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Jazzzeitung

2010/05 ::: seite 8

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Inhalt 2010/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazzlexikon: Dick Katz


TITEL - Gegensätze ziehen sich an
Newcomerin Mary Halvorson im Portrait


DOSSIER - Jazzfestivals
Gaume Jazz Festival // Jazzforum Budapest // Jazz-Festival in St. Moritz // Jazzfestival Saalfelden // Jazz Festival Willisau


Berichte

„Trio Elf“ mit neuer CD: „Elfland“ // 34. Leipziger Jazztage // Münchner Konzertreihe AllThatJazz@gasteig // > Vive le Jazz< 2010


Portraits

Aus der Welt des Bojan Z // Dave Brubeck wird 90 // Sängerin Jessica Gall // Yaron Herman // Kristina Kanders // Collectif LeBocal // Trombone Shorty


Jazz heute und Education
Der Jazz-Komponist Simon Scharf // Mediation im Kulturbereich // Dresdens Jazzclub Neue Tonne freut sich auf die Geburtstags-Saison Abgehört: Ein Solo für die Melodica: Larry Goldings: (I‘m Your) Jellyman
Larry Goldings: (I‘m Your) Jellyman

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

„Alle dachten, ich sei zu radikal“

Dave Brubeck wird 90 – seine frühen Jahre

Er gehört in vielerlei Hinsicht zu einer Handvoll Auserwählter. Der Jazz kennt unzählige herausragende Pianisten, aber nur einige unter ihnen, etwa Earl Hines und Lennie Tristano, haben wie Dave Brubeck mit einer unverwechselbar eigenen Spielweise ein neues Kapitel der Jazzgeschichte eröffnet. Und wie noch wenigere von ihnen, etwa Duke Ellington und Thelonious Monk, hat unser Jubilar mit seinen Kompositionen sowohl musikalisches Neuland betreten als auch sofortige Klassiker geschaffen. Sogar als Komponist der sogenannten E-Musik besitzt Dave Brubeck einen respektablen Ruf.

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Der Jazz verfügt über zahlreiche gute Improvisatoren, aber nur die Phantasiereichsten verlassen sich in einem Maße wie Brubeck auf das Wagnis der spontanen Eingebung. Ohne fremde Licks und Tricks auskommend gibt er seinen unerwarteten Ideen einen klischeefreien, unvorhersehbaren und doch musikalisch sinnvollen Verlauf. Unter all den Innovatoren des Jazz gelang es fast nur Brubeck, schon zum Zeitpunkt seiner bahnbrechenden Neuerungen eine auch außerhalb des Jazz populäre Persönlichkeit zu werden. Und schließlich: Dave Brubeck feiert im Dezember seinen 90. Geburtstag. Wie viele Genies des Jazz erreichten denn bislang ein Alter, das man überhaupt als Alter bezeichnen kann, und dies bei nicht nachlassender Kreativität, wenn vielleicht auch geringerer Aktivität? Wie gesagt: Dave Brubeck gehört zu einer Handvoll Auserwählter. Dixieland-Bands, die modernen Jazz ablehnen, spielen seine Stücke ebenso wie zeitgeistige Nachwuchsmusiker, die Cool Jazz für zu kalten Schnee von gestern halten. In den unendlichen Schlangen vor seinen Konzerten befinden sich viele, die nie in ihrem Leben ein Jazz-Konzert besuchten, hätte sie nicht Take Five davon überzeugt, dass doch irgend etwas daran sein müsse.

Vom Cowboy zum Jazzer

Wenige Lebensläufe sind so interessant wie die des Cowboys, der ohne Noten lesen zu können Meisterschüler von Darius Milhaud wurde, dann ein gefeierter Jazz-Star, der sich heute als gläubiger Katholik auch der Sakralmusik widmet. Am wenigsten bekannt ist noch das erste Kapitel dieser Geschichte, das hier bis etwa 1954 ausführlich erzählt, bis 1959 immerhin angedeutet wird.

Am 6. Dezember 1920 kam David Warren Brubeck, 30 Meilen von San Francisco entfernt, im kalifornischen Concord als Sohn eines Viehzüchters zur Welt. Als er acht Jahre alt war, zog die Familie ins kalifornische Ione, wo Vater Brubeck Verwalter einer Ranch wurde. Das scheint zunächst ein denkbar unwahrscheinliches Umfeld für einen heranwachsenden Jazzpianisten zu sein. Doch Brubecks Mutter war Musikerin, eine allenthalben sehr geschätzte Klavier-Pädagogin. Sie war die erste Lehrerin Davids und seiner beiden Brüder Howard und Henry, die ebenfalls Musiker werden sollten.
1957 erinnerte sich Brubeck im Down Beat an das Elternhaus: „It was built for strictly music. Pianos were in four different rooms there, and they were going all day long. My mother was teaching or my brothers were practicing. The first thing I heard in the morning was her teacher or them practicing. And the last thing at night. We didn’t even have a radio in Concord.” Wer sich über die schon in den ersten Aufnahmen zu Tage tretende Originalität Brubecks wundert, findet hier eine Erklärung. Ihre Wurzeln liegen nicht nur in der soliden klassischen Ausbildung. Wo kein Radio ist, das täglich den letzten Schrei frei Haus serviert, wohl aber angeborene Musikalität, da fehlt die frühkindliche Prägung durch das Konventionelle.

Brubeck war sich von Anfang an klar, dass er Komponist werden wollte. Schon im Alter von vier Jahren, als er von Jazz, wenn überhaupt, nur eine äußerst schattenhafte Ahnung haben konnte, improvisierte er. Zugleich weigerte er sich, Musik zu büffeln. Er wollte weder üben noch Noten lernen. Als er später beim großen französischen Komponisten Darius Milhaud studierte, war das Notenlesen immer noch ein richtiges Problem für ihn.

Den Jazz lernte Brubeck überwiegend durch die Schellack-Sammlung des Pianisten Bob Skinner kennen, mit dem er schon als Kind auftrat: die Musik Fats Wallers, Teddy Wilsons und Duke Ellingtons legte eine Fährte in eine bislang unbekannte Welt. Seine erste und für lange Zeit einzige Jazzplatte kaufte er als 14-Jähriger: eine Schellack von Fats Waller. Als Jugendlicher wirkte Brubeck schon in Cowboy- und Western Swing-Bands in Kalifornien und träumte davon, von Benny Goodman entdeckt zu werden.

Sein Jazz-Interesse gab Brubeck keineswegs auf, als er in den frühen 40er-Jahren das College of The Pacific in Stockton besuchte. Im Gegenteil: er setzte sofort sein akademisches Wissen in Jazz um: „When I learned something, I could use it that day or that night. I found that if we were in counterpoint and we were going over two-part inventions, well, that night my piano playing would be two lines. Or if somebody had mentioned Darius Milhaud using two tonalities, on the job that night I’d be using two tonalities. (…) The reaction has gone on ever since I was a kid: What the hell is he doing? And it’s a common experience for me. I was always experimenting on the job.“

Schon mit 18 pflegte Brubeck einen Stil, der im Jazz einmalig dastand: Polyphones, Polyrhythmisches, Polytonales spielte dabei eine große Rolle. Zur Zeit seines College-Studiums fuhr Brubeck oft nach San Francisco, um bei Musikern wie Jerome Richardson einzusteigen. In Stockton lernte er die Pianistin Cleo Brown kennen, der er 1957 seine reizende Komposition Sweet Cleo Brown widmete: „She had an important influence on my development“, äußerte Brubeck sich auf seinem Fantasy-Album „Dave Brubeck Play and Plays“: „She was one of the first accepted jazz musicians I ever knew and she gave me a lot of encouragement.“

Als Brubeck 1942 in die Armee kam, wurde er in Camp Haan bei Los Angeles stationiert. Hier wirkte er in einer Band mit, für die er auch Arrangements schrieb. Der anfangs Belächelte hatte es schwer sich durchzusetzen: “I was 21 then and I was amazed. All the guys in these bands were wonderful musicians and very competent, but I was shocking everyone. I don‘t know of a pianist who‘s ever come along that has shocked the accepted guys like that. They just completely wigged over me there were so many new ideas. And, of course, they all thought I was too radical. The first time I wrote an arrangement for the band nobody would play it. So I took it to Kenton in L.A. Stan said, ‘Bring it back in 10 years!’ It was my first big-band arrangement, and I wouldn’t be ashamed for Stan to play it today. I would say it predated a lot of things. It didn’t have a tremendous jazz, swinging feeling, but it was very polytonal and harmonically it was tremendously advanced, and it had a message you don’t usually find in jazz.“

Schönheit oder Gesetz

In Los Angeles hatte Brubeck auch eine Unterrichtsstunde bei Arnold Schönberg. Doch ihre Vorstellungen über Musik – Brubeck begründete seine Notenwahl mit ihrer Schönheit, Schönberg wollte sie aus einem Gesetz ableiten – gingen zu weit auseinander. Schon bevor er in der Armee war, hatte Brubeck einige Lektionen bei Darius Milhaud gehabt, dessen Assistent Brubecks Bruder war. Als Brubeck die Armee verließ – er hatte als Pianist bei einer Show des Roten Kreuzes in Frankreich und Deutschland gewirkt –, nahm er 1946 sein Studium bei Darius Milhaud im Mills College in Oakland auf. Den Jazz wollte er an den Nagel hängen, da nicht nur seine Kollegen, sondern selbst der progressive Kenton seine Musik abgelehnt hatten. Darius Milhaud, der als einer der ersten europäischen Komponisten die Bedeutung des Jazz erkannt hatte und schon 1923 mit seinem Ballett „La creation du monde“ Jazz-Eindrücke verarbeitete, hielt Brubeck von diesem Schritt ab. Er erinnerte seinen Studenten daran, dass Jazz nun einmal ein wichtiger Teil seiner amerikanischen Kultur sei. Er wies darauf hin, dass jeder große Komponist seine Kultur einbringen und mit der Volksmusik seines Landes vertraut sein müsse.

Nach einem halben Jahr kam Brubeck zum Jazz zurück, und das überwiegend mit Studierenden des Mills College besetzte Oktett war geboren. Mit Musikern wie Bill Smith, Paul Desmond, Dave Van Kriedt und Cal Tjader entstanden experimentelle Aufnahmen, die ihrer Zeit weit voraus waren – und dies bevor das Miles Davis Capitol Orchestra jene Aufnahmen vorlegte, die als „The Birth Of The Cool“ in die Jazzgeschichte eingegangen sind. Obwohl Brubeck das Etikett „cool“ für seine Musik nicht gerne hört – für sein oft stark perkussives, geradezu wildes Klavierspiel passt es auch kaum – bahnte sich mit der Musik des Dave Brubeck Oktetts an der Westküste der Cool Jazz an. Etwa zur gleichen Zeit entstand an der Ostküste im Kreis um Lennie Tristano der Cool Jazz New Yorker Prägung. Doch ein Unterschied besteht: Die Cool Jazzer in New York standen in Tuchfühlung mit den Beboppern, ja waren zum Teil selbst zuvor Bebopper gewesen. Brubeck hingegen hatte sich zwar zuvor von Swing-Musikern anregen lassen, kam aber zu seiner Version des modernen Jazz auf recht eigenständige Weise. Er schottete sich vor Bebop-Einflüssen ab, wie er 1976 dem Down Beat erklärte: „I went through a long period where I wouldn’t listen to anybody because everybody was listening to Parker and Dizzy etc. When you come home and see everybody copying, all of a sudden you just don’t want to be part of it.” Viele vom Dave Brubeck Oktett verwirklichte Konzepte, etwa die Verwendung ungerader Metren, oder das gleichzeitige Spielen von A- und B-Teilen eines Standards fanden selbst bei den Innovatoren der Ostküste keine Parallele.

Da die 1946 bis 1950 entstandenen Aufnahmen des Oktetts erst nach Brubecks ersten Trio-Platten veröffentlicht wurden und die Band kaum öffentlich in Erscheinung trat, blieben ihr zunächst Erfolg und Einfluss versagt. Nicht nur von Brubeck, der in seinen Werken Einflüsse von Milhaud und Strawinsky verarbeitete, kamen die innovativen Impulse, oft überraschten sich die Kollegen gegenseitig mit avantgardistischen Vorschlägen: „Bill once said he wanted to put an iron weight on the piano pedals and blow his clarinet into the box against the sympathetic vibrations. The first time a guy says this, you’ve never heard a guy talking like before, it hasn’t been written up in every music journal, you look at your own friend like, ‘Jeez, I used to think he was okay’.”

Zu diesem Zeitpunkt hatte Brubeck in San Francisco bereits Erfolg mit seinem Trio, das seit Herbst 1949 regelmäßig auf KNBC zu hören war und für das Label Coronet seine ersten Schellacks einspielte. Schon hier imponiert er mit kraftvollem Blockakkord-Spiel und harmonischer Raffinesse. In Ron Crotty stand ihm ein verlässlicher Tieftöner zur Seite, der Brubeck mit Unterbrechungen bis 1953 begleiten sollte. Ausnahmetalent Cal Tjader konnte mühelos in Sekundenschnelle zwischen Schlagzeug und Vibrafon wechseln. Die berühmteste Trio-Aufnahme Brubecks, ja sein erster Hit, wurde Body And Soul. Obwohl schon unzählige gelungene Interpretationen des Songs vorlagen, gelang es Brubeck, durch sein ungewöhnliches Arrangement (schnelles Tempo, Bongos, gelegentlicher klassischer Habitus) Kritker und DJs auf sich aufmerksam zu machen. „How High The Moon“ ist in vielerlei Hinsicht Brubecks interessanteste Trio-Aufnahme, und dies nicht nur wegen der witzigen Zitate. Bereits 1948 hatte er eine Fassung eingespielt, bei welcher der Song in allen möglichen Stilen vorgeführt wird. Der Song galt damals, vergessen wir das nicht, als „national anthem of Bop“. Brubeck entdeckte, dass das Harmoniegerüst sich für neobarocke Melodik geradezu anbietet. Berühmt (auch in Brubecks Live-Versionen des Quartetts) wurde das fugenähnliche Arrangement im letzten Chorus. In den Takten 13 und 14 seines ersten Solo-Chorusses hat Brubeck einen Einfall, den er Jahre später zu einer Komposition ausbauen sollte: Everybody’s Jumpin’. Hört man Brubecks frühe Aufnahmen genau durch, wird man feststellen, dass dies kein Einzelfall ist. In seiner Einleitung zu Over The Rainbow, einer Aufnahme von fast jenseitiger Schönheit, erfand er 1952 spontan eine Melodie, die er später zu seinem Summer Song weiterspann, den er 1961 mit Satchmo einspielte.

Dave Brubeck hat in San Francisco, damals in erster Linie ein Hort traditioneller Jazzpflege (Turk Murphy, Lu Watters), mit seinem Trio den modernen Jazz eigentlich erst eingeführt. Bebop und auch Cool Jazz New Yorker Prägung waren so gut wie unbekannt. Doch der damals noch regionale Erfolg Brubecks fand ein jähes Ende, als der Pianist durch einen Unfall beim Schwimmen für einige Zeit arbeitsunfähig wurde.

Die Rechte für die Coronet-Trio-Platten Brubecks erwarben vor einem halben Jahrhundert Sol und Max Weiss, die das Label Fantasy gründeten, ursprünglich in der Absicht, ausschließlich Brubeck aufzunehmen. Später wurde Fantasy das Label von nahestehenden Musikern wie Cal Tjader und Paul Desmond sowie San-Francisco-Größen wie Vince Guaraldi. Bis 1961 hat Dave Brubeck Aufnahmen für Fantasy eingespielt. Seit 1954 erschienen auch auf Columbia Brubeck-Alben. Die Meilensteine auf Columbia haben Brubeck zur Kultfigur gemacht; man denke nur an „Time Out“ (1959), „Time Further Out“ (1961) oder „At Carnegie Hall“ (1963).

Brubecks Fantasy-Platten hingegen sind mit Thelonious Monks oder Miles Davis’ gleichzeitigen Prestige-Alben vergleichbar, als reife Werke eines Innovators, der kurz vor dem Durchbruch stand. Hätten Dave Brubeck und Paul Desmond nur die Fantasy-Aufnahmen eingespielt, ein unauslöschliches Blatt in der Jazzgeschichte hätten sie damit schon geschrieben. Paul Desmond war zwar überzeugt, dass die „inspired madness“ ihrer Höchstform nie aufgenommen wurde, doch die 1952 bis 1954 entstandenen Live-Aufnahmen aus dem Bostoner „Storyville“ waren ihm, sicherlich nicht ohne Grund, bis an sein Lebensende die liebsten. Dave Brubecks und Paul Desmonds traumhaft sicheres Zusammenspiel, das nicht nur von gegenseitiger Inspiration und erstaunlicher Intuition zeugte, sondern geradezu als Beweis für Gedankenlesen herhalten könnte, verströmte schon in den frühesten Aufnahmen des Dave Brubeck Quartetts eine schwer in Worte zu fassende Magie. Jahrzehntelange Konzert- und Studioroutine trug zwar später zu größerer Perfektion bei, nicht aber zu überschwänglicherem Spiel. Die von ihnen nicht mehr übertroffene jugendliche Begeisterung und freudige Erregung teilt sich am Besten in diesen Aufnahmen mit.

Paul Desmond hatte mittlerweile bei Alvino Ray gewirkt, als er 1951 zum inzwischen umbesetzten Brubeck Trio stieß, das durch den Altisten mit dem lichten luftigen Sound zum Quartett erweitert wurde. Brubeck und Desmond ergänzten sich so ideal, wie es in Quartetten der frühen fünfziger Jahre nur John Lewis und Milt Jackson taten. Allenfalls Gerry Mulligan und Chet Baker wirkten ähnlich kongenial zusammen; auch ihr Kennzeichen war eine unakademisch angewandte Kontrapunktik. Der Kontrast zwischen ihnen war allerdings kaum groß genug, um eine ähnliche Faszination auszuüben. Lässt sich ein gegensätzlicheres Paar vorstellen als Dave Brubeck, der mit perkussiven Attacken aus kühnen Akkorden in vertrackten Rhythmen in Eks-tase gerät und Paul Desmond, der mit mild lächelndem Sound und lyrischen Soli an den polyphonen Spielchen und polyrhythmischen Verzückungen teilnimmt? Desmond, der klingen wollte „wie ein trockener Martini“, verhielt sich oft zu Brubeck – Philip Elwood formulierte es einmal treffend –, wie „die Ruhe vor oder nach dem Sturm“. Doch ihre Aufnahmen leben nicht nur vom Kontrast. Auch Brubeck verfügte über eine lyrische Seite und konnte locker, ja zart swingen und sich so als Desmonds wahrer Seelenbruder erweisen. Und Desmond wiederum, der bedeutendste Cool-Jazz-Altist neben Lee Konitz, war trotz seines ätherischen Sounds, in dem was er spielte, nicht immer ein Muster an Verhaltenheit.

Heißes Temperament

Vor allem die frühen Aufnahmen des Quartetts zeugen von einem so lebhaften Temperament der beiden, dass man am liebsten Kategorien wie „cool“ und „hot“, die in den 50-er Jahren heftig diskutiert wurden, für immer auf dem Friedhof der Jazzgeschichte vergraben möchte. Ihr Umgang mit Zitaten ist oft verblüffend. Wer will, kann an Hand der Zitate in detektivischer Kleinarbeit in vielen Aufnahmen des Quartetts versteckte Botschaften enträtseln. Belege? Ein Meisterstück feinen Humors ist Crazy Chris vom Oktober 1951: Der Bassist Fred Dutton intoniert auf dem Fagott, damals im Jazz eine Rarität, Chu Berrys Christopher Columbus, Brubeck begleitet das von Desmond gespielte Thema mit einer aus Royal Garden Blues abgeleiteten Einleitung, aus der das thematische Material für die Bridge gewonnen wird. Sein Solo eröffnet Brubeck mit einer verblüffenden Doppelanspielung auf Mean To Me und The Peanut Vendor, später zitiert er I Want To Be Happy. Können wir aus den Zitaten schließen, dass es dem Pianisten schlecht ging und er auf bessere Zeiten hoffte? Wer weiß; das Ende von Hunger und Not war für die Familie Brubeck in Sicht. Zweites Beispiel: Die von Trillern durchsetzte, polyphone Themenvorstellung von Lulu’s Back In Town vom September 1952 ist eine kleine Hommage an den Geist des 18. Jahrhunderts. Desmond zitiert ein Motiv aus Gerry Mulligans Venus de Milo. Brubeck nimmt es in seinem Solo leicht modifiziert wieder auf und beantwortet es mit einem Fragment aus Mendelssohns Hochzeitsmarsch. Die Botschaft könnte lauten: „Paul, heirate doch die schöne Frau.“ Abgesehen von ihrem möglichen Wert für die Vermittlung von Botschaften erlauben die Zitate Rückschlüsse auf den ungeheuren musikalischen Horizont der Protagonisten, der von den Klassikern der abendländischen Musik über Volkslieder und Songs aus Musicals und Filmen zum Jazz jeglicher Stilrichtung reichte.

In den ersten Jahren fanden noch viele Wechsel in der Rhythmusgruppe statt, bevor Brubeck und Desmond im Bassisten Ron Crotty und in Lloyd Davis, dem Perkussionisten des San Francisco Symphony Orchestras, für einige Monate eine stabile Besetzung fanden. Brubeck und Desmond brauchten verlässliche, unbeirrbare Begleiter, die sich von Experimenten auf der Bühne nicht irritieren ließen und bereit waren, selbst im Hintergrund zu bleiben. Mit dem Bassisten Ron Crotty und Lloyd Davis, dem Perkussionisten des San Francisco Symphony Orchestras, hatten Brubeck und Desmond für einige Monate eine stabile Besetzung gefunden.

Als sich Brubecks frühe Fantasy-Aufnahmen verbreiteten, war man vor allem an der Ostküste zunächst etwas ratlos gewesen. Man missbilligte die klassischen Elemente und bezichtigte ihn, nicht zu swingen. Ähnliches hatte man bereits über andere moderne Pianisten wie Thelonious Monk oder Lennie Tristano gesagt. Jeder von ihnen swingte durchaus, aber auf eine ganz eigene Art. Zum Ausgleich dafür kamen das Dave Brubeck Quartett, ähnlich wie das Modern Jazz Quartett, bei jenen Hörern gut an, die zu Bebop keinen Zugang fanden, aber dem Dixie-Revival ebenso wenig abgewinnen konnten. Nicht zuletzt, da ihnen Fans aus dem Klassik-Bereich zuströmten, begann das Quartett ab 1952 in Colleges und High Schools aufzutreten, wo sie eine besonders aufgeschlossene Hörerschaft erwartete.

Vor ihrem Auftritt im Oberlin College am 2.März 1953 erklärte man den Musikern, sie würden es mit einer sehr schwierigen Hörerschaft zu tun haben, die vom Jazz nichts verstünde. Doch gerade hier, vor einem Publikum, das mit Bach, Bartók & Co vertraut war, brauchte Brubeck sich keine Zügel anzulegen. Über These Foolish Things gelang ihm ein stellenweise fast atonales Solo, das in seiner Kühnheit Cecil Taylor vorwegzunehmen scheint. Das legendäre Album „Jazz At Oberlin“ geriet kurz darauf zu einem Höhepunkt in Brubecks früher Karriere.

Triumphales Comeback

Neun Monate nach dem Oberlin-Erfolg entstand ein weiteres College-Album für Fantasy: „Jazz at the College of the Pacific”. Er erlebte ein triumphales Comeback an seiner früheren Ausbildungsstätte, wo ihm, vielleicht sogar als erstem Jazzpianisten überhaupt bei einer Aufnahme, ein Bösendorfer-Flügel zur Verfügung stand. Brubecks neuer Schlagzeuger Joe Dodge, dessen Beckenarbeit hier hinter Desmonds geistreichem Spiel gut zur Geltung kommt, war für Brubeck sicher ein Gewinn. Mit den beiden College-Alben stand Brubeck Anfang des Jahres 1954 plötzlich im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Konzertveranstalter und Plattenfirmen überboten sich mit spektakulären Angeboten. Brubeck, der noch bis 1961 interessante Projekte für Fantasy verwirklichen konnte, unterzeichnete einen Plattenvertrag bei Columbia und fand sein Konterfei bald auf dem Titelblatt des Magazins „Time“ wieder. Er war erst der zweite Jazzmusiker nach Louis Armstrong, dem die Ehre einer Titelgeschichte in dieser angesehenen Zeitschrift zuteil wurde. Es war ihm sogar ein bisschen peinlich, weil er fand, dass Andere dies eher verdient hätten. Eines der ersten Columbia-Alben heißt denn auch „Brubeck Time“.

Ab Mitte der 50er wird die Bedeutung von Dave Brubeck als Themenkomponist immer offensichtlicher. Songs wie The Duke (1955, mit seinen abenteuerlichen Modulationen in alle erdenklichen Tonarten) oder das lyrische In Your Own Sweet Way (1956) werden sofort von Kollegen wie Miles Davis gespielte Standards.

Ähnlich wie das ebenfalls in der Cool Jazz Ära populär gewordene Modern Jazz Quartet, dessen Liebe für klassische und barocke Musik, insbesondere für Bach, unser Pianist teilte, eroberte Brubeck zuvor eher jazzferne Hörer: „It’s not the theme but the treatment of the theme that makes it either jazz or classical in style,“ meinte Brubeck 1962 in einem Interview mit Ralph Gleason und verwies darauf, dass man auch zu Bachs Zeiten improvisierte: „George Shearing made a statement that if Bach were alive he’d be the most swinging jazz musician we have. I don’t consider this a sacrilege because I believe it the same way.” Mit großer Offenheit spitzte Dave Brubeck seine Ohren aber auch für Klänge jenseits von Jazz und Klassik: Volkslieder und traditionelle ethnische Musik, die ihm auch auf ausgedehnten Tourneen begegnet, hinterlässt Spuren. Ab 1954 experimentierte Brubeck mit modaler Improvisation, für die Alben wie „Jazz Impressions of Eurasia“ (1958) gute Beispiele liefern.

Ab 1956 trat Joe Morello die Nachfolge von Joe Dodge an. Morello war kein Schlagzeuger, der nur dezent im Hintergrund bleiben wollte. Doch wie sich bald herausstellte, war er genau der Richtige für Brubeck, der sich in den späten 50er-Jahren verstärkt seinen aufsehenerregenden Experimenten mit im Jazz ungebräuchlichen Taktarten zuwandte. Schon lange bevor er zu Brubeck kam, hatte der Schlagzeuger auf Jam Sessions immer wieder mit Polyrhythmen experimentiert und seine Kollegen damit verwundert. Hits wie Take Five wären ohne Morellos Experimentierlust und außerordentliche rhythmische Begabung gar nicht entstanden. Auch der Bassist Gene Wright trug zehn Jahre lang maßgeblich am Erfolg des „klassischen“ Dave Brubeck Quartetts mit Desmond und Morello bei. Auf Empfehlung des Schlagzeugers kam er 1958 in die Band. Anfangs hatte er es wegen seiner Hautfarbe schwer. Im Süden der Vereinigten Staaten waren Auftritte gemischtrassiger Gruppen nicht überall erlaubt. Da Brubeck auf den Auftritt Wrights bestand, sagte er ganze Tourneen ab und setzte damit ein Zeichen gegen des Rassismus. Auf die Fragen auch schwarzer Kollegen, warum er das alles mitmache, erklärte Wright: „In der Band ist so viel Liebe!“ Und noch Jahre danach erinnerte sich der ehrenhalber zum Senator ernannte Eugene Wright: „Zwischen den vier Männern bestand eine musikalische Ehe. Etwas Besseres kann man gar nicht erwarten.”

Diese Worte verweisen schon auf den Kern der bis heute ungebrochenen Wirkung von Brubecks Aufnahmen, die vor über einem halben Jahrhundert entstanden, eine Strahlkraft, die auch bestehen bleibt, wenn man von technischen Aspekten, „interessanten“ Innovationen, einmaligem Repertoire und dergleichen Faktoren völlig absieht. Musiker wie Paul Desmond, aber durchaus auch weniger im Rampenlicht stehende Partner wie Bill Smith, Cal Tjader und Joe Morello gehörten zu den unverwechselbaren Stilisten des Jazz. Zusammen mit einem noch größeren Individualisten, Dave Brubeck, schufen sie Klänge von berückender Schönheit, deren Ursprung ein einziger pulsierender Organismus zu sein scheint. „Der Jazz ist so ziemlich die einzige heute existierende Kunstform, in der es die Freiheit des Individuums gibt, ohne das dabei das Gemeinschaftsgefühl verloren geht.“ Das hat Brubeck vor Jahrzehnten einmal verkündet und damit eine Definition des Jazz geliefert, deren Wahrheit von seinem Werk bezeugt wird.

Marcus A. Woelfle

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