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Jazzzeitung

2007/05  ::: seite 8

Brasilien

 

Inhalt 2007/05

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig


TITEL - Endzeitstimmung
Wir erleben die Apokalypse des Jazz


DOSSIER

Individualisten aus Chicago
Zum Tod des Pianisten Andrew Hill und des Geigers Johnny Frigo

I like the way you play
Abschied von Joe Zawinul mit Erinnerungen an eine bewegte Zeit


Portraits

Jean-Luc Ponty, Kristin Asbjørnsen, Daniel Smith, Harald Banters Media Band, Besuch bei Richie Beirach

… und mehr im Inhaltsverzeichnis

Individualisten aus Chicago

Zum Tod des Pianisten Andrew Hill und des Geigers Johnny Frigo

Der Pianist und Komponist Andrew Hill hat, allen kommerziellen Verlockungen abhold, ein Leben lang jene Musik gespielt, an die er geglaubt hat. Im Alter wurde er schließlich als „elder statesman“ des Jazz für seine Kompromisslosigkeit geehrt. Im Gegensatz dazu hat Johnny Frigo zwar Jahrzehnte lang als Bassist „Gebrauchsmusik“ gespielt, doch sein Stern ging erst auf, als er in hohem Alter endlich seiner Leidenschaft nachging, nach der vermeintlich kein Hahn krähte: Violinjazz. Zwei Chicagoer, die gut daran taten, ihrer inneren Stimme zu folgen.

Johnny Frigo

Bild vergrößernJohnny Frigo
(Foto: Hans Harzheim)

Blow Fiddle Blow“, der Titel eines seiner Stücke, sagt schon einiges über die Ästhetik Johnny Frigos aus. Auch die Geige ist ein, wie man im Jazz so schön sagt, „Horn“, und wurde von ihm konsequent so gespielt, dass sie an ein Blasinstrument erinnert. Selten erinnerte die Geige in seinen Händen an das hehre Tonwerkzeug der Klassik; auch vermied er es, mit einem an Zigeunermusik erinnernden schmalzigen Sound zu betören. Natürlich stand dem bewusst die Haltung eines „fiddler“ einnehmendem Musikers beides zu Gebote, denn er war ein Mann der vielen Farben. Johnny Frigo war auch Maler und empfand auch als Musiker wie ein solcher. Deshalb dachte er beim Spielen vor allem in Klangfarben. Es war ihm wichtig, nicht alles mit dem gleichen Sound zu spielen, sondern für jede Phrase, jeden Ton ein anderes Timbre zu verwenden. Dafür setzte Johnny Frigo eine Reihe von Techniken ein, die es zwar schon vor ihm gab, die er aber so modifizierte und persönlich anwandelte, dass sein Sound sich von dem aller anderen Jazzgeiger deutlich unterschied und eben gelegentlich dem von Bläsern nahe kam.

Da ist zum einen eine ausgefuchste Flageolett-Technik, bei der höhere Töne so gespielt werden, dass sie in etwa an hohe Flöten oder Pfeifen erinnern. Bei Frigo geschah das mit einer etwas geräuschhaften Komponente, die (anders als etwa bei Grappelli oder Venuti) deutlich an Blasgeräusche erinnerte. Daneben beherrschte Frigo ein feines, langsames Glissando, vergleichbar etwa mit der Art in der ein Saxophonist wie Johnny Hodges von einem Ton zum anderen überging. Individuell war auch sein Umgang mit Doppelgriffen, ganz anders als bei den wenigen großen Geigern, die wie Stuff Smith oder Eddie South gelegentlich zu Doppelgriffen griffen. Frigos Töne wurden stets gezielt anders angestrichen: Sie konnten mit Attacke daherkommen, manchmal aber schwollen sie gemächlich an, als würden sie angeblasen. Johnny Frigo empfahl sich durch ein vielgestaltiges, klanglich sehr differenziertes Geigenspiel, das in seiner Originalität große Beachtung verdient hätte. Kein Wunder, dass der bekannte Kritiker Leonard Feather den alternden Johnny Frigo bei seiner „Entdeckung“ als den begabtesten und unterschätztesten auf seinem Gebiet bezeichnete.

John Frigo erblickte am 27. Dezember 1916 in jener Stadt das Licht der Welt, die kurz nach seiner Geburt das zweite große Jazz-Zentrum nach New Orleans werden sollte: Chicago. Das Kind italienischer Einwanderer las Abfall von den Gassen auf und verhökerte ihn an einen Lumpensammler, was ihm 25 bis 30 Cents in der Woche einbrachte. Mit diesem Geld finanzierte er seine ersten Geigenstunden, die der Sohn des Lumpensammlers dem 7-jährigen erteilte. Nach drei Jahren Unterricht brauchte Frigos Mutter selbst die 25 Cents und so kam es, dass dieser große Meister der Violine nie wieder Unterricht genoß.

In der Band der Schule war für seine Geige kein Bedarf. Johnny Frigo erlernte das Spiel der Tuba, da sich kein anderer des Instrumentes erbarmte, und zeigte auch noch Ehrgeiz auf der Trompete. Im Orchester der High School vertauschte er die Tuba zu Gunsten des Kontrabasses – darin folgte er einer allgemeinen Tendenz der Zeit. Als er dann dem Al Diehm Orchestra angehörte, steckte ihm jemand eine 10 Dollar-Note ins F-Loch seines Basses. Es war Al Capone. Als Teenager stieg er schon bei Größen wie dem Boogie-Pianisten Albert Ammons ein. 1942 kam er nach Jobs als Bassist in Tanzbands vorübergehend wieder zur Geige, als er als „comedy fiddler“ für das Orchester eines der Brüder des legendären Komödianten-Teams der Marx Brothers engagiert wurde: Chico Marx.

Während des 2. Weltkriegs in der Nähe von New York stationiert, hatte Frigo die Möglichkeit mit Jazzern wie Al Haig und Kai Winding zu musizieren. Zurück in Chicago wurde er Bassist bei Jimmy Dorsey, mit dem er durch Amerika tourte. Johnny Frigo konnte seine Kollegen in Dorseys Rhythmusgruppe, den Pianisten Lou Carter und den Gitarristen Herb Ellis dazu überreden, ein eigenes Trio zu gründen. Es nannte sich „The Soft Winds“ und sollte vor allem wegen der Kompositionen der drei Herren von sich reden machen. Das Meisterstück darunter wurde der Song „Detour Ahead“, der zunächst von Woody Herman bekannt, und gleich darauf von Billie Holiday unsterblich gemacht wurde, die ihn eine Zeit lang in ihrem festen Repertoire hatte.

Obwohl Johnny Frigo für Werbung und Backgroundmusik sowie abends in Clubs als Jazzmusiker sehr aktiv war, weist seine Diskographie bis in die 80er-Jahre hinein sehr wenige Aufnahmen auf. Jahrelang musizierte er im Trio mit Dick Marx; als dieser nach Hollywood übersiedelte, leitete Frigo ein Trio mit dem Pianisten Dick Reynolds und seinem Sohn, dem Drummer Rick Frigo. Frigo begleitete Gaststars wie Billie Holiday, Sarah Vaughan, Barbra Streisand, blieb aber jahrzehntelang in seiner Größe unerkannt.

Frigos wohl größter Erfolg zwischen den späten 50er- und Mitte der 80er-Jahre war die Komposition des offiziellen Songs des Baseballteams Chicago Cubs.

Als kommerzieller, wenn auch vereinzelt an Jazzproduktionen beteiligter Bassist war Johnny Frigo eine bekannte Persönlichkeit, doch seine Jazzgeige blieb jahrzehntelang ein weitgehend privates Vergnügen. „Alle paar Wochen öffnete ich den Geigenkasten, um zu sehen, ob die Saiten noch drauf waren. Ich begann zu realisieren, dass ich nicht mehr mit diesen Kids mithalten konnte, die E-Bass spielten und jeden Trick jedes Bassisten kannten“, erklärte Frigo einmal seinen Sinneswandel: „Ich dachte: ‚Wenn ich so viel von der Geige verstehe, warum verfolge ich es dann nicht?‘“ Da beschloß er inkognito mit einem Akkordeonisten vier Tage in der Woche abends im Hilton von Tisch zu Tisch zu gehen und aufzugeigen. Langsam wurden seine geigerischen Fähigkeiten doch zum Geheimtipp. Beachtung erregte vor allem sein enzyklopädisches Gedächtnis. Er konnte so gut wie alles aus dem Stand heraus spielen.

Als der Jazzgeiger Randy Sabien 1983 sein erstes Album „In A Frog“ vorlegte, holte er sich für zwei Stücke Johnny Frigo hinzu. Randy Sabien ist leider nie recht bekannt geworden, doch für Johnny Frigo war es der Beginn einer Aufnahmeserie, die ihn zunehmend ins Scheinwerferlicht rückte.

Johnny Frigos Durchbruch im Alter von 71 Jahren wurde geebnet durch einen veröffentlichten Gastautritt bei Monty Alexander, Ray Brown und seinem alten Weggefährten Herb Ellis. Begeisterte Kritiken und Auftritte in der in ganz Amerika berühmten Tonight Show führten dazu, dass viele Amerikaner ihn als besten Jazzgeiger betrachteten. Ein halbes Dutzend ausgezeichneter Alben der letzten 20 Jahre – eine trägt den bezeichnenden, doch unkorrekten Titel „Debut Of A Legend“ – legen Zeugnis von seinem verspäteten Durchbruch ab. Eines seiner letzten Tondokumente ist ein Live-Auftritt des 86-jährigen 2003 in New York unter dem Namen „Hot Club Of 52nd Street“. Obgleich es eine Hommage an Django Reinhardt und Stéphane Grappelli ist, versuchen Johnny Frigo und die Gitarristen Howard Alden und Bucky Pizzarelli sowie der Bassist Michael Moore keineswegs die berühmten Europäer zu kopieren. Sie swingen auf ihre ganz amerikanische Weise, etwa in „I Got Rhythm“. Frigo war schon aktiv, als George Gershwin 1930 diesen Dauerbrenner komponierte, und wirkte 2003 im hohen Alter immer noch inspiriert und unermüdlich!

Andrew Hill

Bereits am 20. April verstarb der Pianist und Komponist Andrew Hill in Jersey City, New Jersey. Über Ort und Zeitpunkt seiner Geburt kursierten bis vor kurzem irrige Ansichten. Auf dem Plattenhüllentext zu „Black Fire“, seinem 1964 entstandenen ersten Album unter eigenem Namen, war zu lesen, er sei in Haiti geboren worden, bevor er im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern nach Chicago gezogen sei. Auf diese karibische Herkunft besann man sich immer wieder, wenn es galt, Hills Spielweise zu erklären, etwa seinen Gebrauch von Ostinati und ungewöhnlichen Metren, vermeintlich folkloristische Reminiszenzen. Später gab Hill zu, bei der Auskunft über seine Herkunft glatt gelogen zu haben. Er habe kein Interesse an Haiti gehabt, aber die Mär habe ihm geholfen, in Colleges aufzutreten, so wie es Dave Brubeck in jener Zeit schon seit einigen Jahren erfolgreich praktizierte. „Leute betrachteten Jazz als etwas Exotisches; zu behaupten, man käme aus Haiti, war da hilfreich“, entschuldigte sich Andrew Hill im Jahr 2003 gegenüber einem britischen Journalisten. Zuvor galt der bereits zitierte Leonard Feather als Urheber des Haiti-Märchens sowie der Schreibweise „Hille“, die sich auf frühen Platten findet, wohl aber auch Bestandteil des Exotik-Tricks war.

Andrew Hill

Bild vergrößernAndrew Hill
(li., Foto: John Abbott)

Andrew Hills Vater, ein Gepäckträger, besaß ein altes Pianola, mit dem man Klavierrollen abspielen konnte. Der junge Andrew Hill brachte sich das Klavierspiel bei, indem er die Rollen anhielt und seine Finger auf jene Tasten legte, die durch den Mechanismus nach unten gezogen wurden. Da Pianorollen zu dieser Zeit bereits ein Relikt aus früheren Tagen waren, lässt sich vorstellen, dass viel Musik des frühen 20. Jahrhunderts im Repertoire des elterlichen Haushalts war. Ich vermute, dass viel Ragtime dabei war und auch das „Langsamer-und-schneller-werden“ der Rollen Andrew Hill geprägt hat. Dieser Verdacht kommt mir beim Hören des neojoplinesken, doch auch von Gospelmusik geprägten Titelstücks des Albums „Verona Rag“ – ein für das Label „Soul Note“ 1986 eingespieltes Soloalbum, dass sich empfiehlt, wenn man sich Hills ureigener Musik über seine „roots“ nähern will. Viele typische Stilmerkmale Hills sind hier zu hören: die etwas an Thelonious Monk erinnernde Sperrigkeit der Musik, etwa in einer gewissen Kantigkeit der Phrasierung, der perkussive Anschlag, die Vorliebe für dichte Akkordschichtungen, ein subtiles Spiel mit Zeitverzögerungen, die einen alles andere als gleichmäßigen Puls ergeben, überraschende dynamische Kontraste – lauter Eigentümlichkeiten also, die den aufmerksamen Hörer fordern und den ungeübten Hörer auf die Idee bringen könnten, da spiele jemand etwas ungelenk.

1943 begann Andrew Hills Musikerkarriere in Chicago. „I come from Chicago’s south side, socialisation was important and necessary. I was talented but crazy, semi-autistic and eccentric. The university of the street was important. It gave me opportunity to play with the greats.” Als 16-jähriger hatte er einmal die Chance Charlie Parker und Miles Davis zu begleiten, als sie in Chicago gastierten. Für gewöhnlich aber spielte er in R & B-Bands. In der Chicagoer Szene der 50er-Jahre konnte man ihn bisweilen an der Seite von Johnny Griffin, Vion Freeman und Gene Ammons erleben. Erst als er 1961 als Begleiter Dinah Washingtons nach New York kam, wurde er einigermaßen bekannt und schon ab 1962 machte er Aufnahmen mit Größen wie Roland Kirk und Joe Henderson, der ihn mit der legendären Jazzplattenfirma Blue Note in Kontakt brachte.

Labelgründer Alfred Lion hatte schon in den 40er-Jahren mit Thelonious Monk einem genialen, damals aber weithin unverstandenen Jazzpianisten erstmals die Chance gegeben, Platten unter eigenem Namen aufzunehmen. In den 50er-Jahren förderte Alfred Lion Herbie Nichols, einen ebenfalls eigenwilligen, doch leider kommerziell nicht erfolgreichen Pianisten. Mit Andrew Hill, den er auf dem gleichen Niveau ansiedelte, leistete sich Alfred Lion einen dritten und letzten pianistischen Sonderling als Protegé – ein kostspieliges Hobby. Wenn sich die Platten eines Künstlers nicht verkauften, dann konnte freilich auch Blue Note ihn nicht jahrelang halten. Trotzdem: In den kurzen acht Monaten der Jahre 1963 und 1964, die Andrew Hill für Blue Note aufnahm, entstanden ganze fünf Alben, die den kurz zuvor gänzlich Unbekannten als eine Schlüsselfigur der Musik seiner Zeit dokumentieren.

Das berühmteste von Andrew Hills Alben ist das in jede Jazzsammlung gehörende Blue Note-Album „Point Of Departure“. In einer Traumbesetzung wurde es am 21. März von Eric Dolphys Todesjahr 1964 noch mit diesem genialen Baßklarinettisten und Altisten aufgenommen sowie mit Kenny Dorham, Joe Henderson, Richard Davis und Tony Williams.

Durch seine seinerzeit schwierige Vermittlerposition zwischen Bop und Avantgarde gehört Andrew Hill nämlich zum Kreis jener Musiker, die in den frühen 60er- Jahren die Grundlagen des Jazz von heute schufen: Eric Dolphy, die älteren Zeitgenossen Charles Mingus oder Mal Waldron, und jüngere wie Herbie Hancock.

Hill hatte das Pech, nie die Popularität zu erreichen wie etwa seine Weggefährten bei Blue Note, Musiker wie Joe Henderson oder Bobby Hutcherson, aber auch nie die Berühmtheit radikaler Avantgardisten wie etwa Cecil Taylor. Sein Einfluß auf junge Bewunderer wie die Pianisten Chick Corea, Keith Jarrett und Herbie Hancock ist nur am Rande stilistisch; in erster Linie konnten sie an Hill studieren, wie man unbeirrt von stilistischen Schubladen seinen eigenen Weg zu gehen vermag.

Bei einem Musiker, dessen Musik nur wenigen Kennern, ja nur einem Bruchteil der Jazzhörerschaft viel bedeutet, konnte Hills Leben keine ununterbrochene Folge von Konzerten und Alben sein. Andrew Hill war über drei Jahrzehnte einen Großteil der Zeit pädagogisch tätig. Er lehrte an der Colgate University in Hamilton (wo er auch seinen Doktor machte) und an der State University of Portland, Oregon, sowie in Kalifornien.

1996 kehrte Andrew Hill nach New York zurück, und in seinem letzten Jahrzehnt, fand er die ihm gebührende Anerkennung. Vor allem sein Album „Dusk“ aus dem Jahr 2001, das von Fachzeitschriften als Album des Jahres ausgezeichnet wurde und weltweit gute Kritiken bekam, ebneten ihm den Erfolg der letzten Jahre. Trotz des Beifalls für den alternden Hill wurde seine Musik nie, wie etwa die anderer Innovatoren, etwa der Jazz von Monk oder Coltrane, zum allgemeinen Rüstzeug der Musiksprache jüngerer Generationen. Seine Kunst machte keine Schule; er nahm sie mit ins Grab und bleibt sicher noch für viele Nachgeborene so rätselhaft wie sie erschien als er erstmals ins Rampenlicht trat.

Marcus A. Woelfle

 

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