Traumwetter und funkelnde Töne an vier Tagen: Im südschwedischen Ystad, der Heimat des Roman- und Film-Ermittlers Kurt Wallander, herrschte jetzt bei der 16. Ausgabe des hervorragenden dortigen Jazzfestivals idyllische Stimmung. Und es gab mitreißende Konzerte von Musiker:innen wie Catherine Russell, Dave Holland und Mike Stern.
Strahlend blauer, wolkenloser Himmel, in einem Garten spielt ein Trio auf einer Terrasse unter einem Birnbaum mit üppigen, noch grünen Früchten. Auf einer Wiese davor, neben weit geöffneten Rosenblüten ein schwelgendes Publikum, das einen besonders entspannten Nachmittag genießt. Bassist Hans Backenroth, Trompeter Thomas Fryland und Gitarrist Jacob Fischer spielen mit swingender Gelassenheit und entspannt-beiläufiger Virtuosität Standards wie „My melancholy Baby“ und „Bluesette“, lassen ungemein klare Trompetentöne in die Höhe schweben und fangen sie mit den beseelt-bewegten Klängen des Kontrabasses und der Gitarre wieder auf. Ab und zu fliegt eine Möwe über den Garten und mischt sich mit offenbar animiertem Kreischen ins musikalische Geschehen ein.
Solche Momente kann man in Ystad erleben, jener Stadt, in der Henning Mankells Roman- und Film-Ermittler Kurt Wallander so manchen düsteren Fall löste. Seit 2010 gibt es dort das „Ystad Sweden Jazz Festival“. Und jedes Jahr zeigt die südschwedische Hafenstadt dabei ihre besonders freundliche Seite. Insgesamt 92 ehrenamtliche Helfer stemmen die Aufgabe, das vorbildlich organisierte Festival gut über die Bühne zu bringen, dessen Programm der in Ystad lebende schwedische Jazzpianist Jan Lundgren leitet.
Momente fürs Langzeitgedächtnis
Neben idyllischen Augenblicken zum Genießen gibt es dort auch immer wieder musikalische Momente fürs Langzeitgedächtnis. Davon ereigneten sich diesmal gleich zwei am ersten Festivaltag am Hauptspielort, im „Teater Ystad“, einem Gebäude von 1894, das in seinem hufeisenförmigen Zuschauerraum 460 Plätze bietet und für mich einer der schönsten Orte ist, an denen man Jazz hören kann – weil man von vielen Plätzen aus den Musikern zum Greifen nahe zu sein glaubt.
Dort setzte am ersten Nachmittag der 78-jährige Bassist Dave Holland ein Highlight der eng verwobenen Band-Kommunikation. Holland, der schon 1968 beim Jazz-Leitwolf Miles Davis spielte, kam im Trio mit Saxophonist Chris Potter und Schlagzeuger Marcus Gilmore (und ohne den erkrankten Gitarristen Kevin Eubanks) und ließ mit den beiden ein Konzert-Meisterwerk aus stoischer Ruhe einerseits und entfesselter Intensität andererseits entstehen. Es war atemberaubend, mitzuverfolgen, wie Holland in Solo-Einleitungen und ausgedehnten Kontrabass-Soli große Bögen aus fein fortgesponnenen musikalischen Motiven entwickelte. Und wie sich daraus mit den Lava-Strömen aus dem Tenorsaxophon von Chris Potter und den komplex-kraftvollen Rhythmen von Marcus Gilmore immer wieder eine enorm dichte und subtanzreiche Gruppen-Interaktion entwickelte. Das war Ton für Ton völlig ernsthafte, hochkonzentrierte Musik, die in Eigenkompositionen wie „Triple Dance“ und „Quiet Fire“ ganz in die Tiefe der musikalischen Kommunikation ging. Diese Musik – in der es keine einzige leere Note gibt – konnte man in der Intimität des schönen Theaterraums besonders stark erleben.
Lustmusiker in Höchstform: Mike Stern
Auch der Auftritt des Gitarristen Mike Stern mit seiner Band, wenige Stunden später am selben Ort, war ein Glücksfall in der Verbindung von Augenblick und Ort. Im Quintett mit seiner Frau Leni Stern an der Gitarre, Gabor Bolla am Tenorsaxophon (in seinem ersten Auftritt in dieser Band), Jimmy Haslip am E-Bass und Dennis Chambers am Schlagzeug ließ Stern seine luftig-rockjazzigen Kompositionen in ausgreifenden Versionen aufblühen. Stern selbst spielte schon mal ein Solo von gut fünf Minuten, das sich von Chorus zu Chorus immer mehr steigerte und nirgends langweilig wurde: Faszinierend, wie dieser Gitarrist sein genussvoll aufjauchzendes Spiel immer wieder mit kleinen akkordischen Einwürfen anreichert und die manchmal vertrackten Themen in Unisono-Passagen mit dem Saxophonisten zu kleinen, beiläufigen Aha-Effekten macht. Das alles ist umso erstaunlicher, da er nach einem Unfall 2016 noch Einschränkungen an der rechten Hand hat und das Plektrum mit Perückenkleber an den Fingern befestigt. Auch Stern, dieser inzwischen 72-jährige Lustmusiker, erntete in Ystad stürmischen Jubel.
Folgen Sie dem Sousaphon
Damit hatte die sechzehnte Ausgabe des Festivals gleich in den ersten Stunden ein starkes Niveau-Statement gesetzt – in einem Programm, das dort traditionell so bunt ist wie bei nur wenigen anderen Festivals. Am ersten Nachmittag hatte es wieder mit einer Dixieland-Parade durch die Fußgängerzone aufgewartet: Eine riesige Menschentraube folgte da der dänischen „NB! Brass Band“, der glänzend polierte Schalltrichter eines Sousaphons ragte weit über die Köpfe, wies den Weg, und Zuschauer konnten sich in dem Instrument spiegeln. Am ersten Abend nach Einbruch der Dunkelheit gibt es auch stets eine Fanfare vom Turm der Sankt-Marien-Kirche, diesmal mit Trompeter Peter Asplund. Jazz, der mit besonderem Erlebniswert Orte einer Stadt erkundet.
Barfuß im hellgrauen Anzug
Dass nicht jedes Konzert ein Höhenflug wie diejenigen von Dave Holland und Mike Stern sein kann, versteht sich von selbst. Ein (für mich) erstaunlich kaltes Konzert – ohne nennenswerte emotionale Mitteilungskraft – gab im Nebenspielort Saltsjöbad das Duo aus dem polnischen Klavier-Überflieger Leszek Mozdzer und dem schwedischen Bassisten und Cellisten Lars Danielsson. In Stücken wie „Pasodoble“ setzten der im Sitzen spielende Bassist und der barfuß im hellgrauen Anzug erschienene Pianist hauptsächlich auf den Effekt ihrer spieltechnischen Brillanz. Einen ähnlichen Eindruck konnte man auch beim Konzert des Multiinstrumentalisten Magnus Lindgren zusammen mit dem Streicher-Ensemble Musica Vitae im Theater mitnehmen. Lindgren ist ein bewundernswerter Techniker auf der Klarinette, dem Tenorsaxophon und der Querflöte. Aber er lässt auch kaum einen Takt aus, das zu demonstrieren. In Stücken wie John Coltranes „Naima“ oder auch seiner eigenen Komposition „Stockholm Underground“ forderte er das 14-köpfige Streicher-Ensemble erstaunlich wenig: Hauptsächlich Akkordflächen durften die Musiker:innen beisteuern – als gemütliches Bett für die Soli des Blas-Instrumentalisten. Als sehr süßliches Bonbon wurde gegen Ende eine liebliche Version des Pop-Hits „A Whiter Shade of Pale“ gereicht.
Huldigung an Bill Evans und andere
Beim Ystad Sweden Jazz Festival ist es Tradition, dass auch der künstlerische Leiter der Veranstaltung, der international renommierte Pianist Jan Lundgren, in meist zwei Projekten selbst auftritt. Diesmal war er beide Male in einem Trio zu erleben. Das eine war „Mare Nostrum“ mit dem französischen Akkordeonisten Richard Galliano und dem italienischen Trompeter und Flügelhorn-Spieler Paolo Fresu (jetzt zum wiederholten Male in Ystad gefeiert): Standing Ovations gab es für den lyrischen Zauber dieses klanglich und stilistisch weit offenen Ensembles, das ganz auf starke Melodien setzt. Das Konzert schloss mit der Instrumentalversion des Chansons „Que reste-t-il de nos amours?“ (Was bleibt von unseren Liebschaften?) des Franzosen Charles Trenet – mit Fresus warmtönendem Flügelhorn – und einer Anleihe von Claudio Monteverdi, die mit gestopfter Trompete wie aus erhabener Ferne erklang, „Si dolce è il tormento“ (So süß ist die Pein), und enthielt auffällig viele private Huldigungen, etwa an die Partnerin oder auch an zwei Hunde.
Jan Lundgrens zweites Trio im Festival war jenes mit dem deutschen Schlagzeuger Wolfgang Haffner und dem schwedischen Bassisten Anders Jormin: Die drei widmeten sich auf der Theaterbühne der Musik des Pianisten Bil Evans (1929 bis 1980), dem großen Kammermusiker des Jazzklaviers. Eine sehr respektvolle Hommage wurde daraus, mit Stücken aus unterschiedlichen Phasen aus Evans’ Schaffen von „My Foolish Heart“ bis „The Person I Knew“, und mit dem Akzent auf kammermusikalischer Interaktion, wodurch auch der bis in die höchsten Lagen ungemein fein und biegsam klingende Bassist Anders Jormin viel willkommene Präsenz erhielt. Manchmal hätte das Trio mehr auf die Wirkung der schlichten Schönheit der Themen vertrauen können wie etwa im Evans-Klassiker „Waltz for Debbie“, der einen Taktwechsel in der Mitte nicht gebraucht hätte. Wolfgang Haffner erzählte in einer charmanten Bühnenansage von seinem ersten Zusammentreffen mit Bassist Anders Jormin: 1986 beim Nürnberger Festival „Jazz Ost-West“ im Trio mit Albert Mangelsdorff. Da war Haffner zwanzig. Demnächst feiert er einen anderen runden Geburtstag.
Mit einer Hommage an eine Jazz-Grüße endete das Festival auch: Die vorzügliche Bohuslän Big Band spielte unter der Leitung von Calle Rasmussen ein Programm zu Ehren des Trompeters, Arrangeurs und nicht zuletzt Michael-Jackson-Produzenten Quincy Jones (1993 bis 2024), der 2012 selbst Gast beim Festival in Ystad gewesen war. Am Freiluft-Spielort Schloss Charlottenlund außerhalb von Ystad regnete es diesmal nicht, und das Publikum hatte auch wegen der Musik Grund zur Freude. Denn das Quincy-Jones-Programm mit den Stargästen Nils Landgren (Posaune und Gesang). Ida Sand (Keyboard und Gesang) und Viktoria Tolstoy (Gesang) machte Laune, ging mit Stücken wie „Everything Must Change“ auch zu Herzen und endete mit dem pfiffigen Ohrwurm „Soul Bossa“ beschwingt luftig. Kompliment an die Big Band für einen hochdifferenzierten Sound, der auch open air gut rüberkam.
Ystad? Nie gehört!
Und noch ein sehr besonderes Erlebnis konnte man bei diesem Festival haben. Es begann mit einem seltenen Bekenntnis: „Ystad?„Never heard of it!“ Das sagte die afroamerikanische Sängerin Catherine Russell am Anfang ihres Konzerts zum amüsierten Publikum im vollbesetzten Saal des Hotels Saltjöbaden. Und setzte dann gleich hinterher: „Gorgeous! I love it!“ Die Sympathiebekundung blieb nicht einseitig. Immer euphorischer wurde der Jubel für die 1956 in New York geborene Jazz- und Blues-Interpretin, die einigen im Publikum vorher ebenfalls nur vage ein Begriff gewesen war. Die Ohren spitzten sich, die Herzen flogen ihr zu, und der Applaus überschlug sich fast. Als würde das Publikum mit dem Geräusch der Hände sagen: „Gorgeous! We love her!“
Selten hört man eine Interpretin, die Songs schöner zum Funkeln bringen kann als diese ehemalige Background-Sängerin, die lange Zeit für Stars wie Paul Simon, David Bowie und Rosanne Cash arbeitete und erst 2004 ihre Karriere als Solistin startete. Mit jungendlich heller, ganz leicht aufgerauter Stimme sang sie eine Auswahl von – wie sie es nannte – „old love songs“ und „older love songs“, erzählte von ihrer musikalischen Familie (Mutter Carline Ray war gefragte Studiomusikerin und Sängerin, Vater Luis Russell musikalischer Leiter bei Louis Armstrong) und davon, welche Lieder sie besonders mag („songs that ask questions“), um dann mit den Liedern selbst so schöne Feststellungen zu treffen wie: „I like my man like I like my whiskey: aged and mellow“. Ihr Begleiter-Duo, der unfassbar flink-vielseitige Matt Munisteri an der Gitarre und der ruhig-souveräne Tal Ronen am Kontrabass, swingte dazu hochvirtuos und manchmal so leise, dass man gespannt auf jede einzelne Note lauschen musste. Alles zusammen: größtes mögliches Song-Vergnügen. Auch so eine Erkenntnis, die man nach vier sehr farbenreichen Ystad-Tagen mitnehmen konnte: Was man (noch) nicht kennt, ist manchmal besonders aufregend.
Text & Fotos: Roland Spiegel