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Jazzzeitung

2001/09  seite 29-31

dossier

 

Inhalt 2001/09

standards
Editorial
News
Fortbildung
no chaser: Kleine Fische
Glossar: Violoncello
Farewell: Joe Henderson

berichte
Jazz an der Donau stößt mit 15. Ausgabe an Grenzen
Zum 20. Münchner Klaviersommer
Das 20. Bayerische Jazzweekend in Regensburg
Paul Tanner in der Mohr-Villa

jazz heute
Break (von Joe Viera)
 Farewell. Tenorsaxophonist Joe Henderson verstorben
 Club statt couch. Interview mit Yvonne Moissl, DJF, Teil 2
 Kleine Fische

portrait / festivals

Groove des Südens. Jazz Highlight im Schloss Alteglofsheim
Bösendorfer im Birdland.
Ein Flügel, ein Club, und was daraus werden kann
Benny Goodmans Schüler. Julian Milkis erinnert sich an den „King of Swing“

play back.
Ellingtonia. Wiederveröffentlichungen aus den Sechzigerjahren
Stoische Bassgewitter.
Zwei Konzerte mit Dave Holland auf DVD

education
Deutsch, Mathe, Jazz
Kurse

dossier
Was tun wir eigentlich?
Kleiner informativer Bericht über die „Kunst der Improvisation“

medien/service
Charts & Critics Choice
Internet. Link-Tipps
Rezensionen 2001/09
Service-Pack 2001/09 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (378 kb))

 

Was tun wir eigentlich?

Kleiner informativer Bericht über die „Kunst der Improvisation“

Dieser Bericht enthält einen historischen und einen konkret musikalischen Aspekt. Die Frage nach dem „eigentlichen“ Tun beinhaltet immer, dass es da etwas gibt, was landläufig unverstanden ist, etwas, das man zwar wahrnimmt, das man aber irgendwie nicht versteht. Wo sind also die Verstehenslücken, wo beginnen die Verstehenslücken. Und zweitens mündet dies in die Frage nach dem Gemachten selbst: Wie es gemacht wird, warum und sicher auch, ob es auch anders ginge.

„Eigentlich“

Eigentlich wollte ich erst Country-Sänger mit Vorbild Johnny Cash werden. Danach wollte ich eigentlich Jazzmusiker werden. Eigentlich hatte ich dann vor, dem Free Jazz als Lebenselixier treu zu bleiben. Eigentlich lassen sich aber auch so viele interessante Sachen komponieren, so dass ich eigentlich den Werken der großen Komponisten dieses Jahrhunderts eher zuneige. Oder doch nicht? Seltsam eigentlich, dass ich immer wieder zu jener mich am meisten beanspruchenden und stimulierenden Form von musikalischer Methode zurückkomme, die so wenig den meisten Menschen vertraut ist, und der sie darum auch so wenig trauen: der völlig freien Improvisation. Ich bin also „uneigentlicher“, weil mir meiner selbst sicherer Improvisator.

Korrektur von Vorstellungen

„Seiner selbst sicher“ heißt immer: eine der Improvisation entsprechende Haltung einnehmen, die an der Oberfläche der musikalischen Erscheinungen durchaus verschiedene Gebilde erzeugen kann. Das musikalische Denken als Improvisierender hält andere Beanspruchungen und Fallen bereit als das zum Beispiel eines Komponisten. Obwohl durchaus der eine vom anderen lernen könnte.

Foto: Martin Hufner

Auf den Müllberg der Geschichte gehören solche Vorurteile wie: Wer improvisiert, wagt sich nicht an die eigentliche (!) Musik, das bedeutet die europäisch-literate Musik heran – und zwar aus fehlendem Können.

Ich nenne es mal das Elite-Argument, weil die hehren Errungenschaften der absolut gesetzten bürgerlichen Musikkultur all jenen als Vorschlaghammer dienen, die es anscheinend nötig haben, sich seit Jahrzehnten dieser Besonderheiten zu rühmen, und dabei eine völlig anders gewickelte Musik denunzieren. Hier spielen Abgrenzungsprobleme, Machtansprüche, Legitimationsängs-te bis hin zu schieren Existenzängsten sicher eine Rolle (die Verteilung der GEMA-Tantiemen dürfte in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung sein). Klar ist, dass die Entwicklung der Notation zu spezifischen Formen einer Musik geführt hat, die dem bürgerlichen Ideal der Autonomie des Einzelnen (durchaus auch im geschäftsmäßigen Sinne zu verstehen) ein adäquates Instrument zur visuellen Darstellung seiner Klangwünsche bereitstellte. Improvisation, die über den solistischen Vortrag hinausgeht, sieht sich aber immer in der Konfrontation von Ideen und Wünschen, die von verschiedenen Personen ausgehen (von Evan Parker wurde dies mit dem Begriff der „multimindness“ bezeichnet). Hier findet also nicht nur die Arbeit des grübelnden Einzelkämpfers am musikalischen Material statt, sondern auch echte Kommunikation mittels Klängen zwischen mehreren gleichberechtigten Menschen. Keine Einbahnstraßenkommunikation also unter dem Motto: „Hier bestimme ich, was läuft!“ Hier muss der Musiker sich seiner praktischen Methoden, Musik weiterzuspinnen ständig klar sein, er muss diese Klarheit transportieren an alle die es hören, insbesondere auch an die Mitspieler, wodurch der Weg in die gegenseitige Beeinflussung, Ablenkung und Hinlenkung ständig neu ermöglicht wird. Undenkbar für Komponisten, sich von jemandem vorschreiben zu lassen, was als Nächstes folgt, das heißt womit sich als Nächstes auseinander zu setzen wäre. Gerade deshalb ist freie Improvisation, die nicht auf der Basis von präfixierten Rhythmen, Harmonieschemata oder anderen Absprachen stattfindet, der permanente, unausgesprochene Affront an den komponierenden Heimwerker. Dessen Insignien des Kampfes gegen die Unvollkommenheit alles menschlichen Tuns sind Bleistift und Radiergummi, die des Improvisierenden ein kurzes kenntnisnehmendes Lächeln in Anbetracht des Ge- oder Misslingens. Keiner der beiden Bereiche ist vollständig. Erst zusammen geben sie ein Bild von der möglichen Fülle der Musik – falls man an Musik interessiert ist und nicht an vorgestanzten Affekten. Und erst die möglichen Zwischenstufen!

Und dann das nächste Vorurteil: Die können ihr Instrument doch gar nicht richtig spielen! Richtig beobachtet. Manche können es wirklich nicht, manche besser, einige sind richtige Virtuosen. Und doch merkwürdig: selbst solche, die ernsthafte technische Mängel auf ihrem Instrument haben, können sich beim geneigten Publikum der größten Beliebtheit erfreuen. Mitunter. Warum? Weil sich das Merkmal des Improvisierten nicht am Technischen ablesen lässt, sondern an der Klarheit, mit der der Improvisierende „erzählt“, was für ihn Musik ist. Oder Schönheit. Was nichts mit Schönklang zu tun hat (leicht zu verwechseln – letzteres meinen die meisten in der Regel wenn sie von Schönheit sprechen). Sowohl Komponisten als auch Improvisatoren treffen sich genau dort: wo ihre Musik zum Ausdruck dessen wird, was sie sich unter Schönheit vorstellen. Selbst das anscheinend Hässliche wird für jeden, der es gebraucht, zum Schönen, weil es in seinem Sinne nötig ist, getan und gesagt werden muss. Jeder Improvisator, der mit seinen Mitteln, das von ihm Gewünschte zum Klingen bringt, ist ein guter Improvisator. Er wird zu einem sehr guten, wenn er die Grenzen seiner Möglichkeiten nicht durch trügerische „Als-Ob’s“ überschreitet (leider auch ein häufiger Fall).

Ein drittes Vorurteil ist dies: dass die ja alle aneinander vorbeispielen.

Überspitzt formuliert wäre dagegen zu behaupten: dass das Mithören seitens der Ausführenden wie des Publikums in der Improvisation stärker gefragt ist als in Kompositionen. Eine solche Behauptung hat durchaus etwas für sich. Und zwar deshalb, weil Kompositionen gerne von vorneherein Kredit eingeräumt wird auf ihr angeblich stringentes, sinnvolles, alle Details des Erklingenden ordnendes Apriori – insofern ist das Nachfragen nach ihrem Wert weniger wichtig. Stattdessen schiebt sich bequem der Geschmack, beziehungsweise der gefällige Genuss zwischen die Musik und das aktive Hören. Schließlich erlebt man ja nun ein Werk. Demgegenüber erregt die Improvisation eben aufgrund ihres musikwissenschaftlich schlecht nachvollziehbaren Charakters (wo ist denn nur die Form geblieben? rufen die Herren Akademiker – und werden arbeitslos!) zunächst einmal Zweifel (durchaus positiv zu sehen) und jeder hört genau hin, was die da machen. Das Sich-Bequem-Machen ist vertagt, das eigene Hören zur aktiven Aufgabe gemacht – und bei vielen wird es dann auch aufgegeben. Musiker nicht ausgenommen. Umsatteln ins Muckenfach, Notenständer nicht vergessen – und schwarzen Anzug. Der Affront der improvisierten Musik ist immer, den Zuhörer zu fordern, sich einen Standpunkt gegenüber dem Gehörten zu entwickeln, die Vielfalt der musikalischen Stimmen als solche wahrzunehmen und selbst auch herauszufinden, wie aktuell die Kommunikation zwischen den Musizierenden funktioniert, worauf Wert gelegt wird, wer was beginnt und damit vielleicht woanders beendet, wo Übergänge zu Löchern werden, in denen Klarheit und Genauigkeit verschwinden, wie sich das Verhältnis von Einzelnem und Gruppe darstellt, wie sich ein geschliffenes Reaktionsmuster bemerkbar macht, eventuell auflöst.

Foto: Martin Hufner

Klar ist: Die Komplexität der Materialbeziehungen wie in einer guten Komposition erreicht eine noch so gelungene Improvisation schon allein aufgrund ihrer Produktionsbedingungen nicht. Hier stehen keine Bleistifte und Radiergummis zur Verfügung. Hier bietet sich zugleich aber auch dem Hörenden die Chance, nicht völlig überfordert zu werden im Hören, da das was erklingt, das ist, was ist (na ja, so ganz auch nicht immer!). Das organisierte Material der Komposition dagegen verlangt zur vollen Befriedigung auch die analytische Beschäftigung, um unhörbare Zusammenhänge, tiefer liegende Absichten zu erkennen. Eine bereichernde, sinnvolle Arbeit, die im Übrigen auch viele lmprovisatoren leisten, um musikalische Denkweisen kennen zu lernen, die in transformierter Form eventuell auch im Prozess der Improvisation zu gebrauchen sind.

Dann das vierte Vorurteil: das, was die können, kann ich auch.

Ja und Nein. Ja, solange tatsächlich gilt, dass auch technisch weniger Versierte hier einen Ort der musikalischen Betätigung finden. Nein, weil die meisten (ausgelöst wahrscheinlich durch allzu viele schlechte Erfahrungen) vergessen, dass Improvisieren viel Training und Üben erfordert, um die eigene musikalische Denkfähigkeit für den Moment des gemeinsamen Musizierens zu schärfen, das heißt auch um sich ein Vokabular anzueignen, mithilfe dessen überhaupt so etwas wie Kommunikation möglich wird. Und hier bin ich bei einem wichtigen Knackpunkt: Das Improvisieren ist kaum allein im eigenen Stübchen zu erlernen, es ist allenfalls möglich, ein paar Vorbedingungen zu erreichen: zum Beispiel spezifische Formen von motivischer Arbeit zu erproben oder Formung eines spezifischen Klangs/Tons oder die schwierige Methode, Ton und Stille ins Verhältnis zu setzen oder auch einfache technische Übungen, die dazu dienen, das was man vorhat auch zu können oder zwischen den verschiedenen Möglichkeiten des instrumentalen Klanges zu wechseln oder sich jeweils einen spezifischen musikalischen Parameter als Übeaufgabe vorzunehmen. Über die Hinlänglichkeit solchen Übens entscheidet das gemeinsame Improvisieren. Und selbst dann passiert es, dass Improvisator 1 ein Stück völlig anders wahrnimmt oder bewertet als Improvisator 2. Wunderbar, immer weiter und von Neuem!

Und jetzt noch eine Gegenfrage: „Warum improvisieren denn dann so wenige, wenn sie es angeblich könnten?“

In der Antwort auf diese Frage liegt zugleich auch eine Teilantwort auf das Phänomen des geringen Publikums dieser Musik. Die Geschichte unserer europäischen Musik ist eine Geschichte der Spezialisierung, oder besser: der Arbeitsteilung. Hier die in der Produktion Beschäftigten, dort diejenigen, die deren Feierabend versüßen müssen, sprich die Batterien aufladen helfen. Das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum hat sich langsam seit den alten Griechen entwickelt, aber in den vergangenen 200 Jahren eine ungeheure Absolutierung erfahren. Die Vergöttlichung des genialen Meisters, ob als Interpret oder Komponist zementiert das Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten, saugt geradezu aus jedem den Willen zur eigenen Kreativität aus und kompensiert gleichzeitig diesen uneingestandenen Verlust durch eine spezifische Form von Rache. Der Rache, von den Damen und Herren Künstlern gefälligst ständig mit Neuem, Aufregendem versorgt zu werden. Mit dem Schnellsten, Höchsten und Tiefsten sowieso, mit dem Durchdachtesten und Gefühlvollsten, mit dem Individuellsten und doch Massenkompatibelsten. Das Gift der Konkurrenz breitet sich seit Jahrhunderten in den arbeitsteiligen Marktwirtschaften aus, weil es zu seinem Grundstoff gehört, dieser Grundstoff betrifft selbst das Verhältnis zwischen Publikum und Künstler. Improvisierte Musik ist Gegengift. Und aus dem intuitiven Erkennen dieses Wesens scheut man sie wie der Teufel das Weihwasser. Meistens jedenfalls. Denn das Ziel der improvisierten Musik ist unter anderem gerade dies: es selbst zu machen – mit anderen. Sich den eigenen Bedürfnissen zu stellen. Zu handeln und nicht behandelt zu werden. Das letztere ist Kultur, das erste kann Kunst werden. Tendenz der Improvisation ist also auch, sich selbst als Bühnendarbietung abzuschaffen. Die Kunstfähigkeit zu verallgemeinern – oder weniger hochtrabend: die Musizierfähigkeit. Das Nicht-Zuhören-Können und das Nicht-Zuhören-Wollen liegen in der Richtung des Nicht-Zuhören-Gelernt-Haben, schließlich also: des Nicht-Zuhören-Sollens. Der gegenwärtige Konsument von Musik bewertet Musik nach ihren Genussmomenten, nach ihrer Rauschfunktion, nach ihrer Tapetenfunktion, nach ihrer Trostfunktion, kurzum nach ihrer Funktion als Sedativum. Jedes Konzert besucht der moderne Konsument mit den gleichen Absichten wie ein Bordell. Hier wie dort das gleiche Schema: in Ermangelung eines geeigneten Partners delegiert man die Befriedigung an Spezialisten. Dafür werden die schließlich bezahlt. Improvisierte Musik ist der Anspruch an alle, es selbst zu tun beziehungsweise mit anderen. Improvisierte Musik ist der Spiegel, in dem das herkömmliche Ritual in Frage gestellt wird. Improvisierte Musik macht aus sich selbst keinen Zombie der ewigen Wiedergeburt, sondern akzeptiert ihr zeitliches Wesen als Vergängliches.

Kleiner hypothetischer Exkurs zum oben angedachten Rache-Gedanken

Die „Liebe“ des Publikums zum Künstler und seiner Musik erweist sich dann als durchweg narzisstisch, wenn jener Künstler, statt dieser „Liebe“ weiterhin in Gehorsam zu dienen, beginnt, eigene Wege, das heißt andere zu gehen. Es ist ein Verlust quasi durch Verrat. Das eigene künstlerische Nicht-Handeln suchte einst eine Kompensation fürs scheinbar unmögliche Selbermachen und neigte sich voller Wohlwollen jenem Künstler zu. Ihm delegierte der potentielle, aber leider verhinderte Selbstbetätigungsdrang des Publikums ein Handeln in Stellvertreterfunktion. Der treuhänderisch zum Star Gewordene legitimiert auf diesem Weg wiederum die „Liebe“ seiner Anhänger (kurz: Handlungsbefähigungsspender). Geht er aber dann eigene, entlegenere Wege, Wege, die schwerer nachzuvollziehen sind, stößt er sein Publikum zurück. Zurück in die gähnende Leere des Allein-gelassen-Seins, in das unausweichliche Sich-Beschäftigen mit der Unmöglichkeit, sich selbst zu beschäftigen. Der Jubel, der donnernde Applaus war nur das Zeichen einer zur rechten Zeit vorgenommenen und als Zuneigung verkleideten Rache an dem möglichen, das heißt durchaus zu erwartenden Verrat durch den Künstler, der vielleicht irgendwann etwas anderes will. Je donnernder der Applaus, umso größer der Wille, den scheinbar ach so Freien hier zu behalten, wo er sich gerade befindet. Hier verliert sich die so genannte Autonomie des Künstlers in den Zwängen kommerzieller Nachfrage und drohenden Liebesentzugs. Denn: fürs Publikum zu spielen, heißt – trotz des schönen Begriffs – heute nichts anderes, als fürs zahlende Publikum zu spielen.

Martin Speicher

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