Zurück im Haus der Berliner Festspiele: Nadin Deventer zum Jazzfest Berlin 2022

Nach zwei hybriden Festivalausgaben aus dem Berliner Silent Green mit digitalen Brücken nach New York, Johannesburg, Kairo und São Paulo, kehrt das Jazzfest Berlin 2022 zurück ins Haus der Berliner Festspiele und begrüßt vom 3. bis 6. November wieder über 150 Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt. Anlässlich dessen sprach Klaus von Seckendorff mit der künstlerischen Leiterin Nadin Deventer.

Klaus von Seckendorff: Sie sind mittlerweile zum fünften Mal künstlerische Leiterin des traditionsreichen Berliner Jazzfests, an das besonders hohe Erwartungen geknüpft sind. Wie gehen Sie damit um?

Nadin Deventer: Ja, es ist in der Tat eine große Verantwortung aber auch eine große Freude und ein Privileg, eine so prestigereiche und sichtbare Plattform, wie das Jazzfest Berlin in seinem 59. Jahr gestalten und bespielen zu dürfen. Seit fünf Jahren lasse ich mich auf den kuratorischen Prozess ein, auf das Suchen, das Fragenstellen, das „Verstehenwollen“, was in dem jeweiligen Jahr in der Musikwelt aber auch gesellschaftspolitisch aktuell geschieht. Ich sehe unsere fünf Festivaleditionen wie fünf Kapitel eine Buches sozusagen, die versuchen, das aktuelle Zeitgeschehen an den vier Festivaltagen punktuell einzufangen und mit ihren jeweiligen Schwerpunkten und Narrativen zu erzählen. Am Ende eines jeden Festivals sitze ich wieder vor einem leeren Blatt Papier in der Küche meiner Berliner Altbauwohnung und versuche in circa sieben Monaten, die Unmengen an Informationen zu sichten, zu filtern und zu verstehen. Ich bin froh und dankbar, dass ich das nicht ganz alleine mache, sondern mit Christopher Hupe und Astrid Rysavy von den Berliner Festspielen ein Team an meiner Seite weiß. Mit unseren kompetenten Beratern Peter Margasak, Thomas Glässer und Henning Bolte spielen wir uns die vielen Bälle in einem wahnsinnig dynamischen Prozess, in dem ja auch die vielen Tourneeplanungen für den Herbst und Winter parallel stattfinden, immer wieder hin und her, bis schließlich am Ende wieder eine Festivalgeschichte im Netz und auf Flyern gedruckt quasi das Licht der Welt erblickt.

von Seckendorff: Was war im Jahr 2022 Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen?

Deventer: Der Krieg gegen die Ukraine ist genau während des intensiven kuratorischen Prozesses ausgebrochen. Wir haben uns als Festivalteam natürlich gefragt, ob und wie wir uns dazu verhalten wollen. Zunächst haben wir uns mit der Musik in der Region beschäftigt und festgestellt, dass die folkloristische Tradition auffallend stark ausgeprägt ist. Deshalb haben wir Jazzmusikerinnen gesucht und gefunden, die sich mit dieser Tradition auseinandersetzen. Man kann beim Jazzfest dieses Jahr insgesamt neun Projekte erleben, vor allem mit Musikerinnen aus dem osteuropäischen Raum und der Schwarzmeer-Region. Aus der Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit den Musikerinnen entstand auch die Idee, ein besonderes Projekt zu entwickeln. KOMПOUSSULĂ ist ein Auftragsprojekt, das drei Projekte zusammenführt, die auch alle selbst beim Jazzfest gezeigt werden: Black Sea Songs, Lumpeks und Shadows of Our Forgotten Ancestors; diese zehn MusikerInnen haben sich im September zum ersten Mal in Amsterdam getroffen und dort vier Tage lang geprobt. Am Festivalsamstag findet dann die Uraufführung auf der Großen Bühne im Festspielhaus statt.

von Seckendorff: Es geht um ein weites Feld des von Folk beeinflussten Jazz, nicht nur um die Ukraine?

Deventer: Mit Blick auf die Region wurde mir sehr schnell bewusst, dass ich auch ein starkes Signal gegen den verstärkt aufkommenden Nationalismus in Europa und der Welt setzen möchte und auf gar keinen Fall die Ukraine isoliert präsentieren möchte. Sie wird sozusagen umarmt durch die Anrainerstaaten. Das ist eine Region, in der es viel zu entdecken gibt, und die im Jazzbereich ziemlich vernachlässigt wird.

von Seckendorff: Wenn so viele Musiker*innen aufeinandertreffen und etwas Neues entwickeln sollen, kann das auch schief gehen. Zu wie viel Risiko auf großer Bühne muss man bereit sein?

Deventer: Das hat schon viel mit Vertrauen zu tun, aber auch viel mit Dialog und ernsthafter Auseinandersetzung.  KOMПOUSSULĂ ist über mehrere Monate hinweg entstanden. Da sind viele Künstlerinnen und Künstler beteiligt, die ich vorher überhaupt nicht kannte. Wie im übrigen schon in den Vorjahren gehen wir solche neuen Projekte ganz Bewusst an, ohne dass dabei notwendigerweise „große“ Namen oder im internationalen Bereich schon stärker etablierter Musiker*innen mit dabei sein müssten.

 

Asher Gamedze (o.l.). Foto: Frank Schmitt / KOMПOUSSULĂ (u.). Foto: Brett Walker / Matana Roberts (o.r.). Foto: Leo Wölfel

 

von Seckendorff: Braucht es die, um einen Abend auszuverkaufen?

Deventer: Ich bin so froh und dankbar, dass das Publikum in Berlin die Neuausrichtung des Festivals so fantastisch mitträgt. Wir setzten ja sehr viel auf neue Gesichter, neue Stimmen, auf Experiment und Herausforderung und rücken quasi das oft als peripher Gehandhabte ins Zentrum. Wir haben für die großen Konzerte 1000 Plätze, die muss man erst mal jeden Abend füllen mit Musikerinnen die sich abseits vom Mainstream und Establishment bewegen. Es ist die Geschichte, die wir erzählen wollen, die die Menschen anspricht glaube ich. Seit ich das Festival mache, habe ich bewusst diese Automatismen des Differenzierens hinterfragt: Große und Kleine Bühne, Haupt- und Nebenkonzert, 20 Uhr und 24 Uhr. Es ist toll, dass das Berliner Publikum sich immer wieder auf diese Entdeckungsreisen so vielzählig einlässt; das bewegt sowohl das Festivalteam als auch die Künstlerinnen gleichermaßen. Ich konnte schon einige magische Momente im Festspielhaus erleben, und darum geht es uns allen schlussendlich.

von Seckendorff: Eine Nadin Deventer profiliert sich also nicht darüber, dass sie mit genialem Gespür die Großen von morgen aus dem Angebot fischt?

Deventer: Ich möchte nicht leugnen, dass es in gewisser Weise natürlich auch einen großen Konkurrenzdruck gibt beim Festivalmachen. Die Taktung in der hochtourigen Kultur- und Musikmetropole Berlin ist schneller und höher als in vielen anderen Städten Europas und der Welt. Da gehört ein gutes Gespür und eine gehörige Portion Mut und Risikobereitschaft quasi mit zum Geschäft, um Sichtbarkeit und auch Relevanz zu erzeugen. Es gibt in dieser Stadt eine große Anzahl an wirklich guten Festivals und Konzertreihen, außerdem allein circa 15 Orte, zum Teil klein und sehr speziell, die Jazz und improvisierte Musik quasi täglich präsentieren. Da stellt sich uns unweigerlich immer wieder die Frage, welchen sinnvollen Beitrag das Jazzfest Berlin in dieser großen Vielstimmigkeit liefern kann. Bei unserem Festival hat ein Generationswechsel stattgefunden, der andere Perspektiven, ein anderes Wertesystem mit sich bringt. Das Jazzfest entwickelt sich sehr dialogisch, ich suche ständig Partnerinnen, Musikerinnen, mit denen ich Projekte entwickeln kann. Die kooperative Arbeitsweise, die das Lokale mit dem Internationalen vernetzt, ist mir ebenso sehr wichtig, wie dass man sich als privilegierte Plattform für andere öffnet und zusammenarbeiten möchte.

von Seckendorff: Und die Profilierung? Sie sind ja Anfangs ja oft mit Skepsis aufgenommen worden: Kann diese junge (!) Frau (!) das überhaupt?

Deventer: Ja, das, was mir bei meinem ersten Festival an Vorbehalten und Unverschämtheiten entgegengebracht wurde, war nicht schön, um es einmal milde auszudrücken, und ich wünsche das wirklich niemandem. Das Patriarchat ist natürlich auch in der Jazz- und Musikwelt allgegenwärtig, auch, wenn durch den Generationswechsel, der vieler Orts und auf vielen Ebenen nun europaweit geschieht, sehr Vieles in Bewegung ist. Letztendlich entscheidend ist die Qualität der eigenen Arbeit, das Gespür für den Zeitgeist und relevante Musikerinnen, Authentizität und Glaubwürdigkeit glaube ich. Ich komme aus der freien Szenen und fordere unseren Apparat jedes Jahr nicht nur programmatisch, sondern auch produktionstechnisch ganz schön. Und natürlich habe ich auch immer wieder Angst zu scheitern und bin unglaublich aufgeregt und nervös, wenn wir zum Beispiel im September unser Programm veröffentlichen und der Ticketvorverkauf dann endlich läuft. Wir haben an vielen Schrauben gedreht, dadurch ist das Festival quantitativ sehr gewachsen in den letzten fünf Jahren. Dass das alles bis dato überwiegend positiv wahrgenommen wurde in Berlin und auch international, freut mich über alle Maßen, vor allem für die Protagonistinnen des Festivals, die Musikerinnen und das Team der Berliner Festspiele. Und auch dieses Jahr reisen wieder viele Journalistinnen und Veranstalterkolleg*innen aus der ganzen Welt zum Festival an, um dabei sein zu können und die ein oder andere Entdeckung zu machen.

von Seckendorff: Wo und wie machen Sie wichtige Entdeckungen?

Deventer: Es gibt sehr viele wichtige Informationsquellen und jeder baut sich im Laufe der Jahre sein eigenes Netzwerk auf. Wir sind Mitglied beim europejazz network, denn wichtig für mich ist der Austausch mit anderen Veranstalterinnen, aber auch mit Agentinnen, Journalistinnen, natürlich mit den Musikerinnen, und das Sichten zahlloser Magazine oder CD-Veröffentlichungen ist wichtig für den Researchprozess. Es gibt die Showcases, bei denen Bands eines Landes oder einer Region vorgestellt werden. Manche Länder tun da wirklich viel für ihre Leute, aber mir ist es wichtig, gerade auch in Regionen auf Suche zu gehen, die keine Vorreiterrolle im Jazz besitzen.

von Seckendorff: Sind Sie erheblich mehr unterwegs als Ihr Vorgänger, der Journalist Richard Williams?

Deventer: Ich arbeite bei den Berliner Festspielen hauptberuflich. In Berlin selbst gibt es unglaublich viel zu sehen und zu entdecken; ich fahre natürlich auch selbst viel zu Festivals, die wie Berlin besonders an der Avantgarde interessiert sind, wie zum Beispiel nach Saalfelden, Moers, Ljubljana, Lissabon, Paris, Bergen oder nach New York zum Winter Jazz, zum Big Ears nach Tennessee, dem Le Guess Who Festival nach Utrecht oder zu Clubs, Showcases, Konferenzen. Aber ausgerechnet in Chicago, von wo – wie schon im Jahr 2018 – besonders viele tolle Musiker*innen zum Jazzfest kommen, wie die Saxophonistin Matana Roberts, der Schlagzeuger Hamid Drake, der Saxophonisten Isaiah Collier, der Gittaristen Jeff Parker, die Cellistin Tomeka Reid oder der Kornettist Ben LaMar Gay, war ich noch nie.

 

Melting Pot. Foto: Emil Storløkken Åse, Gitarre; Hanne De Backer, Saxofon; Zbigniew Chojnacki, Akkordeon; Beate Wiesinger, Kontrabass; Evi Filippou Vibrafon, Perkussion; Daniel Bierdümpfel, Laurent Orseau, Markus Lackinger, Thor Egil Leirtrø, Alois Endl

von Seckendorff: Früher war Exklusivität sehr begehrt nach dem Motto „spielt nur in Berlin und sonst nirgendwo in Europa“.

Deventer: So ein One-Off-Konzert ohne weitere Konzerte im Umfeld kann schon aus ökologischer Sicht kein Ziel sein. Im November sind im Rahmen des Herbst-Winter-Zyklus besonders viele US-amerikanische Musikerinnen in Europa auf Tour. Einigen zum Beispiel bieten wir dann einen sogenannten Anker-Gig, eine erste wichtige Zusage, um die herum sie eine Tournee buchen können. Oft unterstützen wir sie dabei und fragen andere Veranstalter: Diese Kolleginnen interessieren uns. Wer macht mit? – Ebenso verhält es sich mit den neuen Produktionen, für die wir Ko-Produktionspartner*innen suchen oder sind.

von Seckendorff: Aber es gibt doch sicher den Ehrgeiz, Projekte zu präsentieren, die man sonst nicht so schnell zu sehen bekommt?

Deventer: Wie gesagt, es geht nicht primär darum, Musiker*innen exklusiv zu buchen. Aber auch wir haben als international relevantes Festival auch dieses Jahr wieder viele Premieren im Programm. Matana Roberts wird zum Beispiel in Berlin proben und ihr Projekt „Coin Coin Chapter IV“ zum ersten Mal live aufführen, bevor sie dann von hier aus weiter durch Europa touren wird. Alexander Hawkins und Craig Taborn werden in Berlin proben und neue Projekte präsentieren. Für „Melting Pot“ wählen fünf Festivals jeweils ein Bandmitglied aus, aber die haben schon geprobt, wenn sie kommen, weil Saalfelden immer das erste Festival ist im Jahr.

 

Tomeka Reid (o.l.). Foto: Scott Hesse / Craig Taborn (o.r.). / Hamid Drake’s Turiya (u.). Foto: Rossetti

von Seckendorff: Drei Frauen stoßen da auf zwei Männer. Wie sieht es beim Festival insgesamt aus?

Deventer: Also ich finde Statistiken durchaus wichtig, schon wegen der Überprüfbarkeit dessen, was wir hier machen. Wir haben dieses Jahr 150 Musiker*innen aus 25 Ländern, und von insgesamt 39 Projekten an vier Festivaltagen sind 18 von Frauen geleitet oder co-geleitet, 10 kommen aus den USA, 25 aus Europa und vier aus dem Globalen Süden.

von Seckendorff: Welche besonderen Projekte hat das Jazzfest dieses Jahr denn noch entwickelt?

Deventer: Am Festivalfreitag zum Beispiel spielen wir mit „Playing the House“ wieder mit den Räumlichkeiten und Raumerfahrungen im Festspielhaus. Entsenden ist ein Projekt, das wir mit dem Kollektiv „Umlaut“ aus Berlin und Paris zusammen entwickelt haben. Dieses Kollektiv feiert die musikalische Diversität und ist stilistisch vom Avantgardistischem bis zum tanzbaren Bigband-Swing sehr breit aufgestellt. Die Zuschauer*innen sind quasi eingeladen, das Herz des Festspielhauses selbst zu betreten, weil wir die Große Bühne umgestalten werden und dann dreieinhalb Stunden lang in den „Umpire Jungle“ einladen bestehend aus der Umlaut Big Band, den Hochstaplern und Denzler, Grip, Johansson – einem Trio um Sven-Åke Johansson, dem das Festival einen Schwerpunkt widmet. Parallel bespielen sechs ausgezeichnete Projekte aus ganz Europa die Kassenhalle und das Obere Foyer des Festspielhauses, und das Publikum kann sich treiben lassen und eine große Bandbreite an unterschiedlichen Projekten erleben.

von Seckendorff: Alle Festivals wollen insbesondere junges Publikum dazu gewinnen und setzen auf Junge Musiker*innen.

Deventer: Beim diesjährigen Festival haben wir sowohl auf eine große musikalische Vielfalt geachtet, als auch Musikerinnen aus drei Generationen eingeladen, nämlich von Mitte 20 bis Anfang 80. Neben den bereits genannten Projekten aus dem Bereich der europäischen Folklore ist der europäische Free Jazz vielstimmig vertreten, sowie einige der spannendsten ProtagonistInnen der US-amerikanischen Avantgarde und auch ganz neue Stimmen und Gesichter. Wir spannen mit diesem Festival aber auch wieder den Bogen in den globalen Süden und schauen nach Südafrika und Brasilien. Auch wir setzen auf viele junge Musiker*innen und Neuentdeckungen, aber wenige nach der Formel „hip, elektronisch und Richtung Pop“. Als subventioniertes, privilegiertes Festival versuchen wir, einen relevanten Beitrag zu leisten zu all dem, was schon da ist in Berlin. Und ich kann sagen: Da muss man sich ganz schön auf den Hosenboden setzen.

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