Improvisation über Improvisation #3

„Aus dem Nichts heraus“ spielen zu können ist eine Qualität, die bei Improvisatoren hoch geschätzt wird. Zwar habe ich das Gefühl, intuitiv zu wissen, was damit gemeint ist, und schätze diese Qualität ebenfalls sehr. Sobald ich aber versuche, in Worte zu fassen, was damit genau gemeint ist, gerate ich ins Straucheln und der Begriff wird zunehmend schwammig.

Eine erste, naheliegende Definition wäre, dass damit die Fähigkeit gemeint ist, ohne jegliche Vorgabe – also ohne Bezug zu einem komponierten Werk, ohne vorherige Absprachen mit den Mitmusikern und ohne Reaktion auf eine bereits bestehende musikalische Situation – Musik entstehen zu lassen.
Diese Definition würde jedoch streng genommen nur bis zum ersten Ton einer freien Improvisation reichen; danach ergäben sich zwangsläufig Reaktionen, Bezüge, Fortführungen von bereits Bestehendem.
Die Qualität, aus dem Nichts heraus spielen zu können, wurde zudem beileibe nicht nur Vertretern des Free Jazz zugesprochen.

Eine weitere Definition bezöge sich auf die Fähigkeit, nicht nur in per se freien Spielsituationen, sondern auch in Bezug auf feststehende Werke jede Interpretation neu gestalten zu können, alternative Herangehensweisen zu finden und sich nicht auf eingespielte Gewissheiten zu verlassen. Diese Art des Spielens ist sehr wertvoll, da sie selbst allzu oft gehörte Stücke immer wieder frisch klingen lässt.
„Aus dem Nichts heraus“ träfe dann aber nur begrenzt zu – im Sinne von „innerhalb des vorgegebenen Rahmens wieder bei Null anfangen“.

Möglich wäre auch, das Nichts mit Stille gleichzusetzen und so die Wertschätzung des musikalischen Parameters „Ruhe“ als Qualität zu definieren. Sätze wie „auch Pausen sind musikalische Werte“ oder „wichtig ist nicht nur, was man sagt, sondern auch, was man nicht sagt“ hat vermutlich jeder Musikschüler schon einmal gehört. Ist es jetzt wirklich schöner oder wertvoller, eine Note zu spielen, als die Stille zu genießen, sie für sich selber sprechen zu lassen?

In einer Improvisationssituation treffen die Musiker intuitiv und in Sekundenbruchteilen Entscheidungen, sie agieren und reagieren aufeinander und lassen so gemeinsam Musik entstehen, die im Idealfall selbst dann Bestand hat, wenn der letzte Ton lange verklungen ist.

Alle drei Definitionsversuche weisen daher auf Qualitäten hin, die nicht nur jahrelanges Training, sondern auch eine bestimmte Geisteshaltung erfordern:
sich in allen Spielsituationen auf seine Intuition verlassen zu können; frei oder zumindest unbeeindruckt von Ängsten zu sein; eine bis auf jede einzelne Note präzise Vorstellung von dem zu haben, was man zu welchem Zeitpunkt spielen oder eben nicht spielen kann und möchte; sich stets auf die Suche nach „Unerhörtem“ zu machen und sich nicht in den Schutz von Gewohn- und Gewissheiten zu flüchten…
Herbie Hancock beschreibt diese Haltung in einem Interview so knapp wie treffend: „I am comfortable with being uncomfortable.“

Am Ende steht die paradoxe Frage, ob „aus dem Nichts heraus spielen“ letztlich eine Umschreibung für „jederzeit aus dem Vollen schöpfen können“ ist?

Der tägliche
JazzZeitung.de-Newsletter!

Tragen Sie sich ein, um täglich per Mail über Neuigkeiten von JazzZeitung.de informiert zu sein.

DSGVO-Abfrage *

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.