The Very Big Carla Bley: Zum Tod der US-amerikanischen Komponistin, Pianistin und Bandleaderin

Die amerikanische Komponistin und Pianistin Carla Bley war eine der ersten großen Frauen im Jazz, die keine Sängerin war. Ihre „The Very Big Carla Bley Band“ war ein wilder Haufen männlicher Super-Jazzer, voller Testosteron und Selbstdarstellungstrieben.  Doch die Bley akzeptierten sie als Chefin und hinterließen damit ein außergewöhnliches Œu­v­re an Big Band-Musik der Gegenwart. Carla Bley, die mit der Jazz-Oper „Escalator Over The Hill“ 1971 schlagartig populär wurde, konnte aber viel mehr als nur die Großformation. Ihre schönste Musik sind wohl die Duo- und Trio-Aufnahmen mit Steve Swallow am Bass und Andy Sheppard am Saxophon.

Gestern am 17. Oktober 2023 starb Carla Bley im Alter von 87 Jahren nördlich von New York an den Folgen eines Hirntumors, wie amerikanische Medien unter Berufung auf ihren langjährigen Partner Steve Swallow berichteten. Die JazzZeitung hatte der Künstlerin am 24. November 2009 im Stuttgarter Gustav Siegle Haus zusammen mit der Sparda Bank Baden-Württemberg die mit 10.000 Euro dotierte German Jazz Trophy verliehen. Stuttgart war die erste von allen Städten in Europa, die Carla Bley im Laufe ihres Tour-Lebens besuchte.

Aus Anlass ihres Todes publiziert Jazzzeitung.de die Laudatio von Andreas Kolb, die unter Verwendung eines Textes von Bert Noglik in der Jazzzeitung, Mai 2003, entstanden ist (Zitate sind kursiv).

Skandal mit fünfzehn

Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter bricht mit 15 Jahren die Schule ab und zieht von zuhause aus, und will um alles in Welt Profi-Roller-Skaterin werden. Ein Alptraum, dieser Gedanke? Vielleicht. Vielleicht aber auch der beste Weg, um aus Ihrer Tochter eine begnadete Komponistin und Bandleaderin zu machen.

Carla Bley hat uns diesen Weg jedenfalls vorgemacht, und der Erfolg gibt ihr recht. Ihr Geheimnis? Der richtige Weg liegt im Mut zum Fehler machen. In der Rückschau sagt sie: „Ich habe niemals eine Schule abgeschlossen und hatte keinen Lehrer. Wenn ich kreativ bin, dann deshalb, weil ich nicht weiß, wie man’s (also das Komponieren) richtig macht. Ein Handicap wie dieses ist eine wunderbare Sache, es gab mir einen originellen Stil, eine persönliche Handschrift. Wenn man Arrangieren und Komponieren nicht auf der Hochschule lernt, dann muss man selbst entscheiden, was richtig und was falsch ist.“

Understatement, unorthodoxe Denkweise und das Wissen um kreative Prozesse, in diesen wenigen Sätzen beschreibt sich Carla Bley besser, als es der Laudator jemals kann. Wenn Sie jetzt hoffen, dass ab sofort Musik erklingt, dann muss ich Sie enttäuschen. Ein paar Sätze mehr hat unsere Preisträgerin schon verdient.

Zur Vita

Carla Bley, wurde am 11. Mai 1938 in Oakland/Kalifornien als Carla Borg, geboren. Ihr Vater, ein Kirchenmusiker und Klavierlehrer, brachte ihr bei, wie sie die Finger auf den Tasten richtig zu setzen habe. Etüden und Tonleitern bis zum Überdruss. Da verliebte sie sich in die Musik eines amerikanischen Außenseiters: Charles Ives. Statt ihre Hausaufgaben zu erledigen, wurde sie eine passable Roller Scaterin (7. Platz im kalifornischen Wettbewerb, Kategorie: Free Style).

 Noch als Teenager ging sie nach New York und entdeckte dort die Liebe zum Jazz. Abends arbeitete sie als Zigarettenmädchen im „Birdland“ und als Garderobiere im Jazzlokal „Basin Street“. Statt sich auszuschlafen, saß sie von nachts bis früh über Notenblättern. In jene Zeit fällt ihre Bekanntschaft mit dem Pianisten Paul Bley, der ihr kompositorisches Talent förderte und – ebenso wie Jimmy Giuffre, George Russell und Art Farmer – Stücke von ihr aufführte, funkelnde Miniaturen wie „Start“, „Closer“ und „Ictus“.

 Es muss Anfang der Sechziger Jahre gewesen sein, als Carla Bley zum ersten Mal nach Europa kam „Ich spielte nicht selbst“, erinnert sie sich, „ich begleitete meinen Mann, Paul Bley, der mit Jimmy Giuffre and Steve Swallow auf Tournee war. Mein „Vorwand“ mit dabei zu sein, war, dass sie damals auch meine Kompositionen im Programm hatten. Ich war die Hauskomponistin.“ Und die erste europäische Stadt, in der unsere Preisträgerin jemals war, war Stuttgart!

Mitte der sechziger Jahre schloss sich Carla Bley der „Jazz Composers’ Guild“ an. Nun mit dem Trompeter Mike Mantler liiert, initiierte sie das „Jazz Composers’ Orchestra“. Ohne Schulabschluss, ohne Studium war sie das geworden, was sie werden sollte: Jazz-Komponistin und Bandleaderin.

Nach „A Genuine Tong Funeral“ mit dem Untertitel „Dark Opera Without Words“, einer Produktion von 1967 mit dem Gary Burton Quartet, Larry Coryell und Gato Barbieri, nahm Carla Bley ein Großprojekt in Angriff, mit dem sich die Komponistin endgültig in der von Männern dominierten Welt des Jazz etablierte: Ein Opus, realisiert mit sechs Bands, Sängerinnen und Sängern, Sprechern und Chören: die Jazzoper mit Texten von Paul Haines „Escalator Over The Hill“. In dichten Stimmungsbildern war es Carla Bley gelungen, so unterschiedliche musikalische Charaktere wie Don Cherry, Roswell Rudd, Gato Barbieri, Linda Ronstadt, Jeanne Lee, John McLaughlin zu integrieren. Schon damals mit dabei: ihre begabte, sich später mit eigenen Bands profilierende Tochter Karen Mantler an der Orgel.

Escalator over the Hill

Dieses opus magnum wurde zwar auf einer aufwändigen 3-CD-Box dokumentiert, jedoch in den Vereinigten Staaten niemals aufgeführt. Das führt uns wieder direkt nach Deutschland, dieses Mal nicht nach Stuttgart, sondern nach Köln. 1997 lud die Kölner MusikTriennale die amerikanische Komponistin dazu ein, „Escalator over the Hill“ zum ersten Mal live (ur-)aufzuführen. Nach zwei Aufführungen ging der Escalator auf Europatournee nach Österreich, Frankreich, Italien und Ungarn.

2006 gab es wieder eine „Escalator over the Hill“-Aufführung, wieder in Deutschland: dieses Mal in Essen, wo Michael Kaufmann, der knapp zehn Jahre zuvor bei der MusikTriennale schon Verantwortung fürs Bley-Projekt getragen hatte, inzwischen Intendant der Philharmonie Essen geworden war. Er hatte die Courage, eine Komponistin als Composer in residence an seine Philharmonie zu engagieren, die mit einem Sinfonieorchester nichts am Hut hatte, sondern ein ganz anderes Instrument spielte: die Big Band.

Die Very Big Carla Bley Band

Carl Bley hatte sich 1975 der Rockgruppe von Jack Bruce (der ja auch eine Zeit hier ganz in der Nähe, nämlich in Esslingen lebte) angeschlossen, eine Band, die sie mit dem Vorsatz verließ, nun eine eigene Band zu gründen. Das passierte 1977 und führte zu einer seither nicht mehr abreißenden Folge von orchestralen Unternehmungen. Big-Band-Musik ist mit großen Namen verknüpft wie Count  Basie, Duke Ellington, Bill Evans, George Russell, Thad Jones und Mel Lewis oder Mike Gibbs. Eine illustre Reihe, in die man heute Carla Bley und ihre diversen Arbeiten mit und für Big Bands ohne zu Zögern stellen kann.

Als Pendant zum Großformat gibt es das Duo der Pianistin mit dem Bassisten Steve Swallow und seit einigen Jahren auch das Quartett „Lost Chords“ mit Steve Swallow, Billy Drummond und Andy Sheppard, mit dem die Preisträgerin heute Abend hier zu Gast ist.

Die Zeiten des JCOA und des Freejazz sind für Carla Bley lange vorbei (höre ich da ein Aufatmen im Publikum). Heute sagt sie: „Ich mag frei nicht mehr, ich liebe mehr die Changes.“ Für die wenigen Nichtjazzer: Changes sind Harmoniewechsel innerhalb der Funktionsharmonik.

Weiter: „Die Changes sind die Essenz der Musik, denn die Klangsprache ist darauf gebaut. Mein Publikum hat keine besondere Nationalität. Sie alle verstehen eine bestimmte Sprache, die ich spreche. Es ist die Jazz-Sprache. Meine Musik ist kein Easy-Listening-Ding und meine Zuhörer sind folglich auch Kenner.“

Carla Bleys Musik erzählt Geschichten mal mit der Big Band, mal dem kleinen Ensemble. Ihre Alben nennt sie „Dinner Music“, „Social Studies“, „Looking for America” oder „Big Band Theory“, ihre Stücke tragen Titel wie „Sing Me Softly of the Blues“, „Walking Batteriewoman“ oder „Real Life Hits“.

In bester Jazztradition skizziert sie ihre Musik nicht für abstrakte Stimmen, sondern für die Musiker, mit denen sie jeweils arbeitet – sozusagen maßgeschneidert. Jedes Mal, wenn sie die Besetzung verändere, sagt sie, müsse sie die Arrangements neu schreiben. Das Spektrum reicht von Jazzgruppen und „Fancy Chamber Music“ mit Streichern über das Doppel-Quartett „4×4“ bis zur großorchestralen „Very Big Carla Bley Band“, von Klängen, die an Neue Musik denken lassen, über Liedhaftes und Himmlisch-Hymnisches bis zu erdverbundenen Grooves.

Schönklang mit doppeltem Boden

Der Musikpublizist Bert Noglik charakterisierte unsere Preisträger treffend in einem Essay für die Jazzzeitung: „Wenn sie hin und wieder im Schönklang schwelgt, sollte man sich nicht allzu sicher fühlen. Man muss darauf gefasst sein, unerwartet auch ihren Biss zu spüren zu bekommen. Obwohl sie gern Schneiderkostüme aus feinem Tuch im klassischen Grau trägt, obwohl sie für Kammerensembles, Sinfonieorchester und Solisten wie die Pianistin Ursula Oppens, die Cembalistin Antoinette Vischer und für Keith Jarrett komponiert hat – eins wollte sie nie sein: im konventionellen Sinne seriös. Wenn Kritiker meinten, sie drifte in Schmeichelklänge ab, hatte sie meist bereits wieder ein schwer verdauliches Werk unter der Feder. Wer sie zur Klassikerin der Jazz-Avantgarde stilisieren wollte, bekam als Zugabe eine La-Paloma-Bearbeitung mit auf den Weg. Für Charlie Hadens „Liberation Music Orchestra“ schrieb sie politisch engagierte, bewegende Musik. Das Schaffen von Carla Bley entzieht sich der Kategorisierung und spottet der Beschreibung.“

Soweit Bert Noglik in der Jazzzeitung. Eigensinnig und starrköpfig muss sie schon als Kind gewesen sein, habe ich in diesem Text auch gelesen. Und wenn ich ihre Musik höre – und da sind die Christmas Carols, die Weihnachtslieder, die vor wenigen Tagen neu erschienen sind, und von denen wir eines heute Abend hören werden, nicht ausgenommen – wenn ich also ihre Musik höre, dann weiß ich, noch heute ist sie im besten Sinne die Rebellin geblieben, die sie schon als Teenager war. Danke dafür, Carla Bley.

Beitragsbild Carla Bley und Steve Swallow: Hans Kumpf

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