Anzeige

Startseite der Jazzzeitung

Anzeige

Startseite der JazzzeitungZum Archiv der Jazzzeitung (Datenbanken und pdf)Zur Rezensionsdatenbank der JazzzeitungZur Link-Datenbank der JazzzeitungClubs & Initiativen Die Jazzzeitung abonnierenWie kann ich Kontakt zur Jazzzeitung aufnehmen
 

Jazzzeitung

2010/05 ::: seite 6

portrait

 

Inhalt 2010/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Dick Katz


TITEL - Gegensätze ziehen sich an
Newcomerin Mary Halvorson im Portrait


DOSSIER - Jazzfestivals
Gaume Jazz Festival // Jazzforum Budapest // Jazz-Festival in St. Moritz // Jazzfestival Saalfelden // Jazz Festival Willisau


Berichte

„Trio Elf“ mit neuer CD: „Elfland“ // 34. Leipziger Jazztage // Münchner Konzertreihe AllThatJazz@gasteig // > Vive le Jazz< 2010


Portraits

Aus der Welt des Bojan Z // Dave Brubeck wird 90 // Sängerin Jessica Gall // Yaron Herman // Kristina Kanders // Collectif LeBocal // Trombone Shorty


Jazz heute und Education
Der Jazz-Komponist Simon Scharf // Mediation im Kulturbereich // Dresdens Jazzclub Neue Tonne freut sich auf die Geburtstags-Saison Abgehört: Ein Solo für die Melodica: Larry Goldings: (I‘m Your) Jellyman
Larry Goldings: (I‘m Your) Jellyman

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Keine Scheu vor Elektronik

Kristina Kanders – Schlagzeugerin, Komponistin, Sängerin, Texterin

Unmöglich, von Kristina Kanders nicht beeindruckt zu sein. Sie ist eine bemerkenswerte Schlagzeugerin und Percussionistin. Sie schreibt Texte, die unter die Haut gehen und die sie mit geschulter Stimme und in wohl artikuliertem Englisch singt. Sie komponiert und arrangiert rhythmisch ausgeklügelte Stücke ebenso wie eingängige lyrische Melodien und bedient sich dabei gekonnt auch elektronischer Mittel. Ihre Live Performance kommt ungezwungen und sympathisch rüber. Ihre Jazz-Ikonen sind Miles und Herbie. Ungewöhnlich sind ihr Leben und ihre künstlerische Karriere verlaufen.

Bild vergrößern

Im Jahr 1962 als Tochter der berühmten Konzertsängerin Agnes Giebel in Köln geboren, war ihr zwar musikalisches Talent in die Wiege gelegt. Ihr Zuhause war von klein auf mit Musik erfüllt, denn auch der Vater war klassischer Pianist. Früher Klavierunterricht war obligatorisch. Und natürlich wurde auch viel gesungen. „Aber unsere Mutter war unglaublich streng. Neben ihr konnte kein Mensch bestehen, so strenge Maßstäbe legte sie an. So stellte sie einerseits eine große Vorbelastung dar, andererseits vermittelte sie meiner Schwester und mir auch eine gründliche stimmliche Vorbildung. Das kommt mir natürlich heute zugute, auch wenn ich nicht eine klassische Gesangsästhetik anstrebe.“

Vielleicht war es des Guten zuviel mit der klassischen musikalischen Erziehung daheim. Als Kristina nach dem Abitur nach einer anders gearteten musischen Betätigung suchte – auch Malerei und Bildende Kunst waren eine Alternative – geriet sie zufällig an ein Schlagzeug, probierte es aus und entdeckte an sich ein ungeahntes Talent: „Das Trommeln ging wie von selbst, die Koordination zwischen Händen und Füßen gelang mir intuitiv. Die Faszination am Schlagzeugspiel war geboren.“ Sie konnte sich vom Einfluss der „Übermutter“ lösen, nahm Unterricht, spielte in Rockbands. 1985 entstand aus einer Afro-Dance-Klasse, die sie mit Percussion begleitete, die erste Samba-Band in Köln, die mit zehn Tänzerinnen und zehn Percussionisten bei den Karnevalsumzügen einen exotischen Kontrast zur traditionellen Marschmusik setzte: „Die Leute waren verrückt danach, das ging ab wie eine Rakete, und wir beschlossen, beisammen zu bleiben und weiter aufzutreten, und ich verdiente als Co-Bandleader mein erstes Honorar als freischaffende Musikerin.“

Doch zwei Jahre später hielt sie es nicht mehr in Old Germany. Sie wagte sich – mit einem Teilstipendium – nach New York, um Jazz zu studieren und ihr Schlagzeug- und Percussionspiel zu perfektionieren. Zielstrebig erwarb sie 1992 den Bachelor of Fine Art Degree in Music am Jazz and Contemporary Music Program an der New School University und 1997 auch noch den Master of Arts Degree in Music an der Aaron Copland School of Music am Queens College. Parallel zum Master-Studium unterrichtete sie Gehörbildung an der New School University, und das immerhin elf Jahre lang. Parallel dazu übernahm sie auch noch Kurse für Schlagzeug und Percussion. Eine imponierende akademische Erfolgsstory für die junge deutsche Musikerin.

Doch damit nicht genug, arbeitete sie von 1999 bis 2005 auch noch als Acting Director of Academic Affairs für das Jazz & Contemporary Music Programm der New School University, ein Verwaltungsjob, der ihr endlich ein ausreichendes Monatssalär bescherte, denn „ich hatte zwar meine Dozentur und auch etliche Gigs, aber ich kam immer gerade so über die Runden. Das Leben in New York ist hart und kostspielig.“ Auf der Kehrseite stand, dass sie durch die Doppelbelastung zunehmend weniger Zeit für eigene Auftritte in der freien Szene hatte. Und in die war sie von Anbeginn ihrer New Yorker Zeit tief eingetaucht. Fünf Jahre lang war sie Mitglied der Frauen-Rockband „Maria ExCommunikata“, und danach leitete sie weitere zehn Jahre lang die von ihr gegründete Percussionband „Sambanditos“, die viele erfolgreiche Auftritte hatte. Die namhafteste Band, in der sie jahrelang mitwirkte, war „Beat the Donkey“ des „Großmeisters der brasilianischen Percussion“ Cyro Baptista. Daneben trat sie mit so namhaften Musikern wie John Zorn, Dave Liebman und Marc Ribot auf. Auch Gastrollen bei damals bekannten Popbands wie Cibo Matto oder Pizzicato Five verschmähte sie nicht. Und es blieb noch Zeit für Tourneen mit verschiedenen Bands durch die Staaten, nach Holland und Portugal sowie für private Musikstudien-Reisen nach Südindien und Brasilien. Der Verzicht auf dieses bewegte und kreative Musikerleben wegen der Jobs an der Universität wurde Kristina Kanders immer schmerzhafter bewusst. So entschloss sie sich nach fünf Jahren zur Kündigung und beschränkte sich auf den Unterricht.

Seit 9/11, den sie in New York miterlebt hatte und danach bange Tage und Nächte in ihrem am Times Square gelegenen Appartement im 42. Stock zugebrachte, stand sie, wie in letzter Zeit häufiger nach ihren Urlaubsbesuchen bei ihrer Mutter und der Familie, erneut vor der Frage: „Willst du wirklich wieder rüber in den verrückten Dschungel? Köln ist doch auch schön, zwar viel provinzieller, aber hier herrscht Frieden und man kann nachts ruhig schlafen. Aber wenn ich dann zurück in New York war, hat’s mich doch wieder gepackt und ich war glücklich. New York ist eine unglaublich hektische, laute, stressige Stadt. Als junger Mensch habe ich das genossen. Aber ab 40 besann ich mich auf andere Dinge und Werte, die mir wichtig sind – mehr Zeit für Freunde haben, zur Ruhe zu kommen, mehr in der Natur zu sein.“ Die Entscheidung für die Rückkehr fiel dann schließlich 2005, genährt vor allem durch den Wunsch, wieder in der Nähe ihrer alten Mutter zu bleiben.
Weder ihre amerikanischen noch ihre deutschen Freunde hatten Verständnis für diesen Entschluss, der ja auch ein Schritt in die berufliche Ungewissheit war. „Ich wusste aber, wenn ich in New York die ganzen Jahre leben konnte, kann ich das auch in Köln, wo ich dann auch recht schnell wieder auf die Füße gefallen bin, gleich bei der Jazzhaus-Schule unterrichten und mir zusätzlich einen Stamm von Privatschülern aufbauen konnte. Ich hatte auch einige Gigs mit hiesigen Musikern. Aber ich möchte und brauche nicht mehr hauptberuflich als Schlagzeuger durch die Lande zu ziehen und als ‚Sidewoman’ meinen Unterhalt zu bestreiten. Aus Angeboten für Live-Auftritte wähle ich mir nur aus, was mir musikalisch, atmosphärisch und menschlich zusagt, vor allem mich auch künstlerisch befriedigt und beflügelt.“ Und mit Bestimmtheit fügt sie hinzu: „Jetzt habe ich viel mehr Zeit und viel weniger Geld als in New York, aber ich habe meine Freiheit wieder! Und – ich kann jetzt endlich meine Musik machen!“

In Köln fand Kristina Kanders zudem auch die Zeit zur Erfüllung ihres lang gehegten Wunsches, sich mit Computer-Musikprogrammen vertraut zu machen, mit dem gebräuchlicheren Logic wie auch mit dem elektronischen Reason, das ihr „kolossale Sounds“ ermögliche und die sie bereits ausgiebig für ihre 2008 erschienene erste Solo-CD „For All People“ nutzte, auf der sich mehrere komplett elektronisch komponierte und gespielte Stücke finden. Auf ihrer 2010 veröffentlichten zweiten CD „Say Something“ setzte die Komponistin auch akustisch gespielte Instrumente ein – neben ihrem Schlagzeug Saxophone, Vibraphon, Gitarre und E-Bass – und mischte sie mit Keyboardklängen sowie von ihr konzipierten elektronischen Sounds, Drum-Programmen und Stimme. Für ihre technisch aufwendigen Studio-Produktionen hat sie in dem Gitarristen und Toningenieur Bernd Gast einen idealen Partner gefunden. Bei Live-Auftritten, bei denen Kristina Kanders auch als Drummerin brilliert, technisch und im Timing perfekt, einfallsreich, doch ohne „Drummer-Show“, kommen im Studio programmierte Teile aus dem Laptop dazu.

Dazu kommen in einigen Stücken eigene, in den Booklets abgedruckte anspruchsvolle Texte, von ihr selbst gesungen, zum Teil im vier- bis siebenstimmigen Overdubbing. So entsteht eine auf- und anregende Musik, für die sich Kristina Kanders aus Jazz, Funk, Soul, Pop und Weltmusik bedient. „Ich bin beim Komponieren ganz offen für alle möglichen Richtungen, außer Hard Rock und Heavy Metal. So wie ein Maler viele Farben auf seiner Palette hat, so ‚male’ ich mit dem kompletten Spektrum meiner Klangpalette.“
Wie sie in jüngeren Jahren stark beeinflusst und geprägt worden war durch das stilistisch so vielfältige „Weiße Album“Kristina Kanders der Beatles, so bewundert sie auch Miles Davis und Herbie Hancock von allen Jazz-Größen am meisten, nicht nur wegen deren musikalischen Qualitäten, sondern vor allem, weil die Beiden sich stets gewandelt und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht haben. Das sieht sie auch als ihren Weg: „Ich wollte immer eine Musik machen, die offen ist und eben nicht in eine Schublade gehört.“ Das jazzigste Stück übrigens ist „Kimnara“, mit Dirk Raulf auf Tenor und Bariton, der auch auf „Mother“, einer melodisch und textlich sehr schönen Hommage an Kristinas Mutter und alle Mütter der Welt, mit Garbarek-ähnlichem Sopranspiel brilliert. Ein anrührender Text ist auch „Gone“, geschrieben für einen geliebten Menschen, den man plötzlich verloren hat. In „Say Something“ („don’t look the other way …“) macht sie die nach 9/11 in der New Yorker Subway verbreitete Kampagne für größere Aufmerksamkeit und Zivilcourage zu ihrem, auch im Arrangement eindringlichen, eigenen Appell, von dem sie sich wünschte, dass ihn auch junge Rapper einmal aufgriffen. Eine Botschaft der seit 25 Jahren praktizierenden Buddhistin Kristina Kanders für mehr Frieden in der Welt, mehr Respekt vor dem Anderen, auch vor sich selbst, enthält auch das melodisch eingängige und textlich überzeugende Stück „Liberty of Action“. Das sind nur Beispiele. Beide CDs lohnten eine eigene Rezension.

Kristina Kanders sieht sich als „Independent Artist“ und ist – ihr eigenes Label. Doch der Vertrieb über iTunes, Amazon und ihre Website ist beschwerlich. Deshalb ist sie auf der Suche nach einem Label, aber einem, „bei dem ich meine künstlerische Freiheit behalte“. Dabei kann man ihr nur Erfolg wünschen.

Dietrich Schlegel

CD-Tipps

• For All People (2008)
• Say Something
Bernd Gast Music Cologne, 2010
Vertrieb über: www.kristinakanders.com

| home | aktuell | archiv | links | rezensionen | abonnement | kontakt | impressum
© alle texte sind urheberrechtlich geschützt / alle rechte vorbehalten / Technik: Martin Hufner