten des Moers-Festival wieder kurz zu schließen.
Und was dabei herauskommt wenn sich hungrige Gegenwarts-Artits aus China mit der hieisgen Musikszene kollaborit, das riss beii der Band „Das Ende der Liebe“ mit su dance110 alle Gernzen ein mit diesem waherndenPsychedelische Soundschungel, trancigen Beats und kollektiver Hypnose. Hinterher schweißgeabde sein trotz kühlen Temperturen und auch Regen immer wieder. So muss das!
Das Motto gewählte „Stille“ blieb oft unverstanden – schließlich war es überall ziemlich laut iin Moers, man muss hier auch etwas kritisch bemerken, dass die musikalische Einlösung des Programmkonzetes durchaus eine spur zu überrezit geraten war. Hilfestellung gaben die Literaturzitate. Welche Stille ist gemeint? Vielleicht die Abwesenheit akustischer Alltagszumutungen, denen sich die Konseumenten-Masse bereitwillig unterordnet. Der Zwangsbeschallung zu entfliehen hat durchaus mit Stille zu tun – das machen auch alle die sich mit dem Kopfhörer vor den Alltagskulussen abschotten.
Die Uraufführung „Sei still!“ (DE/ISR/CA) von Maya Dunietz und William Northlich-Redmond gipfelte im symnoltrüchtig in einem stummen Schrei – wie im Bild von Edvard Munch, wie in der Ohnmacht einer zu lauten Welt. Stille als intensivste Form der Präsenz.
Koshiro Hinos „Chronograffiti“ schöpft puristisch aus der Stille. Drei Perkussionisten demonstrieren das dynamische Spektrum ihrer Instrumente in Steve-Reich-artigen Crescendo-Patterns. Als Hino schließlich auf die Riesen-Taiko draufzimmerte, freute sich das Publikum auf den Liegekissen über die Zwerchfell-Massage.
Mette Rasmussen elektrisiert als wichtigste Stimme der europäischen Impro-Szene. Die Dänin repräsentiert eine Generation, die das Free-Jazz-Erbe nicht konserviert, sondern radikal weiterentwickelt. Nicht technische Perfektion zählt, sondern die spontane Erschaffung von Klangwelten. Sie verkörpert die „Chronograffiti“-Ästhetik perfekt: Zeit besprühen, markieren, transformieren. Durch rohe, ungezügelte Klangwelten, wie sie jetezt einfach gebraucht werden.
Auch Hayden Chisholm, Festival-Inventar seit Jahren, rechtfertigt mit Kinetic Chain den Jazz-Anspruch des Festivals. Mit Burgwinkel, Eldh und Kaufmann entsteht ein entrücktes Nocturno – die improvisatorische Haltung wird zum Lebensprinzip.
Auch die Pianisten Angelica Sanchez machte aus Hörenden echte Teilnehmende. Jazz-Idiome stoßen in freie Klangflächen vor, ein hypnotischer Fluss vereint die Menschen intuitiv. Da gab es definitiv keinen Grund mehr, auf dem heimischen Sofa sitzen zu bleiben und sich einzubilden, dass nach dem „unerreichten“ Köln-Concert nichts mehr nachgekommen sei. Am Vormittag danach spielte Angelica Snachze hoch oben auf einer Hubbühne über dem Festivalgeläden – nun elektronisscher, atsmohrischer. Solehc Klänge hätte es hier draußen mehr gebraucht, um wirklch das Laufpuublikum für die große Sache dieses Festivals zu verführen.
Wadada Leo Smith und Vijay Iyer lieferten schlie0lcihe den definitiven Höhepunkt des diesjährigen Moers-Festivals, wenn es um Weltklasse-Exzellenz im zeitgenössischen Jazz beim Moers-Festival geht. Aus tiefsten Basstönen vom Klavier wird der Raum weit gemacht, dann klingen Trompetentöne wie schwere Seufzer, das Piano funkelt zunächst nur leise auf. Vijay schafft atmosphärischen Raum, während Smiths Erzählfluss nie abreißt. Erst später antwortete Vijay aer in messersharfer Ialibrigung auf die endlos, weiten, im innersten ergreifenden Narrative dieses genialen Trompeters, der 1979 zum ersten Mal in Moers spielte.
Mittendrin steht ein Mahnmal: Stelen mit erschreckend vielen Namen der abgewickelten Festivals als direkter Verweis auf die kulturpolitische Realität. Das Bundesjazzorchester spielte Stücke, die in einen den 1930er-Jahren eine heile Welt vorgaukeln sollten, dazu wurden Ttexte aus NS-Entschädigungstexten rezitiert. Die Mahnung ist klar: Wehret repressiven Zeiten, die zuallerst die Kultur töten. Moers steht noch stabil da als wäremndes Kraftwerk für menschliche Emotionen. Noch. Das dynamische Ticketing hat in diesem Jahr noch mehr und durchmischteres Publikum hervor gebracht. Der Spendenhut geht trotzdem auch hier schon rum.
Tim Isfort legt großen Wert darauf, dem Festival ein großes, echtes Finale zu geben. Im Idealfall ist das letzte Konzert beim eben nicht nur ein Soundtrack zum Abbauen und Tschüss-Sagen, sondern bündelt nochmal alle Energie zwischen den Menschen. Die Bühne, die in der Halle von Moers keine ist, gehörte nochmal Caspar Brötzmann, diesmal mit seinem Massaker-Trio, das zusammen mit Eduardo Delgado Lopez und unter neuer Beteiligung der Fehlfarben-Schlagzeugerin Saskia von Klitzing in runderneuerter, extrem ausgeschlafener Weise den Moment zum Brennen brachte und dies meist betont prog-metal-lastig. War es das etwa jetzt schon? Nein, jetzt geht es erst richtig los…
Im letzten Jahr ging das reichlich daneben, dafür darf sich der disjährige Abschluss ohne weiteres in die Top Five der allerbesten Abschlüsse einreihen. Alle, die hier mitgeh
Das ideale letzte Konzert funktioniert nicht nur als Abbau-Soundtrack, sondern als echtes Finale. Caspar Brötzmanns Trio „Massaker“ zeigt sich extrem ausgeschlafen und prog-metal-lastig. Das ist ganz großes Kino – mehr Energie geht nicht.
Nach Moers zu kommen heißt zurückzukommen – und danach von etwas Neuem, noch nicht dagewesenen erfüllt zu sein.
Höhenflug über dem Niederrhein
Das Moers Festival 2025: Wenn Stille zum Manifest wird
60 Meter über dem Moers-Festival in der Sponsor-Kran-Gondel: Da unten breitet sich die Festivalhalle aus, umgeben von schmucklosen Nebengebäuden und Buden, dazwischen stehen Campingzelte im Park verteilt. Dahinter erstreckt sich grüne Landschaft bis zu den Ruhrgebiets-Zechentürmen. Der von unten heraufwehende Sound erinnert an Jimi Hendrix – dieser „Hendrix-Flow“ aus der Höhe hat etwas Magisches, als würde die Musik schweben, ja, würde einen vielleicht sogar von hier oben auffangen. Tim Isfort hatte Caspar Brötzmann gebeten, sanfter zu spielen. Der radikale Sohn des Festival-Pioniers macht das überraschend gut.
Am Boden herrscht das übliche Neu-Chaos: Alles drängt sich dicht zusammen, Barrikaden strukturieren den Raum, Klänge scheppern durcheinander. Es dauert immer eine Weile, bis aus den Beobachtern echte Teilnehmende werden. Das ist die eigentliche Festival-Formel von Moers.
Renaissance meets Kraftwerk
Tag eins pulverisierte sogleich die kulturelle Hierarchien: Das Projekt Multiple Voices führte Thomas Tallis‘ „Spem in Alium“ (1570) gleich fünf Stunden lang auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) singen live, während Soundengineer Markus Wallner ihre Stimmen durch den Raum schichtet. Aus zwei werden vierzig Stimmen, das Publikum – vom Jazz-Greis bis zur Zwanzigjährigen – als Teil einer kollektiven Meditation. Den distinguierten Herren haftet dabei fast so eine Heiligkeit wie etwa bei den Musikern von Krafftwerk an. Und ja: Ein Dialog zwiscchen Mensch und Maschine pflegte diese uralte Musik ja auch irgendwie in der Festivalhalle.
„Wir geben dem Bühnengeschehen einen Rahmen“, erklärte Tim Isfort. Die Bühnenarchitektur folgt keinen festen Regeln mehr – sie entwickelt um die Musik und ddas Publikum eher eine Art organischer Architektur, die aus der jeweiligen Situation wächst. Mal zentral, mal dezentral positioniert. So etwas hat schon seit jahren die sonst üblihe Steifheit bei Konzerten überwunden: Ein deutlich jüngeres, durchmischteres Publikum bevölkert die Räume, was für alle Konzerte drinnen uund draußen gilt. Nein, früher im park war nicht alles besser – denn damals herrschte zumindest noch diese Apardheid zwischen den zahlenden Musikspezialisten im Festivalzelt und den zzahllosen jungen Leuten, denen freies Feiern ein ernsthaftes anliegen ist.
China gegen Klischees
Die neue Baumschatten-Bühne entwickelt ein subversives Bauernhof-Festival-Flair. Hier bekommt die Freejazz-Hommage an das legendäre Festival Peitz besondere Bedeutung. Oldschool-Freejazz wird lustvoll zelebriert – ein Open-Air-Feeling jenseits bildungsbürgerlicher Attitüden entsteht.Die China-Kooperation schafft erfrischendes Neuland gegen mediale Stereotype. Li Daiguo (bBb bBb) verdichtet sein Konzert zu einem Pianisten-Duo – Coltrane hätte nichts hinzuzufügen gehabt. Mamer aus der uigurischen Bevölkerung zeigt Underground-Power mit fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik. Sein Stream of Consciousness sprengt die üblichen Noise/Doom/Drone-Kategorien. Solche Zeit-Kurzschlüsse erden das Festival und lassen Vergangenes unter heutigen Bedingungen weiterleben: im Sicherheitsvorschriften-Dschungel, unter ökonomischen Zwängen. Die Frage „War früher alles besser?“ wird praktisch beantwortet durch die Aktualisierung vergangener Energien. Klaviercluster krachen durch den Raum, Bassgewitter entladen sich, roher Klang wuchert wild. Generationenübergreifende Ekstase entwickelt sich in ihrer reinsten Form.
Noch intensiver wird es bei „Das Ende der Liebe“ mit su dance110. Psychedelische Sounds und brutale Beats sorgten letztlih auch für eine körperlich intensive Erfahrung – das Publikum ist schweißgebadet trotz der Kälte.
Stille als Widerstand
Das Motto „Stille“ bleibt oft unverstanden – schließlich ist es ziemlich laut. Die überreizte musikalische Einlösung steht im Kontrast zum Konzept. Aber genau darin liegt die Stärke: Es geht nicht um einen Perfektionsanspruch, sondern um gezielte Anschlüsse – um Momente, in denen das Publikum vom passiven Konsumenten zum aktiven Teilnehmenden wird. Welche Stille ist gemeint? Vielleicht die Abwesenheit akustischer Alltagszumutungen, denen sich die Masse bereitwillig unterordnet. Der Zwangsbeschallung zu entfliehen hat durchaus mit Stille zu tun, auch wenn es dabei laut wird.
Die Uraufführung „Sei still!“ (DE/ISR/CA) von Maya Dunietz und William Northlich-Redmond gipfelt im stummen Schrei – wie bei Munch, wie in der Ohnmacht einer zu lauten Welt. Stille manifestiert sich dabei als intensivste Form der Präsenz.
Koshiro Hinos „Chronograffiti“ schöpft puristisch aus der Stille. Drei Perkussionisten demonstrieren das dynamische Spektrum ihrer Instrumente in Steve-Reich-artigen Crescendo-Patterns. Als Hino schließlich auf die Riesen-Taiko einprügelt, freut sich das Publikum über die Zwerchfell-Massage.
Mette Rasmussen elektrisiert als wichtigste Stimme der europäischen Impro-Szene. Die Dänin repräsentiert eine Generation, die das Free-Jazz-Erbe nicht konserviert, sondern radikal weiterentwickelt. Nicht technische Perfektion zählt, sondern die spontane Erschaffung von Klangwelten. Sie verkörpert die „Chronograffiti“-Ästhetik perfekt: Zeit besprühen, markieren, transformieren.
Jazz-Biotop
Hayden Chisholm, Festival-Inventar seit Jahren, rechtfertigt mit Kinetic Chain den Jazz-Anspruch des Festivals. Mit Burgwinkel, Eldh und Kaufmann entsteht ein entrücktes Nocturno – die improvisatorische Haltung wird zum Lebensprinzip.
Angelica Sanchez macht aus Hörenden echte Teilnehmende. Jazz-Idiome stoßen in freie Klangflächen vor, ein hypnotischer Fluss vereint die Menschen intuitiv. Da gab es definitiv keinen Grund mehr, auf dem heimischen Sofa sitzen zu bleiben und sich einzubilden, dass nach dem „unerreichten“ Köln-concert nichts mehr nachgekommen sei.
Wadada Leo Smith und Vijay Iyer lieferten dann den definittiven Höhepunkt des diesjährigen Moers-Festival, wenn es um Weltklasse-Exzellenz im zeitgenösischen Jazz geht. Aus tiefsten Basstönen von Klavier wurde der Raum weit gemacht, da klingen Trompetentöne wie schwere Seufzer, das Piano funkelt dazwischen. Vijay schafft atmosphärischen Raum, während Smiths Erzählfluss nie abreißt. Eine meditative Sogkraft entwickelt sich – unterstützt durch Material vom ECM-Album „Defiant Live“.
Mittendrin steht ein Mahnmal: Stelen mit Namen abgewickelter Festivals – ein direkter Verweis auf die kulturpolitische Realität. Das Bundesjazzorchester spielt Stücke aus den 1930er-Jahren mit NS-Entschädigungstexten. Die Mahnung ist klar: Wehret repressiven Zeiten, die zuerst die Kultur töten. Moers steht noch stabil da als Kraftwerk für menschliche Emotionen. Noch. Das dynamische Ticketing bringt mehr und durchmischteres Publikum. Der Spendenhut geht trotzdem schon rum.
Massaker als Finale
Das ideale letzte Konzert funktioniert nicht nur als Abbau-Soundtrack, sondern als echtes Finale. Caspar Brötzmanns Trio „Massaker“ zeigt sich extrem ausgeschlafen und prog-metal-lastig. Das ist ganz großes Kino – mehr Energie geht nicht.
Nach Moers zu kommen heißt zurückzukommen – aber auch von völlig Neuem erfüllt zu werden. Das ist der Deal – und der ging auf. Anders als vorhergesehen, so muss das!
Taz lang
Höhenflug über dem Niederrhein
Das Moers Festival 2025: Wenn Stille zum Manifest wird
60 Meter über dem Moers-Festival in der Sponsor-Kran-Gondel: Da unten Festivalhalle, schmucklose Nebengebäude, Buden, dazwischen Campingzelte im Park. Dahinter grüne Landschaft bis zu den Ruhrgebiets-Zechentürmen. Der heraufwehende Sound erinnert an Jimi Hendrix – dieser „Hendrix-Flow“ wirkd der Höhe hat etwas Magisches, Musik, die . Tim Isfort hatte Caspar Brötzmann gebeten, sanfter zu spielen. Der radikale Festival-Pionier-Sohn macht das überraschend gut.
Am Boden das übliche Neu-Chaos: alles dicht gedrängt, Barrikaden, durcheinander scheppernde Klänge. Dauert immer, bis aus Beobachtern Teilnehmende werden. Das ist der eigentliche Moers-Trick.
Renaissance meets Kraftwerk
Tag eins pulverisiert kulturelle Hierarchien: Multiple Voices führt Thomas Tallis‘ „Spem in Alium“ (1570) fünf Stunden auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) singen live, während Soundengineer Markus Wallner ihre Stimmen durch den Raum schichtet. Aus zwei werden vierzig Stimmen. Das Publikum – vom Jazz-Greis bis zur Zwanzigjährigen – wird Teil kollektiver Meditation. Den distinguierten Herren haftet fast die unnahbare Kraftwerk-Heiligkeit an.
„Wir geben dem Bühnengeschehen einen Rahmen“, erklärt Tim Isfort. Die Bühnenarchitektur folgt keinen festen Regeln mehr – organisches Design, das aus der Situation wächst. Mal zentral, mal dezentral. Das funktioniert: Ein deutlich jüngeres, durchmischteres Publikum bevölkert die Räume. Endlich schließen sich Kreise, die lange unterbrochen schienen. Früher herrschte rigide Apartheid zwischen zahlenden Musikspezialisten und jungen Leuten.
China gegen Klischees
Die China-Kooperation schafft erfrischendes Neuland gegen mediale Stereotypen. Li Daiguo (bBb bBb) verdichtet sein Konzert im Pianisten-Duo – Coltrane hätte nichts hinzuzufügen gehabt. Mamer aus der uigurischen Bevölkerung zeigt Underground-Power mit fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik. Sein Stream of Consciousness sprengt die üblichen Noise/Doom/Drone-Kategorien.
Die neue Baumschatten-Bühne entwickelt subversives Bauernhof-Festival-Flair. Hier bekommt die Freejazz-Hommage an das legendäre Festival Peitz besondere Bedeutung. Oldschool-Freejazz wird lustvoll zelebriert – Open-Air-Feeling jenseits bildungsbürgerlicher Attitüden. Solche Zeit-Kurzschlüsse erden das Festival, lassen Vergangenes unter heutigen Bedingungen weiterleben: im Sicherheitsvorschriften-Dschungel, unter ökonomischen Zwängen. Die Frage „War früher alles besser?“ wird praktisch beantwortet: durch Aktualisierung vergangener Energien. Klaviercluster krachen, Bassgewitter entladen sich, roher Klang wuchert. Generationenübergreifende Ekstase pur.
Intensiver noch: „Das Ende der Liebe“ mit su dance110. Psychedelische Sounds und brutale Beats sorgen für körperlich intensive Erfahrung – schweißgebadet trotz Kälte.
Stille als Widerstand
Das Motto „Stille“ bleibt oft unverstanden – schließlich ist es ziemlich laut. Überreizte musikalische Einlösung im Kontrast zum Konzept. Aber genau darin liegt die Stärke: Kein Perfektionsanspruch, sondern gezielte Anschlüsse – Momente, wo das Publikum vom passiven Konsumenten zum aktiven Teilnehmenden wird. Welche Stille ist gemeint? Vielleicht Abwesenheit akustischer Alltagszumutungen, denen sich die Masse bereitwillig unterordnet. Zwangsbeschallung entfliehen – das hat mit Stille zu tun, auch wenn’s laut wird.
Die Uraufführung „Sei still!“ (DE/ISR/CA) von Maya Dunietz und William Northlich-Redmond gipfelt im stummen Schrei – wie bei Munch, wie in der Ohnmacht einer zu lauten Welt. Stille als intensivste Präsenz-Form.
Koshiro Hinos „Chronograffiti“ schöpft puristisch aus der Stille. Drei Perkussionisten demonstrieren das dynamische Spektrum ihrer Instrumente in Steve-Reich-artigen Crescendo-Patterns. Als Hino auf die Riesen-Taiko einprügelt, freut sich das Publikum über Zwerchfell-Massage.
Mette Rasmussen elektrisiert als wichtigste Stimme der europäischen Impro-Szene. Die Dänin repräsentiert eine Generation, die Free-Jazz-Erbe nicht konserviert, sondern radikal weiterentwickelt. Nicht technische Perfektion zählt, sondern spontane Klangwelt-Erschaffung. Sie verkörpert die „Chronograffiti“-Ästhetik: Zeit besprühen, markieren, transformieren.
Jazz-Biotop
Hayden Chisholm, Festival-Inventar, rechtfertigt mit Kinetic Chain den Jazz-Anspruch. Mit Burgwinkel, Eldh und Kaufmann entsteht ein entrücktes Nocturno – improvisatorische Haltung als Lebensprinzip.
Angelica Sanchez macht aus Hörenden Teilnehmende. Jazz-Idiome stoßen in freie Klangflächen vor, hypnotischer Fluss vereint die Menschen intuitiv. Das Köln-Concert von damals? Vergessen.
Wadada Leo Smith und Vijay Iyer liefern den Jazz-Höhepunkt für Weltklasse-Exzellenz. Aus tiefsten Basstönen wird der Raum weit gemacht, Trompetentöne wie schwere Seufzer, funkelndes Piano. Vijay schafft atmosphärischen Raum, Smiths Erzählfluss reißt nie ab. Meditative Sogkraft. Material vom ECM-Album „Defiant Live“.
Mittendrin ein Mahnmal: Stelen mit Namen abgewickelter Festivals – Verweis auf kulturpolitische Realität. Das Bundesjazzorchester spielt 1930er-Jahre-Stücke mit NS-Entschädigungstexten. Mahnung: Wehret repressiven Zeiten, die zuerst die Kultur killen. Moers steht noch stabil als Kraftwerk für menschliche Emotionen. Noch. Dynamisches Ticketing bringt mehr und durchmischteres Publikum. Der Spendenhut geht trotzdem schon rum.
Massaker als Finale
Ideales letztes Konzert: nicht nur Abbau-Soundtrack, sondern echtes Finale. Caspar Brötzmanns Trio „Massaker“ zeigt sich extrem ausgeschlafen und prog-metal-lastig. Ganz großes Kino – mehr Energie geht nicht.
Nach Moers kommen heißt zurückkommen – aber auch von völlig Neuem erfüllt werden. Das ist der Deal.
Taz
Höhenflug über dem Niederrhein
60 Meter über dem Moers-Festival hängt man in der Gondel des Sponsor-Krans und blickt auf ein vertrautes Szenario: Festivalhalle, Pavillons, Buden, dazwischen die Campingzelte im Park. Dahinter das Ruhrgebiet mit seinen Zechentürmen. Der Sound, der heraufweht, erinnert an Jimi Hendrix – dieser „Hendrix-Flow“ in der Höhe hat tatsächlich etwas Magisches. Festivalleiter Tim Isfort hatte Caspar Brötzmann gebeten, in diesem Setting sanfter zu spielen. Der Sohn des Moers-Pioniers Peter Brötzmann macht das überraschend gut.
Unten angekommen, herrscht das übliche Chaos neuer Festivalausgaben: alles dicht gedrängt, Barrikaden, durcheinander scheppernde Sounds. Dauert immer etwas, bis aus Zuschauern Teilnehmende werden. Das ist der eigentliche Trick von Moers.
Renaissance meets Kraftwerk
Tag eins startet mit kultureller Hierarchie-Sprengung: Das Projekt Multiple Voices führt Thomas Tallis‘ Renaissance-Motette „Spem in Alium“ von 1570 fünf Stunden am Stück auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) singen live, während Soundengineer Markus Wallner ihre Stimmen durch den Raum schichtet. Aus zwei werden vierzig Stimmen, das Publikum – vom Jazz-Greis bis zur Zwanzigjährigen – wird Teil einer kollektiven Meditation. Die beiden Sänger bekommen dabei fast die unnahbare Heiligkeit der Kraftwerk-Musiker.
„Wir geben dem Bühnengeschehen einen Rahmen“, erklärt Tim Isfort seine Kuratorenphilosophie. Die Bühnenarchitektur folgt keinen festen Regeln mehr – organisches Design, das aus der Situation herauswächst. Mal zentral, mal dezentral, kreisförmig oder linear. Das funktioniert: Ein deutlich jüngeres, durchmischteres Publikum bevölkert die Räume. Endlich schließen sich Kreise, die lange unterbrochen schienen. Früher herrschte rigide Apartheid zwischen zahlenden Musikspezialisten und jungen Leuten.
China gegen Klischees
Die China-Kooperation schafft erfrischendes Neuland gegen die üblichen Stereotypen. Li Daiguo (bBb bBb) verdichtet sein Konzert im Duo mit dem Pianisten – Coltrane hätte nichts hinzuzufügen gehabt. Mamer aus der uigurischen Bevölkerung zeigt Underground-Power mit fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik. Noise, Doom, Drone – sein Stream of Consciousness sprengt diese dumpfen Kategorien.
Die neue Baumschatten-Bühne entwickelt subversives Bauernhof-Festival-Flair. Hier bekommt die Freejazz-Hommage an das legendäre Festival Peitz besondere Bedeutung. Oldschool-Freejazz wird lustvoll zelebriert – die Bühne bietet Open-Air-Feeling jenseits bildungsbürgerlicher Attitüden. Solche Zeit-Kurzschlüsse erden das Festival, lassen Vergangenes unter heutigen Bedingungen weiterleben. Klaviercluster krachen in die Stille, Bassgewitter entladen sich, roher Klang wuchert ungebremst. Generationenübergreifende Ekstase pur.
Noch intensiver: „Das Ende der Liebe“ mit Performance-Künstlerin su dance110. Psychedelische Sounds und brutale Beats sorgen für körperlich intensive Erfahrung – schweißgebadet trotz Kälte.
Stille als Widerstand
Das Motto „Stille“ bleibt oft unverstanden – schließlich ist es ziemlich laut. Das Motto steht im Kontrast zur überreizten musikalischen Umsetzung. Aber genau darin liegt die Stärke: Kein Perfektionsanspruch fürs Ganze, sondern gezielte Anschlüsse – Momente, wo das Publikum vom passiven Konsumenten zum aktiven Teilnehmenden wird.
Die Uraufführung „Sei still!“ (DE/ISR/CA) von Maya Dunietz und William Northlich-Redmond für das ColLAB Ensemble der Kölner Musikhochschule gipfelt im stummen Schrei – wie bei Munch, wie in der Ohnmacht einer zu lauten Welt. Stille als intensivste Form der Präsenz.
Koshiro Hinos „Chronograffiti“ schöpft puristisch aus der Stille. Drei Perkussionisten demonstrieren das dynamische Spektrum ihrer Instrumente in Steve-Reich-artigen Crescendo-Patterns. Als Hino auf die Riesen-Taiko einprügelt, freut sich das Publikum über Zwerchfell-Massage.
Mette Rasmussen elektrisiert als wichtigste Stimme der europäischen Impro-Szene. Nicht technische Perfektion zählt, sondern spontane Klangwelt-Erschaffung. Sie verkörpert die „Chronograffiti“-Ästhetik: Zeit besprühen, markieren, transformieren.
Jazz-Biotop
Hayden Chisholm rechtfertigt mit seiner Kinetic Chain den Jazz-Anspruch. Mit Burgwinkel, Eldh und Kaufmann entsteht ein entrücktes Nocturno – improvisatorische Haltung als Lebensprinzip.
Angelica Sanchez macht aus Hörenden Teilnehmende. Ihre Jazz-Idiome stoßen in freie Klangflächen vor, hypnotischer Fluss vereint die Menschen intuitiv. Das Köln-Concert von damals? Vergessen.
Wadada Leo Smith und Vijay Iyer liefern den Jazz-Höhepunkt für Weltklasse-Exzellenz. Aus tiefsten Basstönen wird der Raum weit gemacht, Trompetentöne wie schwere Seufzer, funkelndes Piano. Vijay schafft atmosphärischen Raum, Smiths Erzählfluss reißt nie ab. Material vom ECM-Album „Defiant Live“.
Mittendrin steht ein Mahnmal: Stelen mit Namen abgewickelter Festivals – Verweis auf kulturpolitische Realität. Das Bundesjazzorchester spielt 1930er-Jahre-Stücke mit NS-Entschädigungstexten. Mahnung: Wehret repressiven Zeiten. Moers steht noch stabil als Kraftwerk für menschliche Emotionen. Noch.
Massaker als Finale
Caspar Brötzmanns Trio „Massaker“ zum Schluss: extrem ausgeschlafen und prog-metal-lastig. Ganz großes Kino – mehr Energie geht nicht.
Nach Moers kommen heißt zurückkommen – aber auch von völlig Neuem erfüllt werden. Das ist der Deal.
Short
Höhenflug über dem Niederrhein
Das Moers Festival 2025: Wenn Stille zum Manifest wird
Diesen Ausblick gab es noch nie: Das Moers-Festival von oben aus entrückter Flugperspektive – aus immerhin 60 Metern, aus einer Gondel am größten Hebekran des neuen Hauptsponsors des Moers-Festivals. Da sind sie unten: Die Festivalhalle und ihre ganz schmucklosen Nebengebäude, Pavillons, Buden, Fahrzeuge, mittendrin kleine Buden. Weiter weg eine beschauliche Parklandschaft mit den Zelten der Camper darin, lose verteilt. Dahinter grüne Landschaft bis zum Horizont. Oder die Zechentürme und Stahlwerke des Ruhrgebiets. Fast schon ein bisschen wie Jimi Hendrix klingt der Sound, der von unten nach oben heraufweht, friedlich genug, um auch letzte Anflüge von Höhenangst zu nehmen. Dieser Hendrix-Flow in der Höhe hat etwas Magisches. Als würde die Musik einen da unten sowieso auffangen. Tim Isfort hatte Caspar Brötzmann eigens darauf hingewiesen, in diesem Setting etwas sanfter-atmosphärischer zu spielen. Und das hatte der ansonsten sehr radikale Sohn eines der historischsten Festival-Pioniere von Moers in diesem Moment richtig gut drauf.
Wieder am Boden des neu gestalteten Festivalgeländes war alles erstmal ungewöhnlich – aber das war schon oft so, wenn eine neue Festivalausgabe, regelmäßig mit verändernden Rahmenbedingungen jonglierend, in Moers beginnt: Alles ist dicht und eng beieinander gestellt, Barrikaden überall, der Parkplatz voller lauter, gleichzeitiger Klänge, die oft auch durcheinanderkommen. Aber ja: Wie bei der Reise in ein unbekanntes Land braucht es Zeit, bis der Prozess von Beobachtenden zu Teilnehmenden gelingt. Genau dieser Übergang aber ist beim Moers Festival der Schlüssel zu allem.
Renaissance trifft Kraftwerk
Der erste Festivaltag ging gleich in die Vollen, um möglichst viele kulturelle Hierarchien zu pulverisieren und das mit immensem Aufwand: Das Projekt Multiple Voices führte Thomas Tallis‘ monumentale Renaissance-Motette „Spem in Alium“ aus dem Jahr 1570 zur Primetime bzw. gleich fünf Stunden lang mit nur kurzen Verschnaufpausen in der großen Halle auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) sangen live, während Soundengineer Markus Wallner ihre Stimmen in Echtzeit durch den Raum schichtete. Schicht um Schicht, bis aus zwei Stimmen vierzig wurden. Das Publikum – vom Jazz-Veteranen bis zur Zwanzigjährigen auf dem Boden – wurde Teil einer kollektiven Meditation, mittendrin in dieser langsam anwachsenden Klangarchitektur – so erweiterten sie mit Live-Elektronik ihr eigenes 40-stimmiges Ensemble. Den beiden gereiften, distinguierten Herren hinter ihren Notenpulten haftet dabei schon fast eine unnahbare Heiligkeit wie etwa die Musiker von Kraftwerk an, wenn diese bei der Arbeit – und ja, diese mit Live-Elektronik bis zu zwölfstimmig erweiterte Vokalpolyphonie hat ja auch was mit einer Auseinandersetzung zwischen Mensch und Maschine zu tun.
„Wir haben die Chance, dem, was auf der Bühne passiert, einen Rahmen zu geben“, erklärt Festivalleiter Tim Isfort seine kuratorische Philosophie. „Ob das jetzt ein geschmackloser Goldrahmen ist oder ein einfacher, schöner Holzrahmen oder ein rahmenloses Konzert ist, das macht ja was mit dem eigentlichen Inhalt.“ Die Bühnenarchitektur folgt keinen festen Regeln mehr, das hat auch was von organischer Architektur – sie wächst aus der Situation heraus, passt sich den Bedürfnissen der jeweiligen Musik an. Mal zentral, mal dezentral, mal kreisförmig, mal linear – jede Performance schafft ihre eigene räumliche Logik. Diese Rahmengeber-Strategie zeigt Wirkung: Das Publikum hat sich über die Jahre immer mehr verjüngt und weiter durchmischt. Ein deutlich jüngeres Publikum als gewohnt bevölkert diese neu geschaffenen Räume, und man spürt unmittelbar: Hier schließen sich Kreise, die lange unterbrochen schienen. Wo andere, vor allem in die Jahre gekommene Jazzfestivals ein weitgehend altersmäßig und soziokulturell homogenes Milieu präsentieren, öffnen sich hier deutlich diverse Generationen und wohl auch Musikvorlieben für das Neue. Früher im Park war definitiv nicht alles besser. Damals herrschte sehr wohl eine rigide Grenzziehung zwischen den kartenzahlenden Musikspezialisten und vielen jungen Menschen, für die freies Feiern ein ernsthaftes Anliegen darstellt.
China jenseits der Klischees
Die aktuelle Festivalkooperation mit China schaffte in Moers so unendlich viel Erfrischendes, Aufschlussreiches, Neuland, um den vielen medial allgegenwärtigen Stereotypen über das mächtige Land der Mitte so viel Feines und Beseeltes entgegenzusetzen. Danke, Moers-Festival, alleine für diese überfällige Vermittlungsleistung! Der Saxophonist Li Daiguo von bBb bBb verdichtete sein Konzert auf der Open-Air-Bühne erst richtig im Duo mit seinem Pianisten – an spiritueller Tiefe und Ausdruckskraft hätte Coltrane wohl nicht mehr hinzuzufügen gehabt. Mamer, ein Künstler aus der muslimischen Uiguren-Bevölkerung Chinas, zeigt, wo in Sachen Underground von heute auch in so einem kontrollverliebten Land wie China der Hammer hängt – mit fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik – es gibt viele kurze, dumpf klingende Wörter für die Elemente, heißen sie nun Noise, Doom, Drone und Dark Drone, das dabei herauskommende Stream of Consciousness war noch viel mehr als das.
Die neue Bühne unter den Bäumen, wo auch dieses Konzert stattfand, entwickelte sich zu einer sehr schönen, wirkungsvollen Spielstätte mit dem Flair jener subversiven Bauernhof-Festivals, auf denen man in der Jugend gerne den Absturz zelebrierte. In diesem Kontext bekommt die Freejazz-Band, die eine Hommage an das legendäre Jazz-Festival Peitz spielt, eine besondere Bedeutung. Hier wird oldschool Freejazz zelebriert, wo draufgezimmert wird, lustvoll und ohne Kompromisse. Die Bühne da draußen unterm Baum braucht und kann das – sie bietet jenes Open-Air-Feeling jenseits irgendeines bildungsbürgerlichen Dünkels, das den ursprünglichen Geist des Jazz ausmacht. Solche bewusst inszenierten Zeit-Kurzschlüsse tragen zur Erdung des Festivals bei, lassen das Alte heute weiterleben, allerdings unter völlig anderen Bedingungen: im Dschungel heutiger Sicherheitsvorschriften, unter dem Druck ökonomischer Zwänge, vor dem Hintergrund veränderter Hörgewohnheiten. Die Frage „War früher wirklich alles besser?“ wird hier nicht nostalgisch beantwortet, sondern praktisch: durch die konkrete Aktualisierung vergangener Energien unter gegenwärtigen Bedingungen. Klaviercluster krachen in die Stille, Bassgewitter entladen sich über dem Publikum, der pure, rohe Klang wuchert ungebremst. Aufschrei, Aufbegehren – der Freigeist verschiedener Generationen verbindet sich in einem Moment der kollektiven Ekstase. Dort brachte sie auch die Headbanger-Fraktion zum Abfeiern, etwa bei der frenetisch-vorwärts-drauf-los-rockenden Band Holy Scum aus Manchester.
Noch intensiver, hypnotischer geriet der Auftritt einer deutsch-chinesischen Kooperation: Das Ende der Liebe mit der Performance-Künstlerin su dance110. Psychedelische Sounds stimulierten immer neue sinnliche Regungen und krasse Beats sorgten für körperlich intensive Erfahrung. Ausreichend genug, um auch bei den kalten Außentemperaturen nach diesem Konzert schweißgebadet zu sein – zumindest für alle bewegungsfreudigen Teilnehmer an dieser „klangreichen Reise der Reflexion und des Loslassens“, die im Programmheft versprochen worden war.
Stille als Manifest
Das Festival-Motto „Stille“ war vielfach diskutiert und manchmal unverstanden – schließlich war es die ganze Zeit sehr, sehr laut. Vielleicht manchmal auch zu laut, vor allem was die Draußen-Beschallungen betraf, die man sicherlich noch feiner, atmosphärischer hätte abstimmen können. Das Motto bleibt dabei phasenweise unverstanden im Kontrast zur konkreten musikalischen Einlösung, die laut, oft überreizt und noch nicht wirklich in sich ruhend ausfällt. Doch genau darin liegt die Stärke dieses Ansatzes: Der Perfektionsanspruch wird bewusst nicht an das Gesamte gestellt, sondern es werden gezielt Anschlüsse gesucht – Momente, wo sich Fühler ausstrecken, wo das Publikum sich abgeholt fühlt, wo die wichtige Schwelle vom passiven Beobachter und Konsumenten zum aktiven Teilnehmenden überschritten werden kann. Aber was für eine Form der Stille ist hier überhaupt gemeint? Vielleicht einfach mal die Abwesenheit akustischer Zumutungen des sonstigen Lebens, denen sich die Masse der Menschen bereitwillig unterordnet mit dem Resultat der Verstopfung aller Sinne für das Neue, Unerhörte? Sich von manipulativen Zwangsbeschallungen zu entfernen und ein Gegengewicht zu setzen, das hat durchaus auch mit Stille zu tun und auch, wenn es mal lauter wird. Die performative Öffnung des „Sei Still“-Konzerts gipfelt schließlich in einem stummen Schrei – vielleicht wie in einem Munch-Gemälde, vielleicht wie in der Ohnmacht angesichts einer Welt, die zu laut geworden ist für echte Kommunikation. Stille wird hier nicht als Abwesenheit von Klang verstanden, sondern als intensivste Form der Präsenz.
Sei still! (DE / ISR / CA) war ein Uraufführungsprojekt im Rahmen des moers festivals, das sich mit der Kraft und Bedeutung der Stille in der Musik auseinandersetzt. Maya Dunietz und William Northlich-Redmond komponierten für das ColLAB Ensemble der Hochschule für Musik und Tanz Köln unter der Leitung von Prof. Susanne Blumenthal. Mit Risa Matsushima (Sopran), Maria Zwerschke (Flöte), Alvaro Bañon Monje (Saxophon), Hanna-Maria Tikka (Violine), Adya Khanna Fontenla (Cello), Jacqueline Ferreira Dourado (Perkussion), Jonas Evenstad (Perkussion), Petek Atalay (Piano) und den Gästen Eyal Talmudi, Barbara Ivlev und Tom Soloveitzik (Saxophon) entstand in der Halle eine intensive Auseinandersetzung mit Maya Dunietz‘ „Speak out“ und William Northlich-Redmonds „WRecked Wheel“.
Ein Konzert, das sehr puristisch aus der Stille als Ausgangsbasis schöpfte, war der Auftritt von Koshiro Hino mit seinem Projekt Chronograffiti, einer Auftragskomposition des Festivals. Hier demonstrierten drei Perkussionisten in perfekter Reinheit das ganze dynamische und sinnliche Ausdrucksspektrum ihrer Schlaginstrumente – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Unglaublich präzise artikuliert wurden Betonungen und Akzente, meist in synchronisierten, manchmal auch an Steve Reichs Drumming erinnernden Crescendo-Patterns. Als Koshiro Hino schließlich in derselben Crescendo-Dramaturgie auf die Riesen-Taiko draufzimmert, freute sich das Publikum auf den Sitzsäcken über wohlige Zwerchfell-Massage.
Ein besonderer Höhepunkt des Festivals ist zweifellos der Auftritt von Mette Rasmussen, der dänischen Saxofonistin, die in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten Stimmen der europäischen Improvisationsszene geworden ist. Rasmussen repräsentiert eine neue Generation von Musikerinnen, die das Erbe des Free Jazz nicht einfach konserviert, sondern radikal weiterentwickelt. Ihr Spiel ist von einer Intensität geprägt, die das Publikum regelrecht elektrisiert. Dabei geht es nicht um technische Perfektion im herkömmlichen Sinne, sondern um die Fähigkeit, aus dem Moment heraus Klangwelten zu erschaffen, die vorher nicht existierten. Rasmussen verkörpert jene „Chronograffiti“-Ästhetik, die das Festival durchzieht – die Kunst, Zeit zu besprühen, zu markieren, zu transformieren.
Jazz-DNA und neue Biotope
Hayden Chisholm, fast schon Inventar des Festivals, rechtfertigte mit seiner Kinetic Chain den Anspruch, dass Moers auch ein Jazz-Festival ist. Zusammen mit Jonas Burgwinkel, Petter Eldh und Achim Kaufmann inszenierte er ein tiefgehendes, entrücktes Jazz-Nocturno in der Halle – denn die offene, improvisatorische Haltung, in Moers ein echtes Lebensprinzip mit ungebremstem Potenzial, sich in alle erdenklichen Lebensbereiche vorzuwagen, bringt nicht nur die schillerndsten wildesten Musikderivate hervor, sondern eben auch puren, reinen Jazz.
Die Pianistin Angelica Sanchez machte weiter damit, Hörende zu Teilnehmenden und zum Resonanzraum werden zu lassen. Ihre Pianistik stieß aus brillant ausformulierten Jazz-Idiomen immer wieder in freie klangflächige Spielweise vor, alles in einem hypnotischen Fluss dargeboten, der intuitiv die Menschen vereinte – da muss man sich nur noch an diesen Ort begeben und braucht sich nicht länger auf dem heimischen Sofa auf der Annahme ausruhen, dass das Köln-Concert von damals „unerreicht“ sein soll.
Auf diesem Nährboden bauten sich dann auch Wadada Leo Smith und Vijay Iyer ihr Klanggebäude – ein Höhenflug in allerhöchsten Regionen und einer der ganz großen Jazz-Höhepunkte, ein unverzichtbares Element, damit Moers auch als weltweites Festival höchster Jazz-Exzellenz sein Gütesiegel bewahrt. Aus der Schwärze tiefster Basstöne heraus den Raum weit zu machen, die ersten Trompetentöne wie schwere, stark beladene Seufzer, Piano funkelt – allein das Eröffnungsstück wurde zum Hochamt für sich mit einer riesigen emotionalen Bandbreite. Vijay schafft weiten atmosphärischen Raum zum Atmen, Trompete lässt ihren Erzählfluss nie abreißen, meditative Sogkraft dieser Phrasierungen. Vijay antwortet erst später, aus dunkler Tiefe erstehend, aufblitzend, funkelnd. Material vom Album „Defiant Live“, erschienen auf ECM.
Inmitten des Festivalareals war ein Mahnmal errichtet worden: ein halbes Dutzend hoch aufragender Stelen mit allen Namen der in den letzten Jahren abgewickelten, abgeschafften, kaputtgesparten oder verbotenen Festivals. Diese Installation verwies auf die kulturpolitische Realität jenseits der Moerser Festivalsphäre. Irgendwie hatte dies auch wieder traurige programmatische Parallelen zum aktuellen Projekt des Bundesjazzorchesters mit seinem Projekt „Irgendwo auf der Welt“ – zu neu arrangierten Stücken aus den 1930er Jahren, die vor allem heile Welt suggerieren wollten, wurden Texte aus Entschädigungsakten verfolgter Musikschaffender im Nationalsozialismus gelesen. Der nachdenklich machende Nenner: Wehret immer und überall dem Aufkommen repressiver Zeiten, welche als erstes auch die Kultur zerstören möchten, da Kultur als solche verkörpert Humanität und Freigeist, was wiederum die Repression „bedroht“. Moers steht zurzeit noch stabil da, um eine Rolle als kulturelles Kraftwerk für wärmende menschliche Emotionen zu verkörpern. Das neue, dynamische Ticketing hat tatsächlich zu noch mehr Publikum und vor allem Durchmischung geführt. Der Spendenhut geht in Moers aber trotzdem auch schon um mittlerweile.
Massaker als Finale
Im Idealfall ist das letzte Konzert beim Moers Festival eben nicht nur ein Soundtrack zum Abbauen und Tschüss-Sagen, sondern ein echtes Finale, um noch mal alles hochzukochen und die ganze Freude aufzutürmen – und ja, in dieser Hinsicht ist die aktuelle Festivalausgabe ganz vorn im Ranking dabei, wo genau dies am besten gelungen ist. Caspar Brötzmanns runderneuertes Trio Massaker zeigte sich zu diesem Anlass von einer extrem ausgeschlafenen, zugleich extrem differenziert und prog-metal-lastig aufspielenden Seite. Ganz großes Kino, noch mehr Energie in einem Raum geht kaum.
Perspektivenwechsel
Nach Moers kommen, heißt, an einen vertrauten Ort immer wieder zurückkommen – aber auch, um danach von viel Neuem, idealerweise noch nie so Dagewesenem erfüllt zu sein.