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Jazzzeitung

2007/05  ::: seite 1

titelstory

 

Inhalt 2007/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig


TITEL - Endzeitstimmung
Wir erleben die Apokalypse des Jazz


DOSSIER

Individualisten aus Chicago
Zum Tod des Pianisten Andrew Hill und des Geigers Johnny Frigo

I like the way you play
Abschied von Joe Zawinul mit Erinnerungen an eine bewegte Zeit


Portraits

Jean-Luc Ponty, Kristin Asbjørnsen, Daniel Smith, Harald Banters Media Band, Besuch bei Richie Beirach

… und mehr im Inhaltsverzeichnis

Endzeitstimmung

Wir erleben die Apokalypse des Jazz

Es gibt von György Ligeti dieses Stück für hundert Metronome. Wenn man den Konzertsaal betritt, sind alle hundert Maschinchen fleißig damit beschäftigt, ihren jeweiligen Beat zu schlagen: ein polyrhythmisches Durcheinander, das zu einem einzigen Geräusch verschwimmt wie im lebendigen Leben. Aber dann: Ein Metronom nach dem anderen läuft aus, bleibt stehen, das Gesamtgeräusch wird dünner, unregelmäßiger, es verarmt und verhungert. Genauso ist das mit den Copyrights an legendären Jazzaufnahmen. In den Siebzigern liefen Louis Armstrongs Hot Five ab, in den Achtzigern folgte Benny Goodmans Carnegie-Hall-Konzert, in den Neunzigern die Bebop-Revolution. Inzwischen ist schon das Jahr 1957 am Stottern, einer der reichsten Ernte-Jahrgänge der Jazzgeschichte.

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Am Anfang habe ich mich noch darüber gefreut. Die Plattenmultis, die jede klassische Sinfonie alle fünf Jahre neu aufnehmen und in der Popmusik wöchentlich einem neuen Trend nachrennen, saßen doch jahrzehntelang nur faul und fett auf ihren alten Jazz-Schätzen und pochten aufs Copyright: „Louis Armstrong gab’s halt nur einmal, ätsch!“ Erst als die Rechte abliefen, kamen die echten Jazz-Enthusiasten endlich zum Zug, starteten chronologische CD-Reihen und audiophile Remasterings. Und das so erfolgreich, dass wir in den Siebzigern einen Trad-Boom hatten, in den Achtzigern ein Swing-Revival und in den Neunzigern die Bebop-Renaissance.

Inzwischen aber wimmelt es von solchen Jazz-Enthusiasten weltweit. Wer die Klassiker von Bix Beiderbecke oder Harry James kaufen möchte, hat an der Tankstelle, im Zeitschriftenladen oder bei einem der anderen ausgewiesenen Fachhändler die Qual der Wahl zwischen Hunderten von CD-Editionen – alle mit selbst gewürgtem, unaufdringlich nichts sagendem Booklet ausgestattet und für 2 Euro 99 bis 4 Euro 99 zu erwerben. Wenn man bereit ist, Zeitgeist-Aufschlag zu bezahlen, kann man sie auch für 9 Euro 99 downloaden (mit Booklet-PDF: 10,29 Euro). Nur eines kann man jetzt nicht mehr: eine seriöse Diskografie erstellen. Weil die faulen Plattenmultis keine Lust haben, bei dieser Konkurrenz die Originale überhaupt noch anzubieten. Die Originale, das waren jene – Sie erinnern sich vielleicht –, die noch Komponisten- und Besetzungsangaben aufwiesen, überwiegend korrekte Stücktitel und sogar Liner notes. Die Hot Five auf Okeh/Columbia? Gibt’s nicht mehr. Wer heute alte Jazzaufnahmen empfehlen will, schreibt besser für die Werbeflyer der Discounter-Ketten.

Jetzt ist, wie gesagt, schon das Jahr 1957 am Kippen. Trotzdem hat die von Filmproduzenten geleitete Firma Concord vor einiger Zeit den Fantasy-Katalog mit all den Highlights der 50er-Jahre erworben. Warum eigentlich? Weil er billig zu haben war! Nach demselben Motto frisst sich auch die momentane Besitzerin von Universal Music – das ist übrigens Concords Vertriebsfirma – schon seit 150 Jahren durch die Branchen. Die Firma Vivendi kümmerte sich ursprünglich mal um die Wasserversorgung der Stadt Lyon, heute macht sie in Pay-TV. Da liegt der größte Katalog des modernen Jazz – die Labels Prestige, Riverside, Contemporary, Pablo, Galaxy, Milestone – doch in den besten Händen.

Ich verstehe natürlich, dass Universal den von Concord erworbenen Fantasy-Katalog mit der unverzichtbaren OJC-Serie erst mal auf Eis legt. Denn bevor die das alles neu herausgeben, mit ihren 20 Firmenlogos versehen und ihre Wasserkopf-Promo-Maschine ankurbeln (Product Management, Sales Management, Management Management), schreiben wir ohnehin schon das Jahr 2015. Dann wäre bereits das Jahr 1965 copyrightfrei, die Blütezeit von Free Jazz und Bossa Nova. Was bleibt dann noch vom Fantasy-Katalog? Die Mühe lohnt sich also überhaupt nicht mehr. Lieber nichts verkaufen als wenig: So großzügig denken Majors.

Zum Glück gibt es ja noch die echten Jazz-Enthusiasten der 2-Euro-99-Fraktion. Auch bei denen hat sich herumgesprochen, dass man im Jazz gerne schon vor der Eins einsetzt, also warten sie erst gar nicht das Ablaufdatum der Copyrights ab. What copyright? Da stehen doch keine Aufnahmedaten, keine Besetzungen, keine korrekten Stücktitel – wer will da ein Copyright reklamieren? Die Aufnahmen sind in der Welt, die Musiker sind tot, also wird wohl alles seine Richtigkeit haben. Es interessiert schlichtweg keinen. Am wenigsten unseren aktuellen Jazz-Fachhändler, den Kassierer an der Tanke.

Kürzlich wurde Concord zum Jazzlabel des Jahres gewählt – weil es die Konkurrenten aufkauft, deren bis jetzt verlässlich angebotenes Repertoire aus dem Handel zieht und den Jazzkäufern die Wahl damit wieder leicht und übersichtlich macht. Für mich sind die wahren Jazzlabels des Jahres aber andere, zum Beispiel Passport Audio und ihr Sublabel Just Jazz. Nie gehört? Sie werden staunen: Kein Label hat in den letzten Jahren mehr CDs von John Coltrane veröffentlicht als die Passport International Entertainment, LLC. Das ist eine amerikanische Fernseh-Produktionsfirma, die offenbar nicht nur unbegrenzte DVD-Herstellungsrechte besitzt, sondern alles Mögliche zusätzlich noch als Audio-CDs vermarktet. Zum Beispiel „John Coltrane Quintet with Eric Dolphy“ (Just Jazz CD-1009): Das ist die alte Affinity-LP „Live at Birdland“. Dem Geknister und Geknackse nach zu urteilen wurde hier direkt vom Vinyl überspielt, während sich Charly/Affinity einst für ihre wesentlich besser klingende CD-Edition noch um die Originalbänder und einen Bonus Track bemühte. Haben Sie vielleicht auch ein paar alte LPs zu Hause im Schrank? Dann starten Sie doch Ihr eigenes Label! Der Hinweis „All Rights Reserved“ genügt.

Mein Special Award für das Label mit dem raffiniertesten Logo geht dagegen an Original Jazz Standards. Nachdem ZYX den guten, alten OJC-Katalog hierzulande nicht mehr vertreiben darf, hat man sich mit OJS einen schönen Ersatz gebastelt: Das sind auch alte Aufnahmen, das Label heißt fast genauso, und sogar das Labellogo erinnert zufällig frappant an das von OJC. Dass Besetzungsangaben und Aufnahmedaten fehlen, Komponistenangaben und Stücktitel unzuverlässig sind, stört wahre Jazzfans ja nicht wirklich, sondern fordert ihren Forscherdrang zu immer neuen Höhenflügen heraus. Danke, ZYX!

Alle diese beispielhaften Aktivitäten beweisen mir allerdings: Es ist vorbei. Der Jazz der Jazzbücher betritt das Reich der Public Domain, die Wildnis der Rechtlosigkeit, das Land der Märchen und Legenden. 1958 wünschte sich der Art Director des Magazins „Esquire“ ein aktuelles Foto von Charlie Parker, aber seine Fotografen weigerten sich, auf dem Friedhof in Kansas City zu buddeln. Heute sind solche zeitlosen Wünsche alltäglich: Jazz scheint ein irgendwie immer vorhandenes Märchenland zu sein, ein ewiger Wunderwald, Coltrane macht ständig neue CDs, Musiker sterben nicht, Copyright-Fristen existieren nicht, Näheres ist unbekannt. Kürzlich bestellte sich ein Veranstalter die Basie-Band – „aber bitte diesmal mit Count Basie!“ Schließlich gibt’s da ja auch eine ganz neue Scheibe von ihm auf Passport Audio. All rights reserved.

Wir Eingeweihten aber wissen: Der Jazz mutiert zum ewigen Zauberwald, weil seine irdische Schutzzeit abläuft, Metronom für Metronom. Hier in der lebendigen Realität bleibt uns nur eine Art Jazzopop erhalten, eine jazzhaltige Limonade für Gehörminderjährige, ein netter Musikstudentenulk, schmerzfreies Lalala für Mädchen. Aber Trane, Bird, der Count gehen derweil in die copyrightfreie Giganten-Sagenwelt ein wie Schneewittchen und das tapfere Schneiderlein. Über seine erste Begegnung mit Gil Evans schrieb Sting einmal: „Er erinnerte mich an einen dieser alten Weisen aus ,Star Trek’, die nach einer Katastrophe die letzten Überlebenden eines Planeten sind, die einzigen Wächter des gesamten Wissens ihrer Rasse.“ Das war in den frühen Achtzigern, als sogar das Carnegie-Hall-Konzert noch Copyright-geschützt war. Seitdem sind viele dieser letzten Wächter des Wissens von uns gegangen.

Wie der Jazz sich einst aus dem Nichts ins Sein drängte – mit Field Hollers, Rettungssignalen, Blues-Lebenszeichen, vermin-
derten Quinten – so verschwindet er nun wieder im Nichts. Jazz war einmal eine Musik der Not, dem Leiden abgetrotzt wie ein Jodler dem harten Leben im Gebirg’. Darum erinnern die alten Weisheiten des Jazz auch immer ans Survival Training auf der Alm: „Du kannst nicht weitergehen, wenn du nicht weißt, woher du kommst.“ In den Texten der afrikanischen Popmusik geht es heute noch um solche essentiellen Mahnungen: Beklaue nicht den Nachbarn, denn er könnte dir mal von Nutzen sein. Deine Ehefrau sollst du nicht schlagen, denn sie kocht für dich. Nur wegen Geld darf man nicht töten, denk dir gefälligst einen besseren Grund aus.

Die letzten echten Jazzer heute sind wieder in solche Zeiten der Not geworfen: Die Apokalypse galoppiert. „Die Kollegen werden nicht ersetzt, die Welt ändert sich“, sagt der Bassist William Parker. „Ich sehe keinen neuen Sam Rivers, keine Nachfolger. Mir scheint es manchmal, als wären wir die Überlebenden eines sehr kleinen Stammes, eine sehr elitäre Vereinigung.“ Daher werden auch die Glücksfälle in der improvisierten Musik selten. Manchmal ist es schon ein Glücksfall, wenn die Musik überhaupt stattfinden kann, denn die in Frage kommenden Musiker, die letzten Wächter des Wissens, werden immer weniger. Wie viele sind es noch? Der Rapper Beans meinte schon vor einem Jahr: „Das ist ein Duo von Hamid Drake und William Parker. Für mich repräsentiert es, was Jazz 2006 bedeutet.“ Immerhin, da waren es noch zwei.

Rainer Wein


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