Anzeige

Startseite der Jazzzeitung

Anzeige

Startseite der JazzzeitungZum Archiv der Jazzzeitung (Datenbanken und pdf)Zur Rezensionsdatenbank der JazzzeitungZur Link-Datenbank der JazzzeitungClubs & Initiativen Die Jazzzeitung abonnierenWie kann ich Kontakt zur Jazzzeitung aufnehmen
 

Jazzzeitung

2013/01  ::: seite 16

rezensionen

 

Inhalt 2013/01

Inhaltsverzeichnis

Sternlein STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene /Jazz-ABC: Massimo Urbani no chaser: Projektwolken

Sternlein TITELSTORY: Raus aus der Talsohle?
Zur Jazzförderung in Bayern

Sternlein GESCHICHTE -
Daddy Plays the Horn
Gedanken zum 90. Geburtstag des Saxophonisten Dexter Gordon (1)

Sternlein DOSSIER/Jazzförderung -
Volle Fahrt voraus
Die Perspektiven der LAG Jazz in Bayern e.V. nach ihrem Vorstandswechsel
Jazz als Kulturgut begreifen
BR-Jazz-Redakteurin Beate Sampson im Gespräch über Jazzförderung
Weitere Artikel zum Thema

Sternlein Berichte
Das 2. Birdland Radio Jazz Festival in Neuburg an der Donau //„Winterjazz“ in Köln

Sternlein Portraits / Jubilee
Saxophonist Yuri Honing // Saxophonistin Nicole Johänntgen //Die italienische Sängerin Anna Lauvergnac

Sternlein Jazz heute und Education
Peter Herbolzheimer European Jazz Academy in Trossingen 2012 //Das Landes-Jugendjazzorchester Bayern auf Sizilientournee // Abgehört: Rasant und intensiv:
John Coltranes Solo über „Giant Steps“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Animalische Anziehungskraft

Michel-Petrucciani-Biografie neu aufgelegt und bearbeitet

Benjamin Halay: Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit. Mit einem Essay von Roberto Saviano. Aus dem Französischen und neu bearbeitet von Karl Lippegaus, Edel-Books 2012

Bücher über Ereignisse des Jazz faszinieren immer wieder, auch wenn man sich die Musik beim Lesen nur vorstellen, nicht direkt hören kann, gerade für das Thema, die Persönlichkeit, das Leben und Wirken von Michel Petrucciani sehr treffend. Besonders bei dem Blick auf einen Menschen von seinem Schicksal, der mit schwerer Krankheit und bereits gebrochenen Knochen am 29.12.1962 auf die Welt kam und diese Krankheit von klein auf versuchte, durch seine Nähe zur Musik zu kompensieren, muss man sich davor in Acht nehmen, ihn nicht nur aus Mitgefühl zu betrachten. Jetzt, in diesem Zusammenhang geht es um ihn als Musiker. Und darum ging es ihm auch von klein auf, egal in welcher Verfassung er war. Warum wäre er sonst als begeisterter Jazzer schon im Alter von 18 Jahren einfach von zuhause weggefahren, unvorbereitet einschließlich fehlender englischer Sprachkenntnisse und ohne Reisegeld in die USA, auf der Suche nach den Größen des Jazz, die er dann auch sehr schnell traf und auch von ihnen aufgenommen wurde? Immerhin hat er Charles Lloyd bewegen können, wieder auf die Bühne zurückzukommen. Erinnert man sich an die legendäre Einspielung des Konzerts in Monterey, „Forest Flower“ in 1966 (da war Petrucciani gerade vier Jahre alt), kann man dies nicht hoch genug einschätzen.

Doch zurück zu dem kleinen großen Künstler, der nie größer als einen Meter wurde, dessen große Hände ihm aber ermöglichten, genial Klavier zu spielen: Kern des Buchs ist die Biographie des Franzosen Benjamin Halay, der ihm offensichtlich sehr nahe stand. Und übersetzt hat dies Karl Lippegaus, der gerade erst einen großen Erfolg mit seinem Buch über John Coltrane hatte und nun seine besonderen Kenntnisse über Petrucciani einfließen lässt, in die Bearbeitung und durch Interviews mit ihm am Ende des Buchs aus dem Jahr 1997, nach einem Interview von Ben Sidran von 1988. Vergessen darf man nicht, dass Lippegaus einer der fundamentalen Kenner vor allem auch der französischen Jazzszene ist. Er interviewt ihn im Rahmen der großen Deutschland-Solo-Tournee und veranlasst ihn zu einigen grundsätzlichen Äußerungen, die sein Denken und Handeln deutlich werden lassen. Zwei Zitate: „…es macht mir keine Sorgen, wenn ich improvisiere, denn ich liebe das. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen und sehe mich in dieser Rolle, außerdem liebe ich das Neue…“. Und: „…ich liebe die Abwechslung, die Vielseitigkeit, und mag sehr viel an Musik, nicht nur Jazz, sondern auch Klassik, Rock, Unterhaltungsmusik…“
Lippegaus rundet seinen Beitrag schließlich mit einer Auswahldiskographie ab, in der er 32 Aufnahmen zwischen 1981 und 1998 aufführt und kurz bespricht/vorstellt.

Doch nun zur Biographie von Benjamin Halay: Offenbar hat er das Schaffen Petruccianis über viele Jahre begleitet, nicht nur über ihn geforscht, hat ihn interviewt, mit ihm gesprochen und gearbeitet. So ist das Buch voll von Informationen über das Denken, das Leben, die Ausstrahlung des Musikers, das in seinen Inhalten sehr viel länger war als die 37 Jahre, die es tatsächlich gedauert hat.

Petrucciani hat mit vier Jahren angefangen, Musik zu lernen, am Klavier und am Schlagzeug. Sein Vater war Musiker und seine beiden Brüder ebenfalls. Sie sind als Familie im Süden Frankreichs hin- und hergezogen. In Montelimar begann ihr gemeinsames musikalisches Auftreten, das sich dann bei Michel ganz schnell entwickelte. Halay beschreibt dies sehr persönlich und sehr grundsätzlich, zum Beispiel: „Neben seinem überreichlichen musikalischen Talent besaß Michel Petrucciani die Gabe einer fast animalischen Anziehungskraft – man hat sie oder man hat sie nicht.“ Das Buch ist voll solcher Beschreibungen des Charakters, der Aktivitäten, des Lebens des Künstlers.

Mit 15 trifft er auf die ersten Großen der Szene in Frankreich, so Daniel Humair und Kenny Clarke. Ein engerer Kontakt entsteht kurz danach zunächst zu Aldo Romano und dann vor allem zu Barre Phillips. Offenbar wirkte dieser ganz entscheidend auf die weitere künstlerische Entwicklung Petruccianis, indem er seinen Kosmos deutlich erweitern half. Die führte zu einer freien Form eines impressionistischen Jazz, aber keineswegs zum Free Jazz, den er offensichtlich ablehnte. Unter den vielen Begegnungen trifft er den Amerikaner und Schlagzeuger Tox Drohar, der ihn in die Welt der Hippiebewegung führt und ihm Jahre später zu dem ersten Besuch in den USA, in Kalifornien verhilft. Dies war 1980, als Petrucciani gerade 18 Jahre alt geworden war. Tox Drohar ist nach einigen Jahren Frankreich nach Big Sur in Kalifornien gezogen, der durch Henry Miller und Jack Kerouac berühmt gewordenen Region, in der auch Charles Lloyd nach seinem ersten musikalischen Abgang lebte und einige Jahre nicht mehr musikalisch arbeitete. Nach langem Hin und Her begegnen sich beide, beginnen miteinander zu spielen, was zu dem ersten US Auftritt Petruccianis in Santa Barbara führt. Lloyd ist begeistert und erklärt ihn zu seinem zweiten Lieblingspianisten nach Keith Jarrett. Die Folgejahre erlebt Petrucciani sowohl in den USA als auch in Europa in einem ständig aufreibenden Leben, mit zig Konzertauftritten, mehrfachen Eheschließungen und Scheidungen. Das Label Blue Note nimmt ihn unter seine Fittiche und produziert etliche Aufnahmen. Nach der Rückkehr nach Frankreich wechselt er zu Dreyfus. Aber das mehr als bewegte Leben geht weiter, mit mehr als hundert Konzerten in aller Welt pro Jahr. Die Zahl der berühmten Musiker ist endlos lang, vor allem was die amerikanischen Stars angeht, von Gillespie über Sarah Vaughan, Charlie Haden, Tony Williams, Wayne Shorter, Jim Hall, Roy Haynes, Jack de Johnette und so weiter. Bei einem Besuch über Silvester in New York 1998/99 holt er sich eine Lungenentzündung, an der er wenige Tage später, am 06. Januar stirbt.

Seine Freunde wollten noch einige seiner Ideen verwirklichen, aber meist blieb es bei den Plänen, so vor allem dem Plan, eine grundlegende Jazzschule zu errichten. Auch die Idee, einen Klavierwettbewerb mit seinem Namen zu gründen, wie den Martial Solal Competition in Paris, ist ein Plan geblieben. Aber bis heute ist er unvergessen, vor allem durch die vielen persönlichen Eigenschaften und Produkte, mit denen er die Welt erfreut hat. Der Jazz war übrigens für ihn die klassische Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Insgesamt haben Halay sowie die weiteren beteiligten Autoren und Bearbeiter ein sehr beeindruckendes Buch hinterlassen, ein besonderes und vielschichtiges Werk über die aktuelle Kunst unserer Zeit.

Hans-Jürgen von Osterhausen

| home | aktuell | archiv | links | rezensionen | abonnement | kontakt | impressum
© alle texte sind urheberrechtlich geschützt / alle rechte vorbehalten / Technik: Martin Hufner