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Jazzzeitung

2007/03  ::: seite 10-11

MAHAVISHNU FOREVER

 

Inhalt 2007/03

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break // kurz, aber wichtig
all that jazz: Die Welt der Avatare
no chaser: Der Druckfehlerteufel
jazzfrauen: Carla White
Farewell: Zum Tod des Klarinettisten Tony Scott


TITEL

Für eine Nacht oder fürs Ganze Leben?
Jazz meets Klassik– ein Statement von Roland Spiegel


DOSSIER -
MAHAVISHNU FOREVER
Original und Widmung • Von Hans-Jürgen Schaal


BERICHTE
/ PREVIEW
Marc Brenken hat die Ruhrgebiets-Jazzszene für sich entdeckt || Burghausen 2007 || Der Saxophonist Rosario Giuliani || New Generation Jazzwettbewerb 2007 || Neuer Deutscher Jazzpreis || David Sanchez Group in Memmingen || Das Trio CEG in Bad Pyrmont


 PORTRAIT / INTERVIEW
Zum 70. Geburtstag von Pierre Favre || Joachim Kühn und die Kalimba – eine interkulturelle Begegnung

 JAZZ HEUTE
Jung, talentiert, deutsch sucht Veranstalter
ACT fördert mit der Reihe „Young German Jazz“ gezielt junge Talente
Förderung mit System

Bundestag debattiert über Jazz


 PLAY BACK / MEDIEN

CD.
To Bi or not to bi
Biréli Lagrène auf Djangos Spuren

CD.
CD-Rezensionen
CD.
Analog - Digital
CD.
Critics Choice
CD. Scheffners Liste
DVD. DVD-Rezensionen
Bücher:
Neue Jazzbücher zu Lee Morgan und zur Jazzszene der DDR || Lee Tanner: The Jazz Image
Noten. Peter Wicke, Wieland & Kai-Erik Ziegenrücker: Handbuch der populären Musik und anderes


 EDUCATION
Ausbildung. Ausbildungsstätten in Deutschland - Fortbildungen, Kurse (pdf) (62 kb)
Abgehört 49. Auf dem Jazzgitarren-Olymp (1/2)
John Scofields Solo über Pat Methenys „The Red One“

MAHAVISHNU FOREVER

Original und Widmung • Von Hans-Jürgen Schaal

Der frühe elektrische Fusionjazz war kürzlich noch „period music“, ein längst vergangenes Kuriosum. Doch nun wird die Klangarchitektur einer Pionier-Formation des Rockjazz neu entdeckt: das Mahavishnu Orchestra als zeitloses Tribut-Thema. Ob Mahavishnu Project, HR Bigband oder radio.string.quartet: McLaughlins Fusion-Formel funktioniert in vielen Zusammenhängen.

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Muss man John McLaughlin noch vorstellen? Vielleicht so: Viele Gitarristen seiner Generation wurden auf die eine oder andere Weise – wie er – zu Fusion-Pionieren. Aber ihre musikalische Sozialisation war anders. Pat Martino und George Benson kamen aus Philadelphia beziehungsweise Pittsburgh und machten ihre ersten Karriereschritte in den Orgel-und-Tenor-Bands des Soul Jazz. James „Blood“ Ulmer kam aus South Carolina und arbeitete sich durch Gospel und Funk. Sonny Sharrock wurde im Staat New York geboren und rutschte von den Doo-wop-Bands direkt in den Free Jazz. Jerry Hahn aus Nevada tingelte zunächst in Hotelbands in Kalifornien. Carlos Santana aus Tijuana (Mexiko) wurde in der kalifornischen Rockszene groß.

John McLaughlin dagegen: Er stammt aus einem kleinen Ort in Yorkshire in England. An der Gitarre ist er weitgehend Autodidakt und erlebt Blues, Swing, modernen Jazz und Flamenco zunächst nur von Schallplatten. Seine ersten Profi-Erfahrungen sammelt er weder in Kalifornien noch in Philadelphia, sondern in der jungen Blues-Rock-Szene von London. Er spielt mit Graham Bond, Eric Clapton, Jack Bruce, Mick Jagger, Alexis Korner, Ginger Baker, Brian Auger – diesen Leuten. Nebenher schnuppert er ein bisschen in indische Musik hinein, indische Philosophie und Free Jazz. Die Platte „Extrapolation“ von 1969 (mit John Surman) ist das reife, bescheidene, geschmackvolle Statement eines 27-jährigen Musikers zwischen Jazz, Blues, Flamenco, Rock und ungeraden Metren. Ein frühes europäisches Fusion-Manifest.

Der Bassist auf „Extrapolation“ hätte eigentlich Dave Holland sein sollen. Der aber wird kurz vor der Aufnahme in die USA gerufen und von keinem Geringeren als Miles Davis engagiert. Holland hat aber ein Tape im Gepäck mit Aufnahmen von McLaughlin und spielt sie Tony Williams vor, Miles’ Drummer, der sich gerade auf eigene Füße stellen will. Tony Williams ist begeistert und holt McLaughlin ebenfalls über den Atlantik: für seine neue Band, Emergency. Miles hört die Band live und will McLaughlin auch noch haben. So wird der Autodidakt aus Yorkshire, der in London Blues-Rock spielte und dabei noch nicht besonders auffiel, plötzlich ein prominenter Mitstreiter beim großen Miles Davis. Miles schneidert sogar seine Arrangements auf ihn zu, widmet ihm ein eigenes Stück („John McLaughlin“) und gibt ihm überdurchschnittlich viele Soli. McLaughlins Gitarre erklingt auf insgesamt neun Miles-Davis-Alben: „In A Silent Way“, „Circle In The Round“, „Directions“, „Bitches Brew“, „Jack Johnson“, „Live/Evil“, „On The Corner“, „Big Fun“ und „Get Up With It“. Miles sagt über ihn: „Nobody can play as good as him.“

Die Band: M.O.1

Als Tony Williams seine erste Band auflöst und sich auch die Bindungen zu Miles lockern, plant John McLaughlin, durch Miles berühmt geworden, ein eigenes Quintett. Der erste Musiker, den er dafür gewinnt, ist der 27-jährige Schlagzeuger Billy Cobham, den er aus Miles’ Band kennt. Cobham stammt aus Panama, kam durch den Armeedienst in die USA, profiliert sich 1968 bei Horace Silver – und wird in Kürze als der Meisterdompteur ungerader Fusion-Metren gelten.

Als zweiten Musiker sucht McLaughlin einen Violinisten, denn er hat eine Schwäche für die Kombination Gitarre/Geige. Dazu muss man wissen: McLaughlins Mutter spielte Violine und er selbst begeisterte sich früh für die Swing-Aufnahmen von Django Reinhardt und Stéphane Grappelli. Sein Wunschkandidat für die Band ist der französische Jazzrock-Geiger Jean-Luc Ponty, der bereits mit Frank Zappa gearbeitet hat und inzwischen in Europa eine erfolgreiche Fusionband leitet (Experience). Doch aus Pontys Verpflichtung wird nichts – offenbar wegen Visa-Problemen. McLaughlin sieht sich nach einer Alternative um und entdeckt die Platten der gerade aufgelösten US-Rockband The Flock. Auf ihnen spielt der Geiger Jerry Goodman, ein ehemaliger Orchestermusiker auf Abenteuersuche. McLaughlin lädt Cobham und Goodman zu den Aufnahmen seiner Platte „My Goal’s Beyond“ ein und testet da schon mal die Chemie.

Jetzt fehlen noch ein Keyboarder und ein Bassist. Der befreundete Miroslav Vitous steht zwar für den Bass-Posten nicht zur Verfügung (er gründet gerade mit Joe Zawinul und Wayne Shorter die Band Weather Report), hat aber einen heißen Tipp für die Keyboards: den Klavierbegleiter von Sarah Vaughan, seinen tschechischen Landsmann und ehemaligen Berklee-Kommilitonen Jan Hammer.

Für den E-Bass schließlich engagiert McLaughlin den in Dublin geborenen Rick Laird, einen alten Bekannten aus Londoner Zeiten. Laird war Hausbassist in Ronnie Scotts Club, ging dann in die USA, spielte dort mit Stan Getz und Buddy Rich und war gerade nach London zurückgekehrt. Er scheint nur auf McLaughlins Anruf zu warten.

Im Sommer 1971 ist das Quintett komplett und spielt seinen ersten Gig in Greenwich Village. McLaughlin nennt die Band Mahavishnu Orchestra – nach dem Ehrennamen, den sein Guru Sri Chinmoy ihm gab. Maha: der Schöpfer, Vishnu: der Bewahrer. McLaughlin ist nur einer von mehreren Miles-Sidemen, die in diesen Jahren eine eigene Fusion-Formation gründen – und sie alle tragen Namen wie Rockbands: Weather Report, Emergency, Return To Forever, Headhunters. Mit einem Plattenvertrag von CBS in der Tasche wird das Mahavishnu Orchestra auf Anhieb ein Riesenerfolg. Das erste Album, „The Inner Mounting Flame“, erscheint noch 1971 und steigt in die amerikanischen Pop-Charts ein. Das zweite, „Birds Of Fire“, wird im Sommer 1972 aufgenommen (Hammer spielt nun auch Moog-Synthesizer) und gelangt sogar unter die Top Ten. Zwar nehmen viele Jazzsender das M.O. nicht ins Programm, dafür entdeckt das Rock-Publikum die Band als virtuoseste, raffinierteste elektrische Formation auf der Szene. „Zur Zeit von ‚Birds Of Fire’“, sagt Jan Hammer, „war es meiner Meinung nach wie ein frühes Speed-Metal-Ding.“ Das M.O. spielt in den größten Hallen – in New York etwa in der Carnegie und der Philharmonic Hall – und engagiert Rockgruppen wie die Eagles und Aerosmith als Opening Acts.

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Doch die ständigen Tourneen kosten Energie und zerschleißen die Band. Als man im Juni 1973 Aufnahmen für eine dritte Platte macht, setzen McLaughlins Sidemen erstmals eigene Stücke durch; über die endgültige Form des Albums – McLaughlin wünscht sich zusätzliche Playbacks und Streicher – wird man sich jedoch nicht einig. Weil CBS aber dringend ein neues Album verlangt, veröffentlicht die Band stattdessen den Live-Mitschnitt ihres Auftritts im Central Park vom Sommer 1973: „Between Nothingness And Eternity“. Zum 31. Dezember 1973 löst sich das Quintett offiziell auf. (Das dritte Studio-Album wandert ins Archiv, wird erst 1998 wiedergefunden und 1999 als „The Lost Trident Sessions“ veröffentlicht.)

Die Band: M.O.2

Bei Auflösung des Quintetts hat Mc-Laughlin bereits eine Phantombesetzung in der Hinterhand. Nun steht ihm tatsächlich Jean-Luc Ponty an der Geige zur Verfügung, während er die anderen drei Posten mit Newcomern besetzt. Gayle Moran übernimmt die Keyboards und singt; sie ist gerade mit McLaughlin liiert, wird wenig später aber die Ehefrau von Chick Corea. Michael (Narada) Walden findet über den gemeinsamen Guru Sri Chinmoy zu McLaughlin; der Drummer ist gerade mal 21 Jahre alt und wird später ein erfolgreicher Pop-Produzent. Für den Bass-Posten lädt McLaughlin Interessenten zum Vorspiel ein; auch Jaco Pastorius bewirbt sich, wird aber kurz darauf Miroslav Vitous’ Nachfolger bei Weather Report. Den Zuschlag erhält ein erst 17-jähriger Afroamerikaner aus Detroit, Ralphe Armstrong, der einen bundlosen E-Bass spielt.

Mit dieser zweiten Besetzung (M.O.2), die er gelegentlich „das wahre Mahavishnu Orchestra“ nennt, verwirklicht McLaughlin nun seine Vorstellungen eines erweiterten, streichergesättigten Sounds. Auf „Apocalypse“, dem ersten Album des neuen Quintetts, wird die Band nicht nur durch ein Streichertrio unterstützt, sondern durch ein komplettes Sinfonie-Orchester. Auf dem Folgealbum „Visions Of The Emerald Beyond“ sind neben dem Streichertrio auch zwei Bläser beteiligt. Doch nach einem Jahr verlässt Jean-Luc Ponty wegen finanzieller Differenzen die Band; er und Gayle Moran werden durch Stu Goldberg ersetzt, einen damals 19-jährigen Wunder-Keyboarder, von George Duke empfohlen. Das letzte Album „Inner Worlds“, aufgenommen im Sommer 1975, entsteht also nur noch im Quartett – ohne Geiger, ohne Streichertrio, dafür mit Gitarrensynthesizer.

Die Musik des M.O.2 ist eklektischer, uneinheitlicher als die des ersten. Spirituelle, meditative Inhalte spielen eine größere Rolle, auf allen drei Alben werden mehrere Sänger aktiv, und die „europäischen“ Rock-Sounds sind zunehmend von „amerikanischen“ Funk-Sounds verdrängt. Zuweilen erreicht die Musik noch die virtuose Energie und strukturelle Dichte der ersten Besetzung, aber immer nur für wenige Minuten. Auch wenn McLaughlin „Visions Of The Emerald Beyond“ zu seiner liebsten Mahavishnu-Platte erklärt hat, gelten die beiden Studioalben der ersten Besetzung bei vielen Fans als die echten Mahavishnu-Klassiker. (Eine Neubelebung der Band in den 80er-Jahren – mit Bill Evans am Saxophon – sorgte eher für Irritation als Begeisterung.)
Die Musik

Was macht die Musik des Mahavishnu Orchestra so besonders? Es ist eine fast architektonische Schichtung von Form-elementen, wie sie vorher weder im Jazz noch im Rock praktiziert wurde. In vielen Fällen bilden ungerade oder wechselnde Metren die Basis. Das Metrum (oder die „Tala“) wird durch eine irisierende Ostinato-Figur auf sperrige Weise „greifbar“ gemacht, wobei diese Figur manchmal so schnell gespielt ist, dass sie an die Skalenläufe der Tanpura in der indischen Musik erinnert. Das Schlagzeug kontrastiert zu diesem Ostinato, indem es den Takt anders unterteilt und akzentuiert und so für eine verblüffende Irritation sorgt. Das Ostinato übernimmt Begleit- oder Führungsfunktion und wird in der Regel im Bass variiert und von einer Melodiestimme noch überlagert.

Statt über ein Akkordgerüst bewegen sich die Stücke durchgängig in modalen Skalen – Stichwort: Miles, Stichwort: Indien –, häufig in der „Saiten-Tonart“ E; McLaughlin nennt die Modi gerne „E Symmetrical“, „E Super Locrian“, „E Dorian“ oder „E Pentatonic Minor“. Solche modalen Skalen bieten den drei elektrischen Solovirtuosen – McLaughlin an der Gitarre, Goodman an der Violine, Hammer an den Keyboards – viel Spielraum für virtuose, ekstatische, technisch diffizile Improvisationen, gelegentlich in raschem Wechsel. Hohe Tempi, ein rockiger Lärmpegel, überschäumende Energie, das fortgeschrittene tonale Konzept und die fast unglaubliche Sicherheit und Flexibilität aller Musiker verschleiern dabei erfolgreich die Künstlichkeit der Konstruktion.
Beispiel 1: „The Dance Of Maya“ (aus dem ersten Album), das am häufigsten gecoverte Stück des M.O. Der Ausgangs-„Chorus“ besteht aus 11 Takten in 10/8. Das in Achtelwerten schreitende Gitarren-Ostinato – im Bass gestützt – erstreckt sich über jeweils zwei Takte und unterteilt die zehn Achtel dabei in 3+4+3. Melodisch ist das Ostinato alles andere als gefällig: mit einem Tonumfang von fast zwei Oktaven, großen Intervallen und chromatisch abfallenden Signaltönen (gis-d, g-d, g-cis, f-c ...). Den elften Takt des „Chorus“ bilden fünf absteigende Akkorde in Viertelnoten. Bei der ersten Wiederholung des „Chorus“ setzt das Schlagzeug ein, akzentuiert die zehn Achtel aber wie 3+3+3+3+3+3+2 Sechzehntel (!). Wer als Hörer im ersten „Chorus“ die Taktregel nicht mitbekam, verliert jetzt womöglich total die Orientierung. Im dritten „Chorus“ erklingt über dem Ganzen noch dazu eine ruhige, aber fast schrille Melodie der elektrischen Violine, die auf c einsetzt und über die Haltetöne b, a, as, ges tiefer wandert. Der Zusammenklang von Ostinato, Melodie und Drum-Pattern schafft den Eindruck monumentaler, nahezu berstender Dramatik. Nach dem dritten „Chorus“ setzt sich (fast wie in einer „Blues Explosion“) das Drum-Pattern durch: Das Stück springt in einen augenzwinkernden, dabei sehr ungewöhnlichen „Shuffle“-Rhythmus (man bedenke: 3+3+3+3+3+3+2) mit bluesigem Riff, ohne den 10/8-Takt dabei zu verlassen. E-Violine, dann E-Gitarre solieren darüber. Zum Schluss stürzt der „Shuffle“ in die Konstellation des dritten „Chorus“ zurück.

Beispiel 2: „Birds Of Fire“ (das Titel- und Eröffnungsstück des zweiten Albums). Hier ist die Schichtung noch komplexer und das Tempo noch höher. Das Grundmetrum ist diesmal 18/8 bei pendelndem Modus: ein Takt über as, ein Takt über b. Gitarre und Keyboard markieren die 18 Beats als 5+5+5+3, Violine und Bass intonieren ein kräftiges, rhythmisches Riff in 8+10, das Schlagzeug spielt 6+6+6, später mit Hauptakzent auf der jeweils vierten Achtel der Sechsergruppe. Jetzt stellen Sie sich diese drei Rhythmen mal gleichzeitig vor! Und während Keyboard, Bass und Drums ihre drei Patterns halten, treffen sich Gitarre und Violine zudem zu melodischen Motivläufen, so rasant, dass sie fast zu Tonschlieren verschwimmen. Zwischen den Soli, die streckenweise noch von Ostinato und Riff begleitet sind, wird der Motivteil sogar weiter ausgebaut: mit einem Achteltriolen-Bogen (28 Töne in einem Takt), einem Viertelnoten-„Bremslauf“ und einem als „Halt“ zwischengeschalteten 12/8-Takt. Eine Menge Binnenstruktur bei 384 bpm!

The Mahavishnu Project

Der Name verrät’s: Das Mahavishnu Project hat sich seit dem Gründungsjahr 2001 ganz der Musik des M.O. verschrieben. Man versteht sich schlicht als „repertory band“, die den Mahavishnu-Fans von heute das bieten will, was die sich am sehnlichsten wünschen: das echte Mahavishnu-Konzerterlebnis – im originalen Sound, im originalen Spirit. Aber weil die Zeit nicht stehen geblieben ist, klingt das Mahavishnu Project etwa so, wie das M.O. klingen würde, wäre John McLaughlin heute 35. Vor allem an Schlagzeug und Gitarre sind die Sound- und Stilvorstellungen heutiger Metal- und Progrock-Produktion nicht spurlos vorübergegangen. Und dass sich ein Jan Hammer der Jetztzeit nicht auf Klavier, Fender Rhodes, Orgel und Moog beschränken, sondern hemmungslos mit allen Arten von Tastencomputern herumspielen würde, ist auch klar. Also gibt es beim Mahavishnu Project etwas mehr Bums auf der Basstrommel, etwas mehr Geheule in der Gitarre und viel mehr verschiedene Sounds aus den Keyboards. „You Know, You Know“, im Original eine zerbrechliche Skizze, die zwischen Rührung und Sperrigkeit balanciert, wird hier schon mal zur krachigen Rocknummer.

Das Mahavishnu Project besitzt also durchaus eine eigene Note. Man hat Akzentuierungen und Fermaten und Out-of-tempo-Einleitungen entwickelt, die sofort einleuchten und die auch das originale M.O. in der musizierenden Praxis hätte erfinden können. Der Hörer hat dabei das Gefühl: Diese Band will am Original nichts bewusst verändern, aber sie lebt dieses Material, spielt eigene Improvisationen, und die Musik verändert sich dabei organisch und unvermeidlich. Drummer Gregg Bendian, Jazzgeiger Rob Thomas und die anderen sind echte Mahavishnu-Liebhaber, die sich in die Musik mit ganzem Herzen einfühlen. Ihre Doppel-CD „Phase 2“ entstand live auf der US-Tournee im Jahr 2003 und versammelt die Highlights der beiden ersten M.O.-Alben. Nur eine halbe spätere Nummer ist dabei („Lila’s Dance“ aus „Visions“) sowie eine Bendian-Eigenkomposition, unüberhörbar Mahavishnu-inspiriert.

Bandleader Bendian ist von Haus aus kein Fusion-Trommler, sondern Free-Improvisator, Komponist von Kammermusik und klassischer Dirigent. Bis vor kurzem konzentrierte sich sein Mahavishnu Project auf die Musik der ersten Besetzung, in der das polyphone Konzept – die komplexe Schichtung von Rhythmen und Motiven in einem modalen Raum – am reinsten und energiereichsten realisiert ist. Alle vier Alben der ersten Besetzung wurden von Bendians Quintett als Konzertprogramme präsentiert: Stück für Stück in der Reihenfolge wie auf der Originalplatte, suitenartig aneinandergehängt ohne Pausen dazwischen. Mit der Doppel-CD „Return To The Emerald Beyond“ (2007 erschienen) wagt sich das Mahavishnu Project nun aber doch in die Musik der zweiten Besetzung und präsentiert live das komplette Programm des Mahavishnu-Albums „Visions Of The Emerald Beyond“, wobei viele Stücke doppelt oder dreifach so lang geworden sind.

Das neue Album ist eine Gratwanderung. Einerseits nimmt man die Herausforderung an, die in der eklektischen Mischung der Vorlage steckt, und erweitert die Band um Streicher, Saxophon, Gesang, indische, psychedelische und Funk-Elemente. Andererseits bleibt man sich selbst treu: „Wir betrachten diese Werke im Wesentlichen als Plattformen für die Improvisation. Für uns ist es Interpretation genug, wenn wir das existierende Material auf unsere Weise spielen und innerhalb der Formen improvisieren.“ Das Ergebnis klingt daher zuweilen, als würde sich die erste Besetzung des M.O. live die Playback-Musik der zweiten Besetzung erobern – mit jener unbändigen Energie, die aus der Power und Strenge der ersten Platten sprach. Adam Holzman bedient die Keyboards selbstverständlich weit aufregender als einst Gayle Moran: Das sollte auch die Fans der ersten Besetzung überzeugen. (Außerdem gibt es als Bonus Tracks noch Versionen dreier früherer Mahavishnu-Stücke.)

Visions Of An Inner
Mounting Apocalypse

Unter diesem Titel initiierte der Fusion-Gitarrist Jeff Richman 2005 seine Widmungs-CD ans Mahavishnu Orchestra. Es ist eines dieser perfekt produzierten All-Star-Studio-Tribute-Alben, wie sie im Rockbereich seit Jahren üblich sind; Richman selbst hat ähnliche Hommagen bereits an Carlos Santana, Miles Davis, Steely Dan und John Coltrane produziert. Die Basisband des Mahavishnu-Albums bildet Richman zusammen mit Mitchel Forman (McLaughlins Keyboarder in den Achtzigern), Kai Eckhardt (McLaughlins Bassist in den frühen Neunzigern) und Vinnie Colaiuta (McLaughlins aktueller Drummer). Dazu kommen Jerry Goodman an der Violine zur Beschwörung des originalen Mahavishnu-Spirits sowie ein beeindruckendes Star-Aufgebot an McLaughlin-inspirierten Gitarrensolisten zwischen Jazz und Rock – John Abercrombie, David Fiuczynski, Frank Gambale, Warren Haynes, Jimmy Herring, Greg Howe, Steve Lukather, Steve Morse und Mike Stern.
Man mag von solchen immer etwas sterilen Star-Paraden halten, was man will. Garantiert sind hier: pure Jazzrock-Fusion, pures E-Gitarren-Feuerwerk, saubere Virtuosenarbeit mit überbordender Energie. Die Freunde ausgefinkelter Rock-Gitarrenmusik kommen ganz gewiss auf ihre Kosten. Und die Musik des M.O. wird dabei zwar etwas einseitig interpretiert, doch zumindest wird ihr keine Gewalt angetan. Im Gegenteil: Da ist manches recht geschickt umgestellt und umarrangiert worden, die rhythmischen Schichten werden neu kombiniert und übereinander gelegt. Aber das ist natürlich nur die Basisspur: Erst wenn der Solist zum Playback seine Axt aufdreht, geht’s hier richtig zur Sache.

Big Band und Streichquartett

Nach dem Rock-Tribut nun der Jazz-Tribut: Welche Besetzung wäre jazztypischer als die gute, alte Big Band? Wenn man das abstrakte Mahavishnu-Schichtenmodell auf Bläsersätze überträgt, hat das allerdings nicht viel mit der Sprache von Swing-Orchestern zu tun. Vielmehr erfindet man auf diese Weise ein ganz neues Big-Band-Konzept: modal, polytonal, zerebral. Oder ist das Konzept von „Meeting Of The Spirits“ vielleicht doch nicht so neu? Es könnte vorkommen, dass sich der Hörer zuweilen an sehr vertraute Bläser-Fusion-Rezepte erinnert fühlt – à la United Jazz & Rock Ensemble zum Beispiel. Aber ist das ein Zufall? Warum sollte das UJRE nicht von den Innovationen des Mahavishnu Orchestra inspiriert gewesen sein?

Ein paar der markanten, ausgeschlafe-nen, würzigen UJRE-Solostimmen – Charlie Mariano, Kenny Wheeler, Albert Mangelsdorff – hätten dem Big-Band-Projekt „Meeting Of The Spirits“ übrigens gar nicht geschadet. Aber das ist auch schon alles, was es hier zu mäkeln gibt. Die Übertragung von McLaughlins abstrakt-mathematischen Prinzipien auf die Big Band funktioniert. Billy Cobham, der charismatische Trommelkönig, inzwischen 62, liefert das authentische Mahavishnu-Feeling, E-Gitarrist Martin Scales sorgt für die nötige Brise Fusionsound, Axel Schlosser spielt die fantasievollsten Trompetensoli, und Colin Towns, der Ex-Rock-Keyboarder und erfahrene Jazz-Arrangeur, bringt schon durch seine Bio die richtige Mischung der musikalischen Sphären ein. Manches Arrangement klingt so überzeugend, als müsste das Stück im Original für Big Band geschrieben sein: die Bläserarchitektur in „Resolution“, die Melancholie von „Sanctuary“ (die hier ein wenig an Eberhard Webers frühe Platten erinnert), das klare, zupackende „Celestial Terrestrial Commuters“. Selbst „You Know, You Know“ klingt hier gekonnter als im Original.

Was Gregg Bendian fasziniert und was Colin Towns beweist – die universale Gültigkeit von McLaughlins Kompositions-Prinzipien –, beim radio.string.quartet wird sie konsequent ausgereizt. Das klanglich „einfarbige“ Medium Streichquartett passt ideal zum unromantischen, abstrakten Charakter der Mahavishnu-Mathematik und lässt sie streckenweise wie komplexe Kammermusik erscheinen. Aber es gibt auch eine klangliche Affinität: Immerhin besaß das M.O. einen Geiger und arbeitete gelegentlich mit Streichergruppe. Gerade in den lyrischen Stücken des M.O., die im Original mit unverstärkter Violine gespielt sind, gelingen dem radio.string.quartet auf „Celebrating The Mahavishnu Orchestra“ kleine Geigenwunder voller Schönheit. Außerdem unterstreicht der Geigenklang den indischen Charakter der Musik – besonders beim Orgelpunkt und in der modalen Improvisation.

Die besondere Leistung des radio.string.quartet aber besteht darin, dass es die Musik des M.O. innerhalb des vorgegebenen Systems weiterdenkt – und dies mit Abenteuer- und Improvisationslust. Da werden Rhythmen in ausgearbeitete Partituren übersetzt, ein Original-Pizzikato wird zum Pizzikato-Teppich, Bauprinzipien werden weiterverfolgt und verlängert, das psychedelische Moment ins Geräuschhafte vertieft. Dabei wächst der Augenblick zur Episode und die Episode zum Entwicklungsbogen. Neue Stimmen werden aus der Baustruktur geboren, Tempi verändert, der Charakter einzelner Stücke wandelt sich elementar. „The Dance Of Maya“ zum Beispiel erhält einen dezenten, fast traumleichten ersten „Chorus“ und einen schlauen Western-Fiddle-Anklang im Mittelteil. Die vier Streicher verändern die Vorlagen und bleiben gerade damit dem experimentellen Geist des Originals treu. Zu Recht attestiert John McLaughlin dem Quartett, es habe sich die Musik „ganz zu eigen gemacht“ und dabei doch die einstige „Atmosphäre getroffen“. Ein Tages-Trend der Siebziger ist „klassisch“ geworden.

Diskografie

M.O.1
• The Inner Mounting Flame (1971)
• Birds Of Fire (1972)
• Lost Trident Sessions (1973)
• Between Nothingness And Eternity (1973)

M.O.2
• Apocalypse (1974)
• Visions Of The Emerald Beyond (1974)
• Inner Voices (1975)

M.O.3
• Mahavishnu (1984)
• Adventures In Radioland (1986)

Tributes
• The Mahavishnu Project: Phase 2 (2003)
• V.A.: Visions Of An Inner Mounting Apocalypse (2005)
• The Mahavishnu Project: Return To The Emerald Beyond (2006)
• Billy Cobham/Colin Towns/HR Bigband: Meeting Of The Spirits (2006)
• radio.string.quartet: Celebrating The Mahavishnu Orchestra (2007)

 

 

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