Exquisit mikrophonierte Schwarzwaldidylle: Ed Thigpen, Ray Brown und Oscar Peterson in Hans Georg Brunner-Schwers Wohnzimmer. Anschließend ging‘s zum Abhören der Ergebnisse unter‘s Dach. Foto: Sepp Werkmeister
Exquisit mikrophonierte Schwarzwaldidylle: Ed Thigpen, Ray Brown und Oscar Peterson in Hans Georg Brunner-Schwers Wohnzimmer. Anschließend ging‘s zum Abhören der Ergebnisse unter‘s Dach. Foto: Sepp Werkmeister

Oscar Peterson 100

Heute würde Oscar Peterson seinen 100. Geburtstag feiern. Einige Radiosendungen erinnern an ihn. Sie finden diese in unserer Rest-Radiowoche. 2008 ist Oscar Peterson gestorben. Anlass für einen Nachruf unter dem Titel „Giganten“, den Marcus A. Woelfle für die Jazzzeitung verfasst hat. Wir holen diesen Artikel aus unserem Archiv zurück.


Am Heiligabend rüttelte eine traurige Nachricht die Jazzfreunde aus ihrer besinnlichen Stimmung. Mit dem Tod des 82-jährigen Oscar Peterson hatte die Jazzwelt weit mehr als den berühmtesten Jazzpianisten der Gegenwart verloren. Er war eine Symbolfigur, einer der letzten Jazz-Stars, der auch unzähligen Menschen, die an Jazz kein Interesse haben, noch ein Begriff war. Im Jahre 1967 hatte Duke Ellington einmal die undankbare Aufgabe, in einem Konzert unmittelbar nach Oscar Peterson aufzutreten. Bei der Begrüßung des Publikums rettete er sich in folgende Worte: „I shall never forget my first music lesson in Washington. I had a music teacher named Mrs. Clinkscales. I’ll never forget that at the end of the first lesson she said to me: Edward, don’t ever sit down at the piano behind Oscar Peterson.“

Diese Anekdote ist zu schön um wahr zu sein, und sie ist es auch nicht. Und doch steckt in ihr eine Portion Wahrheit. Angehörs der allumfassenden Instrumentalbeherrschung des Urenkelschülers von Franz Liszt dürften sich selbst herausragende Meister der schwarzen und weissen Tasten wie Klavierschüler vorkommen. Jazzpianisten auf Petersons nahezu unerreichbaren technischem Niveau kann man ohnehin an seinen Fingern abzählen, darunter sein Idol Art Tatum und unter den Lebenden etwa Martial Solal und Adam Makowicz. Doch die Technik des hühnenhaften Giganten allein hätte wohl kaum Ellingtons (und unsere) Ehrfurcht ausgelöst. Sie tat dies erst in Verbindung mit Petersons Vitalität und seinem schier unerschöpflichen Einfallsreichtum. Oft vollzog sich die spontane Umsetzung seiner Ideen in einem irrwitzig schnellen Tempo, schneller als Mancher mitdenken kann. Petersons flinkes Fingerspiel konnte so rasant sein, dass man es, ähnlich wie Zaubertricks, in Zeitlupe oder (die CD macht’s möglich) öfter hintereinander hören müsste, um es gedanklich wirklich nachzuvollziehen. Mag man auch seiner Pianistik mit dem Seziermesser der Analyse auf dem Leib rücken, die legendären Dezimen seiner Linken oder Oktavläufe seiner Rechten hervorheben, das Geheimnis seines Erfolges wäre damit längst nicht gelüftet. Es liegt, wie bei so vielen Jazzern, nicht zuletzt in seinem untrüglichem time feeling! Wäre er auch nur halb so virtuos gewesen, die machtvollen Pranken des im Zeichen des Löwen geborenen Kanadiers hätten dennoch einen kraftvoll treibenden Swing erzeugt, der zum Mitreißendsten der Jazzgeschichte gehört.

Wäre er auch nur halb so virtuos gewesen, die machtvollen Pranken des im Zeichen des Löwen geborenen Kanadiers hätten dennoch einen kraftvoll treibenden Swing erzeugt, der zum Mitreißendsten der Jazzgeschichte gehört.

Ellingtons erste Klavierstunde lag schon fast zwanzig Jahre zurück, als am 15. August 1925 in Montreal erstmals Oscar Emanuel Petersons Stimme ertönte. Allein schon mit dieser Stimme, die der seines anderen Idols Nat King Cole ähnelte, hätte Oscar Peterson Karriere machen können. In den 50er- und 60er-Jahren hat Peterson auch vereinzelt Aufnahmen als Vokalist gemacht, doch er gab es auf, „weil wir schon mit Nat King Cole einen kolossalen Pianisten an einen großen Sänger verloren haben.“ Doch nicht Gesang steht am Beginn von Klein Oscars musikalischer Lebensbahn, sondern die Trompete. Eine Erkrankung an Tuberkolose im zarten Alter von sechs Jahren zwang ihn, sich auf ausschließlich auf das Klavierspiel zu konzentrieren. Seine Liebe zur Trompete hat ihn dennoch lebenslang begleitet; ihr hat er auch in den 70er-Jahren mit einer legendären Serie von Duo-Aufnahmen mit großen Trompetern für das Label Pablo ein Denkmal gesetzt. Sein Bruder Charles hatte das umgekehrte Schicksal: durch einen Unfall eines Armes beraubt, wechselte er vom Klavier zur Trompete.

Klein Oscars Vater, ein Schlafwagenschaffner, spielte selbst Klavier und wachte über die musikalische Entwicklung seiner fünf begabten Kinder, und dies gegebenenfalls unter Zuhilfenahme des Ledergürtels als Zuchtmittel, war er doch fest entschlossen, ihnen mit Hilfe der Musik einen Weg aus dem Ghetto zu weisen. Dass solche „schlagkräftige“ Argumente für das Üben hervorragende technische Leistungen zeitigen, versteht sich. Um so erfreulicher, wenn unter solchen Bedingungen die Liebe zur Musik nicht erlischt!

„Ich habe nie geübt. Ich habe das Piano ausgecheckt.“

Befragt danach, ob er heute noch übe, erklärte Peterson 1994 in einem Rundfunk-Interview: „Ich habe nie geübt. Ich habe das Piano ausgecheckt.“ Seit er Berufsmusiker war, stimmt das wohl. Der junge Oscar Peterson hat aber bis zu 14 Stunden täglich geübt.

Seine Schwester Daisy, die später selbst klassische Pianistin und Klavierpädagogin wurde, war Petersons erste Lehrerin. Mit elf kam er zu Louis Hooper, seines Zeichens ein auch in klassischer Musik bewanderter kanadischer Pianist, der aber in den 20er-Jahren zur Harlemer Jazz-Szene gehörte. Hooper verehrte James P. Johnson, den Vater des Harlem Stride Piano und dessen Schüler Fats Waller. Es handelt sich um jenen solistischen Strang der Jazzpianogeschichte, der seine Wurzeln im Ragtime hat und dem genialen Art Tatum den Weg bereitete. Stride-Pianisten verfügen über eine virtuose linke Hand (landläufig mit der „um-pah um-pah“-Begleitung assoziiert), die mühelos eine ganze Rhythmusgruppe ersetzen kann. Zweifellos haben sie Peterson geprägt.

Paul de Marky, ein Schüler von Stefan Thomán, der bei Franz Liszt studiert hatte, ist für Petersons stupende Technik mitverantwortlich: Der Lehrer sorgte mit Chopin-Etuden für Oscars Geläufigkeit und schärfte mit Debussy seinen harmonischen Sinn. Außerdem erarbeitete sich Peterson bei de Marky mit Werken Bachs den Kontrapunkt und mit Scarlatti-Sonaten die Fingersätze. Das Erbe pianistischer Kunst- und Unterhaltungsmusik europäischer Prägung (das übrigens auch auf die sogenannten „Professoren“ des Stride-Pianos gewirkt hat) ist in Petersons Personalstil eingeflossen. Nach einem Sieg bei einem Amateurwettbewerb hatte Peterson als Teenager eine Show im Rundfunk. Er wurde Pianist in der Johnny-Holmes-Big-Band und machte sich als „Bomber des Boogie Woogie“ einen Namen. Kennt man seinen musikalischen Background, erstaunt dies. Sein Drive und seine Fingerfertigkeit kamen aber beim Boogie, der damals en vogue war, bestens zur Geltung. Spielte Boogie im Spiel des reifen Oscar Peterson auch eine untergeordnete Rolle, so kamen Reminiszenzen daran immer wieder in seinem Spiel zum Vorschein. Petersons Bluesfeeling ist ohnehin legendär. Seinen schnellen Blues eignet freilich eine freudestrahlende Überschwenglichkeit, wie sie nur wenige dem Zwölf-Takter abgewinnen.

Zu den Einflüssen Tatums, des Stride- und des Boogie-Pianos (Stile, die die linke Hand sehr beanspruchen) kamen noch viele andere. In der Swing-Ära hatte sich seit Earl Hines eine jüngere pianistische Strömung durchgesetzt: Die Pianisten konzentrierten sich mehr auf das Spiel bläserartiger Linien ihrer Rechten und beschränkten die Linke auf Akkordeinwürfe, rhythmische Akzente, Gegenmelodien und Ähnliches. Teddy Wilson und Nat King Cole, zwei Pianisten, die diesen Ansatz mit viel Eleganz, brillantem Anschlag und harmonischem Feinsinn weiterentwickelten, wurden in den 40er-Jahren wichtige Vorbilder Oscar Petersons. Schon damals schuf Peterson eine beeindruckende Synthese aller wesentlichen bisherigen Jazzklavierstile. Als er dann in der Nachkriegszeit auch noch ein Meister des Blockakkordspiels wurde (wie es nach Cole vor allem George Shearing und Milt Buckner weiterentwickelt hatten) und schließlich Bebop-Elemente à la Bud Powell in sein Spiel integrierte, erschien Oscar Peterson – wen sollte dies wundern – mit seinem allumfassenden, stilistische Grenzen überbrückenden Spiel als quintessentielle Verkörperung des Jazzpianos, als der Pianist des Mainstream schlechthin.

„Oscar Peterson is head and shoulders above any pianist alive today. Oscar is the apex. He’s the crowning ruler of all the pianists in the jazz world. No question about it.“

Hank Jones

Dass Oscar Peterson ein Pianist wurde, der mit keinem Ton geizt, dessen Soli im Laufe der Jahre immer länger und ausladender wurden, ein Künstler, der mehr Platten eingespielt und mehr Konzerte gegeben hat als selbst vielbeschäftigste Jazzmusiker erstaunt, wenn man weiß, dass er schon in seiner Jugend an Arthritis litt. Dieses Leiden hat ihn im Laufe der Jahre immer wieder gezwungen, Konzerte abzusagen. In den meisten Fällen musizierte er trotzdem, ungeachtet der großen Schmerzen in seinen Fingern. „It almost always hurts when I play now,“ meinte er schon in den frühen 70er-Jahren und sprach damals schon immer wieder davon sich zurückzuziehen. Doch er tat dies nicht und seine Musik blieb stets ein Ausdruck der Lebensfreude, auch nach dem Schlaganfall des Jahres 1993.

Sein Karrieresprung des Jahres 1949 ist untrennbar mit dem Namen Norman Granz verbunden. Granz hatte zwar schon zuvor Boogie-Aufnahmen Petersons gehört, daran aber kein Interesse gehabt. Die Legende besagt, dass Granz in einem Taxi auf dem Weg zum Flughafen war, als er zufällig im Radio eine Live-Übertragung Petersons hörte. Sofort ließ er sich zum Club fahren, in dem der Künstler auftrat. Bald darauf präsentierte Granz den Pianisten im Duo mit dem Bassisten Ray Brown als Überraschungsgast in der Carnegie Hall. Schlagartig wurde der Kanadier zum Star. Granz nahm seine Geschicke in die Hand, präsentierte ihn unentwegt bei seinen legendären Jazz At The Philharmonic-Konzerten und auf unzähligen Alben der von Granz im Laufe der Jahre geleiteten Plattenfirmen Verve und Pablo. Für sie kombinierte Granz Peterson mit so ziemlich allen Musikern, die Rang und Namen hatten. Mit einer netten Geste hat sich Peterson bedankt, als er seinen Sohn Norman nach seinem Manager taufte.

Ob bei Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Charlie Parker oder Coleman Hawkins – als einfühlsamer, punktgenauer und herausfordernder Begleiter der Großen des Jazz war Peterson nicht weniger eindrucksvoll denn als Solist. Trotz dieser unterschätzten, ja verunglimpften Leistungen als Sideman wird Peterson wohl für immer als Trio-Pianist im kollektiven Unbewussten der Jazz-Welt verankert bleiben. Nachdem Peterson einige Jahre im Duo mit Ray Brown zusammengearbeitet hatte, nahm er nach Vorbild des Nat King Cole Trios einen Gitarristen hinzu, zunächst den Ex-Cole-Sideman Irvig Ashby, dann Barney Kessel, der trotz seiner überragenden Qualitäten bei Peterson nicht immer recht zur Geltung kam. Mit seinem Nachfolger Herb Ellis stimmte die Chemie zu 100 Prozent. Mit ihm wurde ab 1953 das Oscar Peterson Trio ein durchschlagender Erfolg. Als Ellis, des ständigen Hin und Hers müde, 1958 schweren Herzens kündigte, nahm Peterson den Drummer Ed Thigpen in das Trio. Es wurde ebenso legendär. Als Brown Studioarbeit wegen eines fixen Aufenthaltsorts bevorzugte – doch das können Sie in jedem Jazzlexikon nachlesen. Peterson hatte im Laufe seiner Karriere immer wieder das Pech, daß seine Musiker wegen der Tournee-Strapazen das Handtuch warfen und zugleich stets das Glück, als Ersatz ideale Partner zu finden. Mit denen glückte das Zusammenspiel dann auch immer so gut, dass man fast jede seiner Formationen als die beste seiner Laufbahn gerühmt hat. Zu seinen idealen Spielgefährten gehörten auch der Gitarrist Joe Pass und der Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen.

Das Publikum und die Musikerkollegen liebten Oscar Peterson, obgleich ihn viele Kritiker sein Spiel als oberflächlich und glatt verrissen. Geschadet hat es ihm nicht. Oscar Petersons steile Karriere kannte keine Auf und Abs, wie sie im Jazz fast jeder erlebt – bis zum Jahr 1993. Während er im New Yorker Jazzclub Blue Note auftrat, erlitt er einen Schlaganfall, und, wie nur einer Löwennatur wie ihm zuzutrauen, spielte bis zum Schluss weiter. Doch der Schlaganfall hatte den Gebrauch seiner Linken so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass zunächst viele nicht glaubten, dass er je wieder spielen würde. Peterson selbst verfiel zunächst in eine Depression. Doch er gab nicht auf. Unterstützt wurde er von seiner Familie sowie Kollegen wie Les McCann oder Johnny Mandel, die mit Äußerungen wie „Oscar kann mit einer Hand mehr spielen als die meisten Pianisten mit zwei“ den Nagel auf den Kopf trafen. Es lag eine gewisse Tragik darin, dass gerade Oscar Peterson, einer der wenigen Jazz-Pianisten, dessen Linke so stark war wie seine Rechte, sich zunächst damit beschränken mußte, mit der linken Hand vereinzelt Akzente zu setzen. Da aber – überspitzt formuliert – viele moderne Pianisten, im Gegensatz zu Tatum und den Stride-Professoren, die Linke überwiegend zum Griff nach Whiskeyglas oder Zigarette benutzen und sich im übrigen freuen, dass ein freundlicher Bassist oder gar Gitarrist neben ihnen steht, dem man diesen Bereich getrost überlassen kann, wäre dieser Sachverhalt bei den dann entstandenen Aufnahmen nicht weiter aufgefallen, hätte man nicht gewusst, wer da spielt. Der alternde Oscar Peterson blieb kreativ. Sicherlich, er trat nur vereinzelt auf, doch spielte immer noch auf höchstem Niveau. In seiner Wohnung hatte er ein Aufnahme-Studio eingerichtet, mit allen möglichen Sequenzern, Synthesizern, Computern, Keyboards. Hier komponierte er, mit Hilfe des neuesten Stands der Technik.

„Oscar kann mit einer Hand mehr spielen
als die meisten Pianisten mit zwei.“

Doch die Schar seiner musikalischen Freunde lichtete sich von Jahr zu Jahr. „Ain’t but a few of us left“ nannte Milt Jackson schon 1981 eine seiner Platten mit Oscar Peterson. In den letzten 10, 20 Jahren war Peterson wohl einsam wie einer der letzten Dinosaurier. Vielleicht trieb ihn gerade das Bewusstsein einer der letzten Großen seiner Zunft zu sein, seine Message auch nach dem Schlaganfall, wenn auch nur in vereinzelten Konzerten voranzutreiben. Die Botschaft sei eindeutig definiert durch jene, die vor ihm da gewesen seien, hat er wenige Monate nach dem Tode des Gitarristen Joe Pass bekannt und dabei auch schmerzlich vermisste Kollegen und Freunde wie Dizzy Gillespie, Duke Ellington, Count Basie, Art Tatum, Teddy Wilson, Roy Eldridge und Lester Young hervorgehoben. Vergleichbare Persönlichkeiten gebe es heute nicht mehr. „Diese Leute kamen aus einer bestimmten Ära. Solche Leute wird es nicht mehr geben.“ Er war einer von ihnen.

Der Pianist Hank Jones, der älteste noch Aktive unter den großen Jazzpianisten meinte schon vor Jahren: „Oscar Peterson is head and shoulders above any pianist alive today. Oscar is the apex. He’s the crowning ruler of all the pianists in the jazz world. No question about it.“

(Der Nachruf entstand unter Verwendung von Woelfles Liner Notes zur 3-CD-Box „Oscar Peterson – 75th Birthday Celebration“, Pablo PACD 004-2)

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