Anzeige

Startseite der Jazzzeitung

Anzeige

Startseite der JazzzeitungZum Archiv der Jazzzeitung (Datenbanken und pdf)Zur Rezensionsdatenbank der JazzzeitungZur Link-Datenbank der JazzzeitungClubs & Initiativen Die Jazzzeitung abonnierenWie kann ich Kontakt zur Jazzzeitung aufnehmen
 

Jazzzeitung

2008/01  ::: seite 22-23

farewell

 

Inhalt 2008/01

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig


TITEL - Musikerschicksal
Die Geschichte des Jazztrompeters Werner Steinmälzl – Teil 1


DOSSIER
- Musikbücher
Die wilden Zwanziger
Robert Nippoldt und Hans-Jürgen Schaal und ihr opulentes Buch über New York

Jazz-Visionen aus 40 Jahren
Ein Bildband von Siggi Loch

Drei Wünsche frei
Pannonica de Koenigswinter und ihre Labour of Love

Ein kleines Meisterwerk
Der Fotograf Jimmy Katz und seine Musikerporträts


Portraits

Stéphane Grappelli, Sabine Kühlich, Gilad Atzmon, Hyperactive Kid, Soulsängerin Ledisi, Daniel Glatzel

… und mehr im Inhaltsverzeichnis

Giganten

Abschied von Oscar Peterson und Max Roach

Oscar Peterson

Am Heiligabend rüttelte eine traurige Nachricht die Jazzfreunde aus ihrer besinnlichen Stimmung. Mit dem Tod des 82-jährigen Oscar Peterson hatte die Jazzwelt weit mehr als den berühmtesten Jazzpianisten der Gegenwart verloren. Er war eine Symbolfigur, einer der letzten Jazz-Stars, der auch unzähligen Menschen, die an Jazz kein Interesse haben, noch ein Begriff war. Im Jahre 1967 hatte Duke Ellington einmal die undankbare Aufgabe, in einem Konzert unmittelbar nach Oscar Peterson aufzutreten. Bei der Begrüßung des Publikums rettete er sich in folgende Worte: „I shall never forget my first music lesson in Washington. I had a music teacher named Mrs. Clinkscales. I’ll never forget that at the end of the first lesson she said to me: Edward, don’t ever sit down at the piano behind Oscar Peterson.“

Oscar Peterson. Foto: Hans Kumpf

Oscar Peterson. Foto: Hans Kumpf

Diese Anekdote ist zu schön um wahr zu sein, und sie ist es auch nicht. Und doch steckt in ihr eine Portion Wahrheit. Angehörs der allumfassenden Instrumentalbeherrschung des Urenkelschülers von Franz Liszt dürften sich selbst herausragende Meister der schwarzen und weissen Tasten wie Klavierschüler vorkommen. Jazzpianisten auf Petersons nahezu unerreichbaren technischem Niveau kann man ohnehin an seinen Fingern abzählen, darunter sein Idol Art Tatum und unter den Lebenden etwa Martial Solal und Adam Makowicz. Doch die Technik des hühnenhaften Giganten allein hätte wohl kaum Ellingtons (und unsere) Ehrfurcht ausgelöst. Sie tat dies erst in Verbindung mit Petersons Vitalität und seinem schier unerschöpflichen Einfallsreichtum. Oft vollzog sich die spontane Umsetzung seiner Ideen in einem irrwitzig schnellen Tempo, schneller als Mancher mitdenken kann. Petersons flinkes Fingerspiel konnte so rasant sein, dass man es, ähnlich wie Zaubertricks, in Zeitlupe oder (die CD macht’s möglich) öfter hintereinander hören müsste, um es gedanklich wirklich nachzuvollziehen. Mag man auch seiner Pianistik mit dem Seziermesser der Analyse auf dem Leib rücken, die legendären Dezimen seiner Linken oder Oktavläufe seiner Rechten hervorheben, das Geheimnis seines Erfolges wäre damit längst nicht gelüftet. Es liegt, wie bei so vielen Jazzern, nicht zuletzt in seinem untrüglichem time feeling! Wäre er auch nur halb so virtuos gewesen, die machtvollen Pranken des im Zeichen des Löwen geborenen Kanadiers hätten dennoch einen kraftvoll treibenden Swing erzeugt, der zum Mitreißendsten der Jazzgeschichte gehört.

Ellingtons erste Klavierstunde lag schon fast zwanzig Jahre zurück, als am 15. August 1925 in Montreal erstmals Oscar Emanuel Petersons Stimme ertönte. Allein schon mit dieser Stimme, die der seines anderen Idols Nat King Cole ähnelte, hätte Oscar Peterson Karriere machen können. In den 50er- und 60er-Jahren hat Peterson auch vereinzelt Aufnahmen als Vokalist gemacht, doch er gab es auf, „weil wir schon mit Nat King Cole einen kolossalen Pianisten an einen großen Sänger verloren haben.“ Doch nicht Gesang steht am Beginn von Klein Oscars musikalischer Lebensbahn, sondern die Trompete. Eine Erkrankung an Tuberkolose im zarten Alter von sechs Jahren zwang ihn, sich auf ausschließlich auf das Klavierspiel zu konzentrieren. Seine Liebe zur Trompete hat ihn dennoch lebenslang begleitet; ihr hat er auch in den 70er-Jahren mit einer legendären Serie von Duo-Aufnahmen mit großen Trompetern für das Label Pablo ein Denkmal gesetzt. Sein Bruder Charles hatte das umgekehrte Schicksal: durch einen Unfall eines Armes beraubt, wechselte er vom Klavier zur Trompete.
Klein Oscars Vater, ein Schlafwagenschaffner, spielte selbst Klavier und wachte über die musikalische Entwicklung seiner fünf begabten Kinder, und dies gegebenenfalls unter Zuhilfenahme des Ledergürtels als Zuchtmittel, war er doch fest entschlossen, ihnen mit Hilfe der Musik einen Weg aus dem Ghetto zu weisen. Dass solche „schlagkräftige“ Argumente für das Üben hervorragende technische Leistungen zeitigen, versteht sich. Um so erfreulicher, wenn unter solchen Bedingungen die Liebe zur Musik nicht erlischt!
Befragt danach, ob er heute noch übe, erklärte Peterson 1994 in einem Rundfunk-Interview: „Ich habe nie geübt. Ich habe das Piano ausgecheckt.“ Seit er Berufsmusiker war, stimmt das wohl. Der junge Oscar Peterson hat aber bis zu 14 Stunden täglich geübt.
Seine Schwester Daisy, die später selbst klassische Pianistin und Klavierpädagogin wurde, war Petersons erste Lehrerin. Mit elf kam er zu Louis Hooper, seines Zeichens ein auch in klassischer Musik bewanderter kanadischer Pianist, der aber in den 20er-Jahren zur Harlemer Jazz-Szene gehörte. Hooper verehrte James P. Johnson, den Vater des Harlem Stride Piano und dessen Schüler Fats Waller. Es handelt sich um jenen solistischen Strang der Jazzpianogeschichte, der seine Wurzeln im Ragtime hat und dem genialen Art Tatum den Weg bereitete. Stride-Pianisten verfügen über eine virtuose linke Hand (landläufig mit der „um-pah um-pah“-Begleitung assoziiert), die mühelos eine ganze Rhythmusgruppe ersetzen kann. Zweifellos haben sie Peterson geprägt.

Paul de Marky, ein Schüler von Stefan Thomán, der bei Franz Liszt studiert hatte, ist für Petersons stupende Technik mitverantwortlich: Der Lehrer sorgte mit Chopin-Etuden für Oscars Geläufigkeit und schärfte mit Debussy seinen harmonischen Sinn. Außerdem erarbeitete sich Peterson bei de Marky mit Werken Bachs den Kontrapunkt und mit Scarlatti-Sonaten die Fingersätze. Das Erbe pianistischer Kunst- und Unterhaltungsmusik europäischer Prägung (das übrigens auch auf die sogenannten „Professoren“ des Stride-Pianos gewirkt hat) ist in Petersons Personalstil eingeflossen. Nach einem Sieg bei einem Amateurwettbewerb hatte Peterson als Teenager eine Show im Rundfunk. Er wurde Pianist in der Johnny-Holmes-Big-Band und machte sich als „Bomber des Boogie Woogie“ einen Namen. Kennt man seinen musikalischen Background, erstaunt dies. Sein Drive und seine Fingerfertigkeit kamen aber beim Boogie, der damals en vogue war, bestens zur Geltung. Spielte Boogie im Spiel des reifen Oscar Peterson auch eine untergeordnete Rolle, so kamen Reminiszenzen daran immer wieder in seinem Spiel zum Vorschein. Petersons Bluesfeeling ist ohnehin legendär. Seinen schnellen Blues eignet freilich eine freudestrahlende Überschwenglichkeit, wie sie nur wenige dem Zwölf-Takter abgewinnen.

Zu den Einflüssen Tatums, des Stride- und des Boogie-Pianos (Stile, die die linke Hand sehr beanspruchen) kamen noch viele andere. In der Swing-Ära hatte sich seit Earl Hines eine jüngere pianistische Strömung durchgesetzt: Die Pianisten konzentrierten sich mehr auf das Spiel bläserartiger Linien ihrer Rechten und beschränkten die Linke auf Akkordeinwürfe, rhythmische Akzente, Gegenmelodien und Ähnliches. Teddy Wilson und Nat King Cole, zwei Pianisten, die diesen Ansatz mit viel Eleganz, brillantem Anschlag und harmonischem Feinsinn weiterentwickelten, wurden in den 40er-Jahren wichtige Vorbilder Oscar Petersons. Schon damals schuf Peterson eine beeindruckende Synthese aller wesentlichen bisherigen Jazzklavierstile. Als er dann in der Nachkriegszeit auch noch ein Meister des Blockakkordspiels wurde (wie es nach Cole vor allem George Shearing und Milt Buckner weiterentwickelt hatten) und schließlich Bebop-Elemente à la Bud Powell in sein Spiel integrierte, erschien Oscar Peterson – wen sollte dies wundern – mit seinem allumfassenden, stilistische Grenzen überbrückenden Spiel als quintessentielle Verkörperung des Jazzpianos, als der Pianist des Mainstream schlechthin.

Dass Oscar Peterson ein Pianist wurde, der mit keinem Ton geizt, dessen Soli im Laufe der Jahre immer länger und ausladender wurden, ein Künstler der mehr Platten eingespielt und mehr Konzerte gegeben hat als selbst vielbeschäftigste Jazzmusiker erstaunt, wenn man weiß, dass er schon in seiner Jugend an Arthritis litt. Dieses Leiden hat ihm im Laufe der Jahre immer wieder gezwungen Konzerte abzusagen. In den meisten Fällen musizierte er trotzdem, ungeachtet der großen Schmerzen in seinen Fingern. „It almost always hurts when I play now,“ meinte er schon in den frühen 70er-Jahren und sprach damals schon immer wieder davon sich zurückzuziehen. Doch er tat dies nicht und seine Musik blieb stets ein Ausdruck der Lebensfreude, auch nach dem Schlaganfall des Jahres 1993.

Sein Karrieresprung des Jahres 1949 ist untrennbar mit dem Namen Norman Granz verbunden. Granz hatte zwar schon zuvor Boogie-Aufnahmen Petersons gehört, daran aber kein Interesse gehabt. Die Legende besagt, dass Granz in einem Taxi auf dem Weg zum Flughafen war, als er zufällig im Radio eine Live-Übertragung Petersons hörte. Sofort ließ er sich zum Club fahren, in dem der Künstler auftrat. Bald darauf präsentierte Granz den Pianisten im Duo mit dem Bassisten Ray Brown als Überraschungsgast in der Carnegie Hall. Schlagartig wurde der Kanadier zum Star. Granz nahm seine Geschicke in die Hand, präsentierte ihn unentwegt bei seinen legendären Jazz At The Philharmonic-Konzerten und auf unzähligen Alben der von Granz im Laufe der Jahre geleiteten Plattenfirmen Verve und Pablo. Für sie kombinierte Granz Peterson mit so ziemlich allen Musikern, die Rang und Namen hatten. Mit einer netten Geste hat sich Peterson bedankt, als er seinen Sohn Norman nach seinem Manager taufte.

Ob bei Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Charlie Parker oder Coleman Hawkins – als einfühlsamer, punktgenauer und herausfordernder Begleiteter der Großen des Jazz war Peterson nicht weniger eindrucksvoll denn als Solist. Trotz dieser unterschätzten, ja verunglimpften Leistungen als Sideman wird Peterson wohl für immer als Trio-Pianist im kollektiven Unbewussten der Jazz-Welt verankert bleiben. Nachdem Peterson einige Jahre im Duo mit Ray Brown zusammengearbeitet hatte, nahm er nach Vorbild des Nat King Cole Trios einen Gitarristen hinzu, zunächst den Ex-Cole-Sideman Irvig Ashby, dann Barney Kessel, der trotz seiner überragenden Qualitäten bei Peterson nicht immer recht zur Geltung kam. Mit seinem Nachfolger Herb Ellis stimmte die Chemie zu 100 Prozent. Mit ihm wurde ab 1953 das Oscar Peterson Trio ein durchschlagender Erfolg. Als Ellis, des ständigen Hin und Hers müde, 1958 schweren Herzens kündigte, nahm Peterson den Drummer Ed Thigpen in das Trio. Es wurde ebenso legendär. Als Brown Studioarbeit wegen eines fixen Aufenthaltsorts bevorzugte – doch das können Sie in jedem Jazzlexikon nachlesen. Peterson hatte im Laufe seiner Karriere immer wieder das Pech, daß seine Musiker wegen der Tournee-Strapazen das Handtuch warfen und zugleich stets das Glück, als Ersatz ideale Partner zu finden. Mit denen glückte das Zusammenspiel dann auch immer so gut, dass man fast jede seiner Formationen als die beste seiner Laufbahn gerühmt hat. Zu seinen idealen Spielgefährten gehörten auch der Gitarrist Joe Pass und der Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen.

Das Publikum und die Musikerkollegen liebten Oscar Peterson, obgleich ihn viele Kritiker sein Spiel als oberflächlich und glatt verrissen. Geschadet hat es ihm nicht. Oscar Petersons steile Karriere kannte keine Auf und Abs, wie sie im Jazz fast jeder erlebt – bis zum Jahr 1993. Während er im New Yorker Jazzclub Blue Note auftrat erlitt er einen Schlaganfall, und, wie nur einer Löwennatur wie ihm zuzutrauen, spielte bis zum Schluss weiter. Doch der Schlaganfall hatte den Gebrauch seiner Linken so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass zunächst viele nicht glaubten, dass er je wieder spielen würde. Peterson selbst verfiel zunächst in eine Depression. Doch er gab nicht auf. Unterstützt wurde er von seiner Familie sowie Kollegen wie Les McCann oder Johnny Mandel, die mit Äußerungen wie „Oscar kann mit einer Hand mehr spielen als die meisten Pianisten mit zwei“ den Nagel auf den Kopf trafen. Es lag eine gewisse Tragik darin, dass gerade Oscar Peterson, einer der wenigen Jazz-Pianisten, dessen Linke so stark war wie seine Rechte, sich zunächst damit beschränken mußte, mit der linken Hand vereinzelt Akzente zu setzen. Da aber – überspitzt formuliert – viele moderne Pianisten, im Gegensatz zu Tatum und den Stride-Professoren, die Linke überwiegend zum Griff nach Whiskeyglas oder Zigarette benutzen und sich im übrigen freuen, dass ein freundlicher Bassist oder gar Gitarrist neben ihnen steht, dem man diesen Bereich getrost überlassen kann, wäre dieser Sachverhalt bei den dann entstandenen Aufnahmen nicht weiter aufgefallen, hätte man nicht gewusst, wer da spielt. Der alternde Oscar Peterson blieb kreativ. Sicherlich, er trat nur vereinzelt auf, doch spielte immer noch auf höchstem Niveau. In seiner Wohnung hatte er ein Aufnahme-Studio eingerichtet, mit allen möglichen Sequenzern, Synthesizern, Computern, Keyboards. Hier komponierte er, mit Hilfe des neuesten Stands der Technik.

Doch die Schar seiner musikalischen Freunde lichtete sich von Jahr zu Jahr. „Ain’t but a few of us left“ nannte Milt Jackson schon 1981 eine seiner Platten mit Oscar Peterson. In den letzten 10, 20 Jahren war Peterson wohl einsam wie einer der letzten Dinosaurier. Vielleicht trieb ihn gerade das Bewusstsein einer der letzten Großen seiner Zunft zu sein, seine Message auch nach dem Schlaganfall, wenn auch nur in vereinzelten Konzerten voranzutreiben. Die Botschaft sei eindeutig definiert durch jene, die vor ihm da gewesen seien, hat er wenige Monate nach dem Tode des Gitarristen Joe Pass bekannt und dabei auch schmerzlich vermisste Kollegen und Freunde wie Dizzy Gillespie, Duke Ellington, Count Basie, Art Tatum, Teddy Wilson, Roy Eldridge und Lester Young hervorgehoben. Vergleichbare Persönlichkeiten gebe es heute nicht mehr. „Diese Leute kamen aus einer bestimmten Ära. Solche Leute wird es nicht mehr geben.“ Er war einer von ihnen.

Der Pianist Hank Jones, der älteste noch Aktive unter den großen Jazzpianisten meinte schon vor Jahren: „Oscar Peterson is head and shoulders above any pianist alive today. Oscar is the apex. He’s the crowning ruler of all the pianists in the jazz world. No question about it.“

(Der Nachruf entstand unter Verwendung von Woelfles Liner Notes zur 3-CD-Box „Oscar Peterson – 75th Birthday Celebration“, Pablo PACD 004-2)

Max Roach

Und sie nannten ihn Maxwell. Eltern, die ihren Sohn Max nennen, legen ihm damit oft bewusst oder unbewusst den Wunsch in die Wiege, er möge eine große Persönlichkeit werden. Max Roach, der am 8.1.1924 mit einem riesenhaften Talent in Newland Township, Pasquotank County, North Carolina das Licht der Welt erblickte und im Laufe der Jahre das allerbeste daraus machte, gehört in der Tat zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Jazzgeschichte. Man stelle sich beim Namen Max Roach wirklich Großes vor: Maximale Schlagzeugkunst, das Maximum an Konzentration, Präzision, Neugierde und Disziplin. Er lehrte dem Schlagzeug ungerade Metren, die vor ihm im Jazz nur stümperhaft gespielt wurden. Er trommelte Polyrhythmen, wie sie vor ihm im Jazz unerhört waren. Er rückte das Schlagzeug als melodisches Instrument ins Bewußtsein. Er änderte das Image des Schlagzeugers. Galt der trommelnde Musiker vor ihm eher als instinktiver Kraftmensch, zirkustauglicher Feuerwerker oder lediglich als nützlicher Timekeeper, wurde er seit ihm als intellektuelle Führungspersönlichkeit akzeptiert. Max Roach vollendete die Befreiung des vormals untergeordneten Schlagzeuges, machte es zum gleichberechtigten Partner der anderen Instrumente, rückte es wieder dorthin, wo es in der schwarzen Musik einst war, ins Zentrum der Musik. Ja, er war ein Mann der Freiheit. So wie er das Schlagzeug, ja überhaupt die rhythmischen Auffassung im Jazz von überkommenen Konventionen befreite, so trat er als Bürgerrechtler rückhaltlos für die Rechte seines Volkes ein, obwohl es seiner Karriere schadete.

Max Roach. Foto: Thomas Krebs

Max Roach. Foto: Thomas Krebs

Seine ersten Schritte machte Max Roach als kleiner Trompeter, der sich im Alter von acht Jahren einer Kinderband anschloss, bald aber zum Schlagzeug wechselte. Er war noch ein Kind, als er im legendären Harlemer Apollo die berühmten Bands der 30er-Jahre erlebte. Doch er erlebte auch die Konzerte klassischer Musik, die in seinem Viertel jeden Sonntag gegeben wurden. Nach seinem Schulabschluss widmete er sich voll und ganz der Musik und arbeitete im Monroe’s Uptown House, wie das bekanntere Minton’s eine der Geburtsstätten des Bebop. Dort lernte er die Schöpfer des modernen Jazz kennen: Thelonious Monk, Dizzy Gillespie, Charlie Parker und den Drummer Kenny Clarke. Dieser solide Meister der Besen und Stöcke war zwar der erste Bebop-Schlagzeuger, doch Max Roach, der auf seinen Innovationen aufbaute, wurde zum Bebop-Schlagzeuger schlechthin. 1943 schloss sich Max Roach den Timpany Five des Saxophonisten Louis Jordan an, eine Gruppe die damals eine Vorreiterrolle für den Stil einnahm, den man dann Rhythm & Blues nannte. Wie Thelonious Monk machte Roach in diesem Jahr bei Coleman Hawkins seine ersten Platten. Hawkins, der einst das Tenorsaxophon im Jazz etabliert hatte, aber in den 40er Jahren an der Seite junger Musiker an der Vorderfront moderner Entwicklungen stand, war mit Benny Carter befreundet, mit dessen Orchester Roach dann 1944 und 1945 tourte. Mit Benny Carter kam Max Roach nach New York. Dort fand er Arbeit in den Lokalen der damals noch für Jazz berühmten 52. Straße, wo die Bebopper ihre Zelte aufgeschlagen hatten und sich langsam doch unaufhaltsam mit ihrer Musik, die viele Zeitgenossen so verstörte, durchsetzten. So wurde Max Roach im Herbst Schlagzeuger des großen Charlie „Bird“ Parker mit dem er etwa drei Jahre lang halbwegs regelmäßig zusammenarbeitete und ab 1945 erstmals Aufnahmen machte. An der Seite von Parker, Dizzy Gillespie und Miles Davis spielte Max Roach nicht nur die ersten in jeder Hinsicht ausgreiften Bebop-Soli, er begleitete auf unnachahmliche Weise, in dem er, wie im Bebop üblich, plötzlich hereinbrechende Akzente setzte. Einige Zeitgenossen verglichen das damals mit dem Abwerfen von Bomben. Musiker der älteren Generation brachte das schon mal aus dem Takt, doch es war eine ungeheure Intensivierung des rhythmischen Geschehens. Schon 1946 (dem Jahr als Parker überwiegend an der Westküste weilte) arbeitete Roach in New York mit anderen wegweisenden Modernisten wie Dexter Gordon, J. J. Johnson, Bud Powell oder Stan Getz.

Die Fähigkeit sich neuen Stilen anzupassen und diese selbst voran zu treiben, ist ein Schlüssel zum Verständnis des Schaffens Max Roachs. Seine Haltung war stets die der Öffnung, die der Neugier auf neue Erfahrung. So hat sich Max Roach praktisch zeitlebens ohne nostalgisch zurückzublicken vielen neuen Strömungen geöffnet, wenn er nicht gleich als einer der Steuermänner des Schiffes hindurch gesegelt ist. So wirkte Max Roach ab 1949 auch im Cool Jazz, insbesondere an den Einspielungen des Miles Davis Capitol Orchestra, die unter dem etwas irre führenden Titel „The Birth Of The Cool“ bekannt wurden.

Mit Charlie Parker kam Max Roach erstmals ins Ausland, und zwar 1949 nach Paris. Dort entstanden, hastig und unvorbereitet zwischen zwei Konzerten, am 15. Mai auch Max Roachs erste Aufnahmen als Bandleader mit einer reinen Studiogruppe, der abgesehen vom Tenoristen James Moody, Sidemen Parkers angehörten. Zurück in New York verließ sammelte er als „free lancer“ neue Erfahrungen. So kam es in den frühen 50er Jahren zur Zusammenarbeit mit anderen Giganten wie Bud Powell, Miles Davis, Lee Konitz und Dizzy Gillespie.

Ein Beispiel von Max Roach Genialität stehe für viele. Es findet sich auf dem am 18. 12. 1952 eingespielten „Bemsha Swing“, einer Komposition des Pianisten Thelonious Monk, dessen Trio vom Bassisten Gary Mapp angerundet wurde. Das ganze Stück hindurch vermeidet Roach strikt die Becken, also jenen Teil des Schlagzeug-Sets, der laut Konvention am meisten für das Swingen zuständig ist. Nur zweimal benutzt Max Roach hier ganz gezielt einen Beckenschlag. Zum ersten Mal bei 2.22 Min., als dramatischen Höhepunkt des Dialogs mit Monk und sozusagen als Schlusspunkt. Da erscheint plötzlich ein Beckenschlag, sonst das Allergewöhnlichste, als etwas ganz Außergewöhnliches! So ein Vorgehen zeugt von einem außergewöhnlichen planvollen Vorgehen, der Gesamtschau eines erlesenen Musikarchitekten.

In dieser Zeit tat sich Roach mit einem anderen exzentrischen Genie zusammen, um eine Plattenfirma aus der Taufe zu heben: Charles Mingus. Ein Ziel ihres neuen Labels Debut war es, für junge, nonkonformistischen Musiker den Präsentationsrahmen zu schaffen, den ihnen die Plattenindustrie verweigerte. 1953 entstand für Debut jene Platte, die Max Roach selbst als sein erstes Leader-Album betrachtete: The Max Roach Quartet featuring Hank Mobley. Mit einem Stück darauf begann die Serie seiner berühmten Trommelmonologe.

1953 entstanden auch die Aufnahmen des Quintett Of The Year (Parker, Gillespie, Powell, Mingus, Roach), das als „Greatest Jazz Concert Ever“ bekannt wurde. Mag dieses Konzert auch als „Schwanengesang des Bebop“ in die Geschichte eingegangen sein, so hatte doch die Ästhetik des Bebop eine ganze neue Musikergeneration geprägt: Die jungen Musiker orientierten sich an besonders kreativ und neugierig nach vorne blickenden Musikern der Bebop-Generation, Musiker wie Art Blakey, Miles Davis und Max Roach. Diese hoben um 1954 mit den neuen Talenten den Hardbop aus der Taufe.

Einer der vielversprechendsten unter ihnen war der Trompeter Clifford Brown. „Brownies“ in jeder Hinsicht ausgewogenes Spiel, bei dem sich Traditionsbewußtsein und Sinn für Evolution, direkte emotionale Ansprache und logische Konstruktion, Eloquenz und Gehalt die Waage hielten, lebte von Wohlklang und Klarheit jedes einzeln Tons. Seine staunenswerte Technik erlaubte ihm mit verblüffender Leichtigkeit lange, schnelle, oft staccato artikulierte Phrasen zu bilden, bei denen er nie außer Atem kam. Mit ihm als Co-Leader gründete Max Roach im Frühling 1954 ein Quintett, das Maßstäbe für Hardbop setzte.

1956 waren Roach und Brown auf der Höhe ihres Ruhmes. Die Kritiker überschlugen sich in Lobeshymnen und die Gruppe musste viel reisen und dabei große Strecken zwischen Auftrittsorten zurücklegen. Bei so einer nächtlichen Autofahrt verunglückten am 26. Juni der Pianist (Buds Bruder) Richie Powell, seine Frau und der damals 25 Jahre alte Brown. Kenny Dorham, einer alter Gefährte aus der Zeit bei Charlie Parker, übernahm vorübergehend die undankbare Rolle, nach Clifford Brown im Quintett Trompete zu blasen. „Jazz in ¾ Time“ nannte Max Roach sein Album des Jahres 1957, in der jedes Musikstück mittlerweile so mühelos im ¾-Takt swingt, dass man beim Hören kaum nachvollzieht wie fortschrittlich es damals war. Von dieser Platte an probierte Max Roach immer mehr im Jazz ungebräuchliche Taktarten aus.

Auch für den Hardbop Maßstäbe zu setzen, war Roach nicht genug. Sein Experimentiergeist trieb ihn noch weiter. Schon als er etwa 23. Dezember 1955 beim Charles Mingus Quintett einstieg, entstanden mit Stücken wie „Drums“ Klänge, die man für gut 5 oder 10 Jahre jünger hielte, die sich aber fast schon wie Free Jazz ausnimmt – Zukunftsmusik, der Mingus und Roach den Weg ebneten, ohne ihr selbst anzugehören.

1957 begleitete er bei einer Plattensitzung eine unbekannte Sängerin, die an seiner Seite zu einer bedeutenden Vokalistin heranreifte: Abbey Lincoln. Von 1962 bis 1970 war sie mit ihm verheiratet. 1957 begleitete er auch Sonny Rollins bei dessen „Freedom Suite“. Von diesem Augenblick an nahm Roach in seiner Musik zunehmend Position zur Lage der schwarzen Menschen in Amerika. Ab 1958 experimentierte er zunehmend mit ungewöhnlichen Besetzungen. Sein Quintett hatte nun einen Tubaspieler, aber keinen Pianisten. Im gleichen Jahr machte Max Roach auch ungewöhnlich Aufnahmen mit dem Boston Percussion Ensemble, einer der vielen Versuche Roach’s neue Wege zu beschreiten, die engen Grenzen des Jazz weiter zu stecken. Ungewöhnlich auch sein auf Platte dokumentierter Wettstreit mit dem Schlagzeug-Virtuosen Buddy Rich.

Nun trat Max Roach immer stärker als Komponist hervor. Mit seiner „Freedom Now Suite“ erregte er 1960 Aufsehen, ein radikales Werk, in der man die Peitschenhiebe des Sklavenaufsehers ebenso hörte wie die Schreie und den Protest der Schwarzen, in Songs, die der expressiven Stimme seiner Frau Abbey Lincoln anvertraut waren – Musik, die an die Nieren geht, Schreie, die man den Interpreten übel genommen hat. Max Roach hatte einige Jahre weniger Studioarbeit und Abbey Lincoln konnte erst in den 90er Jahren richtig Fuß fassen.

1961 verstarb Max Roachs Trompeter Booker Little im Alter von 23 Jahren. Ein ähnlicher Schlag wie bei Max Roach und doch folgte 1962 ein weiteres Meisterwerk. Das Album “It’s Time“ verband die afro-amerikanisch Chor-Tradition, die vor allem in der Gospel-Musik ihre Heimstadt hatte mit der des explosiv aufspielenden Sextetts des Meisterdrummers.

Im Verlauf der 60er-Jahre schraubte Max Roach seine Aktivitäten etwas zurück. Es waren schwierige Zeiten für den aufmüpfigen Musiker, der zum Beispiel nicht auf den Vorschlag einging, ein Album mit Beatles-Songs aufzunehmen. Trotzdem entstanden in diesem Jahrzehnt Alben wie „Percussion Bittersweet“ und „Drums Unlimited“. Die 70er-Jahre sahen ihn wieder mit Chören und mit der Perkussionsgruppe M’Boom. Er suchte die Nähe von Neutönern wie Anthony Braxton und Archie Shepp.

Roach wurde immer im Laufe der Jahre immer mehr zum Bezugspunkt Musiker verschiedener Generationen und zum elder statesman des Jazz. Immer auf der Suche nach ungewöhnlichen Erfahrungen, konnte man ihn in Konzerten schon mal mit Rappern und im Multimedia-Rahmen erleben. Seit den 80er-Jahren arbeitete er auch immer gerne mit einem Double Quartet zusammen, einem Jazzquartett und einem Streichquartett. Dies lag auch insofern nahe, da seine Tochter, die Bratscherin Maxine Roach, das Uptown Quartett gegründet hatte. Filmmusiken, Theatermusiken standen in den lezten Jahren ebenso in der Agenda unseres Giganten wie Lehraufträge, insbesondere für die Lenox School of Jazz und die University of Massachusetts, Ehrendoktorhüte, Auszeichungen, Preise jeder Art. Bereits am 16. August ist der vielgeliebte Musiker, der schon lange von Krankheit gezeichnet war, 83 Jährig von uns gegangen.

Als sich 1955 die Nachricht vom Tode Charlie „Bird“ Parker verbreitete, erschien an Wänden New Yorks das Graffiti „Bird Lives“. Ob Ähnliches an den Wänden prangte, als der große Max Roach seine Besen und Stöcke für immer aus seinen Händen legte, ist mir nicht bekannt. Vermutlich feiern heutige Wandkünstler andere Helden. Es wäre aber angemessen. Nicht nur, weil Max Roach für das Schlagzeug eine ähnliche Rolle spielte wie Charlie Parker für das Saxophon. Er lebt ja weiter. In jedem Musiker, der heute zu Besen und Stöcken greift, um modernen Jazz zu trommeln, steckt etwas von ihm. Max Lives!

Marcus A. Woelfle

 

| home | aktuell | archiv | links | rezensionen | abonnement | kontakt | impressum
© alle texte sind urheberrechtlich geschützt / alle rechte vorbehalten / Technik: Martin Hufner